Die Dunkelheit enthielt den barfüßigen Burschen
von Olaf Kühl

1.
Welches ist die "nachtumwehte Stelle", sind die "Quellen der Scham", aus denen Gombrowicz' Leidenschaft sprudelt, die er aber schreibend nur immer umkreist? Das ist heute keine Frage mehr. Pier Paolo Pasolini als einer, der es wissen muß, wirft Gombrowicz mit aufklärerischer Emphase Unwissenheit vor: "Nie berührt er das Thema seines Unglücks: nicht aus Scham jedoch oder wegen jenes humorvollen Abstands, den er für so zwingend notwendig hält, sondern weil er es nicht kennt. [...] er wagt es weder, diese Tatsache beim Namen zu nennen, noch (was wir aus ganz menschlichen Gründen von ihm verlangen könnten) sie als das zu beschreiben, was sie ist, nämlich 'Päderastie'".

Gombrowicz selbst äußert sich in den hier veröffentlichten Briefen an Juan Carlos Gómez recht drastisch über seine Sexualität. Für den Biographen kann kein Zweifel mehr offen sein. Aber ist diese Erkenntnis auch ein Schlüssel zum Werk?

Wie kommt man über Artur Sandauers generalisierende Behauptung hinaus, das geistige Leben großer Persönlichkeiten weise die gleiche Struktur auf wie ihr sexuelles, und ihre Metaphysik berge die gleichen Rätsel wie ihre Erotik? Führt eine Brücke von der Sprachlosigkeit der erotischen Leidenschaft zur Rede über die Form, gibt es eine Verbindung zwischen Kraft und Sinn?

Wenn die Homosexualität konstituierend für den Glanz dieses Werkes ist, dann gewiß nicht dank ihrer direkten Ausstrahlung, sondern durch ihre Maskierung. Hätte Gombrowicz wie Jean Genet geschrieben, der ausdrückte, "was ich mich nicht zu schreiben traute" (Gombrowicz zu Hector Bianchotti) dann besäßen wir eine andere Literatur von ihm - nicht unbedingt eine bessere. Gombrowicz ist ein Meister der Uneindeutigkeit und der Vieldeutigkeit, des Versteckens. Darin übernimmt er die Gestik, zu der der Homosexuelle im praktischen Leben gezwungen ist. Offenes Anbändeln ist nur an bestimmten Plätzen möglich.

Ohne diese Vieldeutigkeit hätte es dieser Autor in einer in sexuellen Dingen so prüden Gesellschaft wie der polnischen unter der Herrschaft des Kommunismus nie zum "Großen Sch...riftsteller" bringen können. Das Unausgesprochenene bildet aber zugleich eine wesentliche Voraussetzung für den Zauber seiner Erotik.

Ist Vieldeutigkeit überhaupt der richtige Begriff? Wie soll man es nennen, wenn Gombrowicz ein Zeichen (ein Wort, ein bestimmtes Verhalten) für alle sichtbar in den Raum stellt und es gleichzeitig aus jedem Zusammenhang, jedem Kontext zu isolieren und dadurch bedeutungslos zu machen trachtet? Wenn Mjentus in Ferdydurke dem Bauernbengel hinterherläuft, legt dieses Verhalten nach der extensiven Vorbereitung der kindersprachlich kaschierten, analen ("Popo", "A...") oder "koprophilen" Aura, eine bestimmte Deutung nahe. Das Hinterherlaufen als aktiver und doch versteckter Versuch, an das erotische Objekt heranzukommen, bezeichnet Gombrowicz selbst als seine "tiefste [...] Situation": "jetzt in Santiago trat unerwartet wieder diese Situation ein, die tiefste, wichtigste und schmerzlichste all meiner Situationen: Ich einem jungen Burschen aus dem Volk auf den Fersen."

Diese Situation besitzt nun wahrlich auch die Produktivität der Tiefensituation einer generativen Textgrammatik. Doch was widerfährt diesem Zeichen in Ferdydurke? Jozio, oder der Erzähler, bekommt es in die Gewalt seiner Sprache, mit der er schon den ganzen Roman allzu Deutliches durch Groteske und Infantilität mildert. Jozio widersetzt sich erfolgreich jeder von Onkel Konstanty anfangs noch wohlmeinend suggerierten Definition dieses Verhaltens, dieses Begriffs ("sich ver... brüdern"). Während Konstanty das bedrohliche Phänomen durch sprachliche Einordnung "eßbar", d.h. gesellschaftlich akzeptabel machen will, zielt Jozios Strategie darauf ab, das Wort unfaßbar zu machen, aus jedem Zusammenhang herauszunehmen.

Diskrete homosexuelle Seitensprünge ("Päde... Päde.. Hm... macht sich an Walek ran.") sind in diesen Kreisen ebenso geduldet wie die gelegentliche Entspannung bei der alten Bäuerin, wenn sie sich nur in einem Namen einschachteln lassen.

