Nachwort
Der Krieg in Tschetschenien ist ein dunkles und blutiges Kapitel der russischen Geschichte, aber beileibe kein neues. Da die historischen Hintergründe nicht jedem Leser geläufig sind, seien sie hier noch einmal in Erinnerung gerufen.

    Die grausamen Kämpfe im nördlichen Kaukasus, die Arkadi Babtschenko in seinem Buch so eindringlich beschreibt, reichen mit ihren Ursachen weit in die Geschichte des russischen Imperiums zurück. Jahrhundertelang haben sich die Tschetschenen allen Unterwerfungsversuchen widersetzt. Seit dem 18. Jahrhundert expandierte das zaristische Russland nach Süden. Die Tschetschenen lebten damals noch vorwiegend im gebirgigen Süden des Kaukasus und machten sich durch Überfälle und Plünderungszüge in die Gouvernements Stawropol und Krasnodar bemerkbar. Grausame russische Strafexpeditionen waren die Folge, die oft in lange Kriege ausarteten. Lew Tolstoj beschreibt in seinem Roman «Hadschi Murat» diesen Widerstandskampf und lässt Zar Nikolaus I. folgende Weisung erteilen: «Er (der Befehlshaber der russischen Truppen) soll sich streng an mein System halten, die Wohnsiedlungen der Tschetschenen zu zerstören, ihre Nahrungsmittel zu vernichten, und sie durch fortgesetzte Überfälle beunruhigen.»

    Nachdem Russland 1864 das Land unter seine Verwaltung gebracht hatte, war die militärische Lage ähnlich wie um 1994: Die Stützpunkte entlang der Heerstraße waren unter Kontrolle, doch in den Bergen leistete ein Teil der Bevölkerung weiterhin Widerstand. Während des türkisch-russischen Krieges 1877/1878 erhoben sich die Kaukasier erneut gegen Russland. Ihr Aufstand wurde niedergeschlagen. Die russische Besatzung löste bis Ende des 19. Jahrhunderts eine Emigrationswelle aus. In den eroberten Städten und Dörfern wurden Kosaken und Armenier angesiedelt.

    Niemand entsprach dem Charakterideal des gefügigen, autoritätshörigen Sowjetmenschen und Bürokraten weniger als die Tschetschenen. Folgerichtig widersetzten sie sich auch bis in die dreißiger Jahre hinein der Kollektivierung der Landwirtschaft. 1921 war Tschetschenien Teil der Autonomen Sowjetischen Sozialistischen Gebirgsrepublik (GASSR) und im Jahr darauf autonomes Gebiet geworden. Mitte der dreißiger Jahre