Für Gombrowicz dagegen ist der Zauber der erotischen Leidenschaft an Unbestimmtheit und Namenlosigkeit geknüpft. Diese und ähnliche Begriffe tauchen immer dann auf, wenn er seine Leidenschaft umschreibt. Als der plötzliche Kriegsausbruch und die Anonymität im fremden Land ihm 1939 auch die erotische Befreiung (in der Dunkelheit des Retiro) ermöglichen, beschreibt er das so: "Es hatte sich ja nichts geändert, dieser Kosmos, dieses Leben, in dem ich gefangen war, waren schließlich nicht anders geworden, nur weil eine bestimmte Ordnung meines Daseins aufgehört hatte. Und doch überlief mich ein Schauder furchtbarer und fiebriger Erregung bei dem Gefühl, daß die Gewalt jenes namenlose und formlose Etwas freisetzte, dessen Existenz mir nicht fremd war, jenes Element, von dem ich nur wußte, daß es 'niederer', 'jüngerer' ist - und nun wie eine Sturmflut in schwarzer, ungestümer Nacht losbrach.".
 
 

2.

Gombrowicz kennt mehr als eine Art der Verundeutlichung. Wie die Isolierung ein Wort nichtssagend macht, kann umgekehrt ein dominierender Kontext bestimmte Bedeutungen eines Zeichens so sehr stützen, daß andere, anstößige Bedeutungen verdunkelt werden. Die syntagmatische Aufeinanderfolge der Wörter, die Logik der Fabel, endlich die literarische Gattung können ein Wort oder ein Verhalten als Index im Peirce'schen Sinne überdeterminieren. Das beginnt schon auf der Mikroebene des Idioms. Ein relativ harmloses Beispiel ist das Adjektiv "bestimmte" in dem Zitat oben. Es scheint nicht mehr zu bedeuten als "eine von mehreren". Tatsächlich ist "bestimmt" ein Schlüsselwort in Gombrowicz' privater Mythologie. Es bezeichnet die "bestimmte" im Sinne der "determinierten", "definierten", "starren" Ordnung.

Das Redensartige, das hier als Maske funktioniert, kann man als eine Erscheinungsform jenes "scheinbaren Sinns" betrachten, von dem Sigmund Freud in Der Witz und seine Beziehung zum Unbewußten spricht. Von den verborgenen, latenten Gedanken erhalte man Kenntnis, "indem man den manifesten Trauminhalt ohne Rücksicht auf seinen etwaigen scheinbaren Sinn in seine Bestandteile zerlegt und dann die Assoziationsfäden verfolgt, die von jedem der nun isolierten Elemente ausgeht."

Ein solches isoliertes Element wäre das Nachlaufen, das Bedeutung hat als Ausdruck eines bestimmten Begehrens - als die körperliche Bewegung hin zum Objekt der Begierde. Dieses Verhalten bleibt sich gleich in dem Sinne, in dem eine Melodie in wechselnder Transposition ihre Gestalt wahrt. Der absoluten Tonart entspricht die Motivation, die dem Verhalten zugeschrieben wird. Nur bei der Schwuchtel Gonzalo in Trans-Atlantik ist die Maskierung überflüssig - die "geht [...] auf die straße hinaus und geht dort auf ihr einher, und zwar den Knaben oder den Burschen nach.". In allen anderen Fällen bekommt das Nachlaufen eine zusätzliche Motivation, es wird überdeterminiert. In den Besessenen bedrängt Leszczuk den Bauern Handrycz, "weil" er Franio, den totgeglaubten Sohn des Fürsten, in ihm erkennt. Aus der Logik der Fabel - dem scheinbaren Sinn - herauspräpariert, steht das Nachlaufen quasi wieder nackt da.

Kalauerisch ist die Logik, nach der Konstanty Jozios Erklärungsversuch "Er ver...brüdert sich nackt, ohne alles!" mißversteht: "Also doch ein Perverser!". Nicht zufällig wird in den Besessenen die Bezeichnung dieses Verhaltens (des "Bedrängens") ebenso metasprachlich problematisiert wie das "Ver...brüdern" in Ferdydurke: "'Es ist sehr

interessant, daß der Bauer dieses 'Bedrängen' nicht näher beschreiben konnte. Wahrscheinlich haben wir es hier wieder mit etwas zu tun, das von der Norm abweicht.".

An dieser Stelle ist die Wirkung der Maske geradezu verblüffend: gefahrlos kann das Nachlaufen als Normabweichung bezeichnet werden, weil auch die Anormalität in den Besessenen durch Zweideutigkeit maskiert ist: Anormalität meint in diesem Roman auf der manifesten Ebene das Übernatürliche (Übersinnliche), auf der latenten dagegen das Widernatürliche (Perverse). Im Tagebuch sieht sich der Erzähler selbst von Jean Genet verfolgt: "Genet! Genet! Stellt euch vor, wie peinlich, dieser Päderast ist hinter mir her, läuft mir dauernd nach, ich gehe mit Bekannten, da steht er an der Ecke, irgendwo an einer Straßenlaterne, scheint zu winken... gibt mir Zeichen!"

In dem Tänzer des Rechtsanwalts Landt verfolgt der Erzähler den Anwalt, der ihn an der Theaterkasse zurechtgewiesen hat. Aus der Sicht des Verfolgers, des Begehrenden, signalisiert der weiße Körperstreif des Nackens metonymisch das erotische Objekt: "Oh, stundenlang könnte ich diese Stelle an seinem Hals betrachten, wo das Haar in gerader Linie endet und der weiße Nacken beginnt". Man blättere in den Werken: Wo Gombrowicz sein erotisches Objekt, den Unterschicht-Jungen, beschreibt, wird fast immer gleich der Nacken erwähnt. Im Tänzer erscheint auch erstmals jene Dreierkonstellation, die bei Gombrowicz sehr verbreitet, aber versteckt ist: der Erzähler versucht, sein Verfolgungsobjekt mit einer Verlobten zu verkuppeln, sie zum Geschlechtsverkehr zu veranlassen. Man denkt hier sofort an Friedrichs/Witolds Machinationen mit Karol und Henia in Pornographie, aber die Konstellation ist bei Gombrowicz auch anderswo zu finden: Pimko in Ferdydurke will nicht nur Jozio in die Oberschülerin verliebt machen, er will "mittelbar an [Jozios] Bezauberung teilnehmen". Die Parallele erlaubt den Schluß, daß auch Pimko eigentlich an Jozio interessiert ist ("Was für ein Popo!"). In der Trauung assoziiert der Säufer Heinrichs Verlobte Marie mit seinem Freund Waldi. Aber sobald Waldi sich getötet hat, ist jedes Interesse Heinrichs an der Frau erloschen. In den Besessenen, wo diese Konstellation (Leszczuk/Franio/Maja) blaß und leicht zu übersehen ist, wird sie gleichwohl beim Namen genannt: "Euch drei verbindet dieselbe Leidenschaft [...] Maja erbebte bei der Erkenntnis, daß er 'ihr drei' gesagt hatte. Als bildeten sie eine Familie.". Leszczuk und Maja sind Jozio und Sutka.

"Ihr seid euch ähnlich", sagt Pimko zu letzteren, und Ähnlichkeit ist auch das Schlüsselwort, mit dem Leszczuks und Majas Verhältnis beschrieben wird.

Unmöglich wird jede irreführende Motivierung, sobald Gombrowicz sein eigenes Verhalten im Tagebuch beschreibt. Er versteigt sich zu einer aggressiven Alogik, als er erklären und zugleich bagatellisieren will, warum er einem Kellner nachläuft: "Ich folgte ihm deshalb, weil es absurd und unvorstellbar war, daß ich Gombrowicz, hinter irgendeinem chango hergehen sollte, nur deshalb, weil er dem chango ähnelte, der mir Wasser eingeschenkt hatte.".

3.

In einer Beziehung hat Gombrowicz sein erklärtes Vorbild Michel Montaigne, dessen Wahrhaftigkeit er pries, nie erreicht: in der Offenheit der Rede über den eigenen Körper.

Auch die bisherige Rezeption hat im Fahrwasser der dezidierten Selbstinterpretation dieses Autors alle körperlichen Bedeutungen seiner Werke vernachlässigt. Das Sexuelle, kaum war es beim Namen genannt, fand sich schon in ein ens realissimum, die vermeintlich wichtigere philosophische Ebene, transponiert.

"Fast jedes Werk von Gombrowicz nutzt die Erotik", gesteht Jerzy Jarzebski, aber: "Nicht viele Kritiker haben den philosophischen Hintergrund dieser Erotik gesehen". "Das Geschlecht", so Danuta Danek, eine andere polnische Kennerin des Autors, sei bei Gombrowicz immer "nur ein Mittel, eine universale menschliche Wirklichkeit bildhaft darzustellen".

Angesichts dieser überwältigenden Strömung einer geradezu mittelalterlichen Allegorese, die das Sinnliche und Besondere nur als Mittel zur Erkenntnis eines Geistigen und Allgemeinen wichtig nimmt, sind Fragen in der umgekehrten Richtung angebracht. Gombrowicz' Lippenbekenntnis: "Ich glaube nicht an eine unerotische Philosophie. Ich habe kein Vertrauen zu einem Denken, das sich freimacht vom Geschlecht" darf nicht darüber täuschen, daß er immer lieber von "der Jugend" als von "dem Jungen" spricht, daß er seine Idealisierung als eine geschlechtslose, transsexuelle verstanden wissen will.

Dabei haben alle für das Gedankengebäude dieses Autors wichtigen Begriffe neben dem sprachlich-abstrakten auch einen visuell-körperlichen Aspekt. So entspricht der oben erwähnten semantischen "Bestimmtheit" die visuelle Umrissenheit, die "von uns unabhängige Sichtbarkeit unseres Körpers", wie es in der Erzählung Die Ratte heißt. Diese Spaltung erfaßt auch den Begriff der "Form". Sobald man erkannt hat, daß die Form bei Gombrowicz auf einer elementaren Ebene das Bild des eigenen Körpers meint, fügen sich bisher isolierte Aspekte (Homosexualität, Narzißmus, Vieldeutigkeit des Stils) wie von selbst zu einer logischen Einheit zusammen. In Ferdydurke betrachtet Jozio sein Ebenbild und ist entsetzt: "Nein, das war gar nicht ich! Das war etwas Zufälliges, Fremdes, Aufgedrängtes, ein Kompromiß zwischen der äußeren und der inneren Welt, das war gar nicht mein Körper!".

Um gleich darauf auszurufen: "Ach, die eigene Form schaffen!". Als Pimko erscheint, wirft Jozio sich mit seinem Körper schützend über den Text - schöne Spiegelung der Tatsache, daß Gombrowicz' Stil das Körperliche verbirgt!

Dieser Zusammenhang zwischen Form und Körper muß stutzig machen, bezeichnet doch "Form" in Gombrowicz' eigener Theorie immer gerade das Zwischenmenschliche, Kulturelle, die natura naturata, nicht naturans. Wenn der Körper als Metapher für diesen Begriff stehen kann, erfaßt Gombrowicz' Selbstdeutung offenbar nicht alles, was aus seinen Werken spricht.

Was stößt den Erzähler so ab an diesem Bild seines eigenen Körpers? Es sind zwei Eigenschaften: die deutliche Umrissenheit, und das Zerfallen in einzelne Teile: "Präzisiert - deutlich in Kontur und genau umrissen bis ins einzelne... allzu deutlich [...] Und die Einzelheiten traten immer besser hervor, immer schrecklicher, von überall kamen ihm Körperteile hervor, einzelne Teile, und diese Teile waren genau umrissen, konkretisiert... bis an die Grenzen schändlicher Deutlichkeit". Beide Eigenschaften, Umrissenheit (Kontur) und Vereinzelung, tragen auf eigene Art zur Sichtbarkeit bei.

Prototypisch für diese beschämende Sichtbarkeit ist die Hand mit ihren deutlich sich abzeichnenden, einzelnen Fingern. Tagelang fühlt sich der Autor von der Hand des Kellners im Cafe Querandí verfolgt. Jahre später, in den Gesprächen mit Dominique de Roux, führt Gombrowicz ausgerechnet die Tatsache, daß er 10 Finger hat, als Beispiel für die Gewalt der Form über den Menschen an: "Denn ich habe im Laufe meines Lebens eine besondere Empfindlichkeit für die Form entwickelt und ängstige mich wirklich davor, daß ich fünf Finger an der Hand habe. Warum fünf? Warum nicht 328584598208854? [...] Nichts ist für mich phantastischer, als daß ich hier und jetzt bin wie ich bin, bestimmt, konkret, genau so und nicht anders. Und ich fürchte sie, die Form, wie ein wildes Tier!".

4.

1936, ein Jahr bevor Ferdydurke in Buchform erschien, entwickelte der französische Psychoanalytiker Jacques Lacan in seinem Vortrag "Das Spiegelstadium als Bildner der Ichfunktion, wie sie uns in der psychoanalytischen Erfahrung erscheint" auf dem Internationalen Psychoanalytischen Kongreß in Marienbad (Druck 1949) einen Formbegriff, der faszinierende Berührungspunkte zu dem von Gombrowicz aufweist. Der Begriff des Spiegelstadiums ("stade du miroir") bezeichnet eine Entwicklungsstufe des Säuglings, in der dieser, infolge der spezifisch menschlichen Entwicklungsretardierung an Geschicklichkeit noch dem Schimpansen unterlegen, sich im Spiegel gewahrt.

Mit großem Entzücken stellt er fest, daß die Bewegungen, die der Spiegel reflektiert, seinen eigenen entsprechen. Es handelt sich hierbei um die ursprüngliche Identifikation mit der sichtbar gewordenen Gestalt des eigenen Körpers. Das Spiegelstadium ist daher mit einem euphorischen Erlebnis verbunden, der narzißtischen Identifizierung mit der eigenen Gestalt. Neben diesem Begriff (im französischen Original deutsch), benutzt Lacan auch den der "Form".

Die zunächst euphorische Identifikation mit der Imago des eigenen Körpers bleibt aber von nun an ständig gefährdet; einerseits droht diese Form zu zerfallen, andererseits zum beengenden, entfremdenden Panzer zu werden. Lacans Interpretation der erstückelung als Zusammenbruch der narzißtischen Euphorie erinnert frappierend an die Verselbständigung der Körperteile in Ferdydurke: "Dieser zerstückelte Körper, dessen Begriff ich ebenfalls in unser System theoretischer Bezüge eingeführt habe, zeigt sich regelmäßig in den Träumen, wenn die fortschreitende Analyse auf eine bestimmte Ebene aggressiver Desintegration des Individuums stößt. Er erscheint dann in der Form losgelöster Glieder und exoskopisch dargestellter, geflügelter und bewaffneter Organe, die jene inneren Verfolgungen aufnehmen, die der Visionär Hieronymus Bosch in seiner Malerei für immer festgehalten hat".

Die körperliche Desintegration des Individuums ist bei Gombrowicz nun ein Bild von herausragender Bedeutung. In seiner Einleitung zu Yvonne spricht der Autor von einer "biologischen Dekomposition", die "gefährliche Assoziationen weckt...". Ähnlich wie Yvonne, kompromittiert Pampelan (in Pampelan im Trichter) die eigene Familie durch poplige Detailverliebtheit: "Er hatte kein generelles Denken, sondern ein nur möglichst einzelnes, detailliertes Denken, grau, ohne Schliff und Achselband, so etwa wie eine ziemlich große und ziemlich verschwitzte Hand [!]". Pampelan ruft bei Familienmitgliedern und Gästen jene Einzelheiten hervor, die auch Jozio in seinem Spiegelbild erschreken. Nicht zufällig führt er die Aufsicht über die technischen "Details" der Party.

5.

Die Zerstückelung, die Fragmentierung, ist die eine Eigenschaft jener Form, die ich analog zur Euphorie der narzißtischen Identifizierung als "dysphorisch" bezeichnen möchte. Die zweite Eigenschaft ist ihre Starrheit, das Orthopädische, das Gombrowicz einmal am Bild des sich windenden Leibes Jesu am unbeweglichen Holzkreuz erläutert. Lacans Formulierung "Panzer einer entfremdenden Identität" stimmt zum Teil wörtlich mit Gombrowicz' Ausdrucksweise ("stählerner Panzer der Form", "Prokrustesbett der Form") überein. Beide Qualitäten - Starre und Zerfall - liegen sehr nah beieinander, sind fast komplementär, sie changieren, so wie es lächelnd-böse Gesichter in bestimmten Alpträumen tun. Der starren Form sieht man trotz allen äußeren Glanzes ihre Leblosigkeit an, sie steht immer kurz vor dem Zusammenbruch. Sie bietet keine Identität, in der man sich sicher und stark fühlen kann: "eine teuflische Sache, diese ausdrucksvolle und bestimmt umrissene Kontur der menschlichen Form, diese kalte, unterscheidende Linie - die Form!".

Die Bedeutung von "Form", die in Gombrowicz' eigener Interpretation und der Rezeption dominiert, setzt stillschweigend voraus, er hätte nur die dysphorische Erscheinungsweise der Form beschrieben. An dem Versuch, die Aporien eines solchen negativen Formbegriffs (existieren kann der Mensch nur in irgendeiner Form, aber jede Form verfälscht seine Authentizität) in einem System aufzuheben, haben sich Generationen von Gombrowiczforschern die Zähne ausgebissen. Man braucht jedoch nur auf die Ebene des Körpers hinabzusteigen, um zu erkennen, daß es bei Gombrowicz sehr wohl auch die euphorische Identifizierung mit der eigenen Form gibt, von der Jozio in Ferdydurke nur träumt. Ganz deutlich ist dies in einer frühen Fassung von Ferdydurke in der Zeitschrift Skamander. Dieser Text ist ein Glücksfall: er läßt die später erstarrte Semantik in früher Bewegung erkennen. Der Erzähler betrachtet sein Spiegelbild zunächst ebenso entsetzt wie Jozio, dann aber überwältigt ihn Begeisterung! Pickel und kleine Makel werden unwichtig, "Eigenliebe" triumphiert, und erst als dieser "schmutzige Narzißmus" allzu anstößig zu werden droht, wird das Ebenbild geohrfeigt, vernichtet.

Diese Euphorie ist verbunden mit einem grandiosen Seinsgefühl: "ein Glück, also brauche ich mich weder zu fürchten, noch zu schämen, ich kann existieren, ich, ich, o Lust!". In der Tat trägt Gombrowicz' Seinsbegriff die gleiche Spaltung in sich wie der Formbegriff. Auch das Sein kann sowohl berauschend wie beengend sein. Diese unerklärte (nach Alfred Lorenzer: privatsprachliche) semantische Bereicherung wird in abweichenden Formulierungen deutlich: "diese Gewißheit, daß ich in stärkerem Maße bin als sie [...] das stärkere, wirklichere Sein. Ich bin allein. Und 'bin' deshalb mehr." Die Steigerung des Seins untergräbt die zweiwertige Logik und ist ihrer Natur nach emphatisch - wie Goethes Ausruf "Ach wie seiend!" beim Anblick einer Schneckenzucht in Italien. Unter der identischen Oberflächenformulierung kann Gombrowicz aber auch das dysphorische, beengende Sein zum Ausdruck bringen: "Ich bin. Ich bin nur zu sehr. [...] Inmitten dieser Unbestimmtheit, Veränderlichkeit, Flüchtigkeit, unter dem unfaßbaren Himmel bin ich, gemacht, vollbracht, fertig... ich bin und bin so sehr, daß es mich ausstößt aus der Natur."

Die Homologie von Form und Sein ist ein weiteres Indiz dafür, daß Gombrowicz den Rahmen der strukturalistischen Topoi der 60er Jahre sprengt, in den er häufig gestellt wurde. Seine Theorie hat tiefere Wurzeln. Sie ist die Rationalisierung existentieller Erfahrungen, die ich hier erst ansatzweise in psychoanalytischen Begriffen zu beschreiben suche.

6.

Die Metapher der Körperform ist auch ein Schlüssel zum Verständnis des Zusammenhangs zwischen Narzißmus und Homosexualität bei Gombrowicz. Eine Störung des Narzißmus bedeutet bei ihm die Erschlaffung der erotischen Emphase, und umgekehrt. Beschrieben wird diese Störung mit Vorliebe in Bildern des körperlichen Zerfalls. So bei Friedrich in dem Augenblick, da die erotische Spannungskurve in Pornographie zusammenbricht und er ohne einen Funken Inspiration dasteht: "Die Abscheulichkeit dieser Szene ist schwer zu beschreiben. Das Antlitz eines älteren Menschen hält sich durch eine verborgene Willensanstrengung, die versucht, seinen Zerfall zu maskieren, oder es wenigstens zu einer sympathischen Einheit zu organisieren - in ihm aber erfolgte eine Enttäuschung, ein Verzicht auf Zauber, Hoffnung, Leidenschaft, und alle Falten machten sich breit und überwältigten ihn wie einen Leichnam."

Ganz deutlich wird der Zusammenhang Narzißmus-Homosexualität, wenn man die heterosexuellen Beziehungen bei Gombrowicz analysiert. Als roter Faden bietet sich dafür das täuschend eindeutige Wort "Nicht-Können" an, das seine eigene intertextuelle Geschichte hat. In den Abenteuern bekommt der Held nach langen Heiratsvorbereitungen Lust auf eine Ballonfahrt in stürmischer Nacht, "ohne jede böse Absicht". Er gerät auf eine Insel, wo lüsterne, lepröse Wilde ihn bedrängen. Nach diesen Erlebnissen sagt er die Hochzeit ab: "da ich nun mal nicht konnte - konnte ich nicht - und trennte mich von dem, was sich von mir getrennt hatte..."

Zwei Beziehungen ragen besonders heraus: die Annäherung von Jozio und Sutka in Ferdydurke, und die von Witold und Lena in Kosmos. In Ferdydurke lädt Gombrowicz das "Nichtkönnen", das auf den ersten Blick nicht viel mehr meint als "Impotenz", mit raffinierter Mehrdeutigkeit auf. Wie häufig bei diesem Autor, "entsteht" der Begriff ganz beiläufig. Galkiewicz ruft, vom Lehrer bedrängt, er könne nicht mehr als zwei, drei Strophen von Slowacki lesen. Ist das finite Verb einmal aus dem Satz gelöst und substantiviert, greift ein "allgemeines Nicht-Können" um sich. Diverse Fälle (sprich: Kontexte, Tonarten) werden durchdekliniert: die Unfähigkeit zur Ganzheit, die Unfähigkeit, die Nabelschnur zu durchschneiden. Nach dieser Maskierung durch eine Vielzahl von vergleichbaren Phänomenen macht dann folgende Formulierung, die isoliert geradezu anstößig wäre, weniger stutzig: "ein gewöhnlicher Junge? Mit ihm würde vielleicht das verlorene Können wiederkehren..."

Erste Bedeutung: die Fähigkeit, sich dem verklemmten Stil der Pennäler zu widersetzen. Diese erste Deutung überlagert eine zweite, ebenso mögliche, die wegen der Gleichgeschlechtlichkeit zunächst abgewehrt wird: Potenz mit dem Jungen. Nicht ohne Grund heißt es später: "Mit einer Frau allerdings war das leichter. Der körperliche Unterschied ließ einen besser können." Jozio ist in die Oberschülerin Sutka verliebt. Er leidet unter ihrer Unnahbarkeit ("mein Nicht-Können ihr gegenüber"): "Tatsächlich, bisher hatte ich nicht vermocht, mich des Reizes der Siebzehnjährigen im Gebüsch zu erwehren".

Aber bald werden seine Wünsche absonderlich: "Zuletzt, zum Äußersten gebracht, begann ich die wildesten Pläne zu ersinnen, um die Oberschülerin physisch zu vernichten. Ihre hübsche Fratze zu verunstalten. Ihre Nase zu beschädigen, abzuschneiden." Endlich schlägt er eine Bresche in ihren hermetischen Stil, als er Frau Jungmann mit "Mami" anredet und bei Herrn Jungmann Gelächter erntet: "Denn es kam der Moment, da durch Herrn Jungmann [...] sich die Fesseln des Stils lokerten und ich ein wenig an Können wiedergewann."

Hier wird nun die Fähigkeit, Sutkas Attraktivität zu beeinträchtigen, ebenfalls als "Können" bezeichnet: "Ich fühlte, daß ich mein Können mit der Oberschülerin zurückgewann."

"Können" hat demnach, wie diese geraffte Darstellung zeigt, mindestens zwei Bedeutungen, die bewußt nicht klar voneinander geschieden werden:

1. Die Frau lieben können.

2. Sich gegen die Anziehung (der Frau) wehren, sich ihren Stil "verderben" können.
 
 

7.
Ist der Gegensinn dieses Urwortes (Freud) durch irgendeine Deutung in Einklang zu bringen? Erlaubt diese Paradoxie gar "Einsicht in offensichtlich 'kompliziertere' Erlebniszusammenhänge"? Man greife wie zufällig zu Sigmund Freuds Theorie über die Genese der Homosexualität. Als Folie über Gombrowicz gelegt, hellt die Freudsche Erzählung einen bei Gombrowicz schon vorhandenen Sinn auf, ohne daß man sich in die methodologischen Gefahren verstricken müßte, die eine Analyse des Autors oder seiner Helden mit sich bringt.

Freud bringt die Homosexualität (des Mannes) mit einer überstarken und später verdrängten Liebe zur Mutter in Verbindung. Der homosexuell gewordene Knabe sei eigentlich "in den Autoerotismus zurückgeglitten, da die Knaben, die der Heranwachsende jetzt liebt, doch nur Ersatzpersonen und Erneuerungen seiner eigenen kindlichen Person sind, die er so liebt, wie die Mutter ihn als Kind geliebt hat. Wir sagen, er findet seine Liebesobjekte auf dem Wege des Narzißmus". Die verdrängte Liebe zur Mutter wirke im Unterbewußtsein umso stärker, der Knabe bleibe auf seine Mutter fixiert - und ihr treu.

Dann folgt bei Freud ein Satz, der wie ein Schlüssel zu Gombrowicz' klingt: "Wenn er als Liebhaber Knaben nachzulaufen scheint, so läuft er in Wirklichkeit vor den anderen Frauen davon, die ihn untreu machen könnten."

Gombrowicz' Helden fliehen vor der Frau, indem sie sich ihre Reize "verderben". Ein Vorabdruck aus Ferdydurke trug den Titel: "Den Reiz der modernen Oberschülerin vergällen". Es ist vielleicht kein Zufall, daß Jozio dort, wo er den Stil der Jungmanns zum ersten Mal anknackst, das Standardargument gebraucht, mit dem Gombrowicz auch im Tagebuch dem weiblichen Geschlecht wahre Schönheit abspricht: ihre Schönheit sei nicht selbstlos wie die des Jungen, sie diene ihr nur dazu, schwanger zu werden, sie sei mit Windeln durchsetzt. Ein anderes Argument ist die "Schmutzigkeit der körperlichen Funktionen" der Frau, die sie durch Schminke und Affektiertheit vergessen machen wolle. Jede Kuhmagd sei natürlicher und selbstbewußter (ein Argument, das Gombrowicz sogar in Bezug auf seine Mutter benutzt). Diese Argumentation kennt man von Thomas Mann. Wehrhaftigkeit gegen die Anziehung der Frau ist also synonym mit der zweiten Bedeutung des "Könnens": "War es zu glauben, daß Herrn Jungmanns unterirdisches Kichern mir die Fähigkeit zum Widerstand zurückgab?"

Was geschieht aber, wenn Gombrowicz diesem Reiz nicht genug widersteht, wenn er sich ihm öffnet, es gar bis zur Verlobung und zu Hochzeitsvorbereitungen kommen läßt? Dieser klare Verrat an der Eigenliebe (damit auch der Bruderliebe, Homosexualität), muß in der Bilderwelt der Körperimago den Zusammenbruch, die Zerstückelung als Sanktion zur Folge haben. Genau das ist der Fall.

8.
Kosmos ist ein Remake der gescheiterten Annäherung von Jozio und Sutka in Ferdydurke. Witolds drohende Liebe zu Lena gefährdet sowohl seinen eigenen Narzißmus, als auch Lenas physische Existenz. Zugleich ist Kosmos ein Versuch, die unzähligen Zeichen dieser Welt zu einem Ganzen, dem "Mastodon" einer Bedeutung zusammenzufügen. Die Fragmentarisierung auf der epistemologischen Ebene, die Unerkennbarkeit der Welt, schwebt wie das Damoklesschwert über der zunehmenden Anziehungskraft, die Lena auf Witold ausübt. Zwar versucht er gleich zu Anfang, sich Lenas Reize dadurch ungenießbar zu machen, daß er sie mit Katasias "verderbter" (durch einen Unfall entstellter) Lippe assoziiert. Die Doppeldeutigkeit von verderbt/verdorben verweist auf Marie in der Trauung, Heinrichs einst unbefleckte Verlobte, die im Krieg zur Hure geworden ist. Da Lena ihn weiter lockt, sieht Witold keinen Ausweg mehr als ihre körperliche Beseitigung. Zur Maskierung dieses psychologischen Wunsches bietet es sich an, ihn in eine Reihe mit den anderen Fällen des Hängens in Kosmos (Spatz, Stäbchen, Kater, Ludwig) zu stellen: auch Lena soll hängen, weil es so schön stimmig ist. In Wirklichkeit sind bei Gombrowicz alle Frauen von diesem Schicksal bedroht, sobald ihre Anziehungskraft zu gefährlich wird: "denn wir waren schon ineinander verliebt, auch sie liebte mich, wer konnte daran zweifeln, wenn ich sie töten wollte, mußte sie mich lieben".

Lena hat mehr Glück als König Gnulos Braut im Bankett, die beim Tanz erdrosselt wird. Die hier zum Ausdruck kommende Haßliebe spiegelt die Doppeldeutigkeit des Könnens (lieben können und Widerstand leisten können) auf der emotionalen Ebene. Auch in Kosmos ist vom Nicht-Können die Rede: "es war nicht, daß ich sie nicht lieben konnte wegen dieser schweinischen Assoziation mit Katasia, darum ging es nicht, schlimmer war, daß ich sie nicht lieben wollte, ich hatte keine Lust."

Wie durch einen Zauberspruch fügen sich Bruchstücke der Wirklichkeit zusammen, sobald Witold den Entschluß zur Beseitigung Lenas gefaßt hat. Er steckt dem erhängten Ludwik den Finger in den Mund, verbindet dadurch das Hängen mit den Mündern: der erfolgreiche Widerstand gegen den weiblichen Reiz wird mit einem Erkenntniserfolg belohnt. In Pampelan im Trichter gewinnt Maciulek den Stahlglanz seiner euphorischen Form erst, als der Hochzeitspomp des Fürsten Pampelan in der panischen Flucht der (im Doppelsinne!) "auseinandergehenden" Gäste zusammenbricht. Maciulek "aber ging durch sie hindurch, wie durch Butter." Ähnlich euphorisch empfindet Witold, als er dem Priester den Finger in den Mund steckt. In einem Entwurf (gefunden bei Rita Gombrowicz in Paris) hieß es noch: "Meine Tat fuhr in ihn hinein, wie ein glühendes Messer in die Butter".

Eines der eindrucksvollsten Beispiele für die grauenvollen Folgen heterosexueller Nachgiebigkeit ist aber Yvonne. Yvonne ist so häßlich, wie Marie verdorben und Lena entstellt ist - sie alle sind ungenießbar, Projektionen des Verbots, die Frau zu lieben. Der Prinz aber beschließt, sich dennoch mit ihr zu verloben - "gegen das Gebot seiner Natur": sprich, im manifesten Sinne: trotz ihrer Häßlichkeit, aber latent: obwohl sie weiblich ist. Dadurch nimmt das Unglück seinen Lauf - Yvonne droht die glanzvoll hermetische Form des Königshofes zu zersetzen. Gombrowicz selbst "erklärt": "Der Prinz sieht das [die Bedrohung der königlichen Form, O.K.] auch, kann sich aber nicht widersetzen, weil er selbst sich gegenüber Yvonne unsinnig vorkommt (er kann sie nicht liebgewinnen), und das raubt ihm die Widerstandsfähigkeit."

Das Verquere dieser Logik muß man sich einmal auf der Zunge zergehen lassen. Wäre der Prinz für Yvonnes Reize unempfänglich, sollte es ihm ja gerade ein Leichtes ein, sie fortzuschicken. "Widerstandsfähigkeit" kann hier also nur erneut die aus Ferdydurke bekannte, zweite Bedeutung des "Könnens" haben: die Fähigkeit, der Anziehung der Frau Widerstand zu leisten.

Das kleine Wort "Nicht-Können" ist im intertextuellen Raum des Witold Gombrowicz wie eines jener versteckten Zeichen, von denen Kosmos wimmelt. Es weist auf Zusammenhänge hin, die auf den ersten Blick nicht erkennbar sind. Daß die Widerstandsfähigkeit gegen die heterosexuelle Versuchung einen intakten Narzißmus voraussetzt, zeigt Jozios Ausruf beim Anblick seines zerfallenden, peinlichen Ebenbildes: "Ich kann nicht, ich kann nicht, ich kann nicht!"

9.
In Ferdydurke schaute Gombrowicz zum ersten Mal in den Spiegel und erlebte sowohl die Euphorie des Narzißmus (erste Fassung), als auch die Qual der Zerstückelung (Buch). Von nun an verweist die dunkle Wasserfläche, der Spiegel des Narziß, auf das Element der homosexuellen Leidenschaft. Die Augen des jungen blonden Mörders von Amelia in Pornographie besitzen die "Düsterkeit von Waldtümpeln". Beim Anblick der hemmungslosen Gäste eines Schwulenlokals "sah ich [Gombrowicz] doch auf dem dunklen Wasser dieser irren Seen das Spiegelbild meiner eigenen Probleme.". Hellsichtig diagnostiziert er - schon 1964! - in Berlin die verdrängte Ausstrahlungskraft der Nazizeit auf die moderne Jugend und projiziert sie in die Gestalt des jungen Rekruten, dessen Erniedrigung ihn schon immer erregt hat. Gombrowicz durchschaut die political correctness des angepaßten Kulturkonsumenten und fragt: "Beneidete er nicht jene andere, mit dem Tod verbrüderte, wunderschön leichenhafte, poetisch leichenhafte Jugend...". Während so ein Jugendlicher zufrieden-gelangweilt im Theater- oder Konzertsaal sitze, spüre er - "der Narziß" - "auf den Lippen den Kuß seines anderen, fernen Soldatenmundes." Das Wort "Bruder" hat seine starke erotische Konnotation nicht erst seit Mjentus' "Ver...brüderung" mit dem Bauernbengel. Schon in der ersten, "narzißtischen" Fassung von Ferdydurke flüstert der Erzähler seinem Spiegelbild ein zärtliches "Bruder!" zu. "Sämtliche Fugen von Bach", so Gombrowicz im Tagebuch, "gab ich hin für einen trivialen Witz aus einem mit Erniedrigung verbrüdertem Mund, aus erniedrigendem Mund..."

1963, als er auf der "Federico" Argentinien verläßt und nach dem entgegenkommenden Trans-Atlantikdampfer Ausschau hält, blickt Gombrowicz ein letztes Mal in den Spiegel. Die Situation des Narziß ist vom Raum in die Zeit transponiert. Gombrowicz fiebert der Begegnung mit dem noch jungen Mann entgegen, der er vor 24 Jahren war. Doch schaurig, was er schließlich erblickt: "etwas wie vertane Bruderschaft, wie ein getöteter Bruder, ein toter Bruder, ein stummer, ein für immer verlorener und erkalteter Bruder..." Darin kommt wohl die ganze Tragik dieses Lebens zum Ausdruck - die unausgelebte, abgetötete Liebe. "Ich komme mir nur selbst entgegen / In einer leeren Wüstenei", hört man Ludwig Tiecks William Lovell sagen.

Ist nicht der Zwang, den Gombrowicz seiner eigenen Sexualität antat, die erste aller Formen und die fürchterlichste aller Fressen, die er sich je aufsetzen ließ? "Die Musikgeschichte der letzten hundert Jahre ist die geradezu klinische Geschichte eines Erstickungprozesses", lamentiert er im Tagebuch, ein "langsame[s] Ersticken des weichen Leibes im harten und immer härteren Panzer der Form". Diesen Essay über die musikalische Form kann man ebenso als Klage über die Entfremdung von den eigenen, wahrsten Gefühlen lesen. Die Wucht des Ausbruchs am Ende legt das nahe: "Verdammt dazu, uns unsere reinsten Wonnen zu verekeln und andere, widerwärtige auszudenken, die uns quälen, die wir nicht ertragen - und zudem noch gezwungen, uns für sie zu begeistern, als wäre das unsere wahre Liebe - künstlich in dieser Selbstbefriedigung, künstlich und vergiftet mit unserer quälenden, ekelhaften, widerwärtigen Kunst, die wir nicht erbrechen dürfen!" In Freuds Erzählung ist es die Mutter, die dem Homosexuellen die Liebe zum anderen Geschlecht für immer vergällt. Gombrowicz erinnert sich:

"Ich war völlig unfähig zur Liebe. Die Liebe ist mir für immer und von Anfang an genommen worden. [...] Gab es sie gar nicht, oder hatte ich sie in mir erstickt? Oder hatte vielleicht die Mutter sie mir getötet?"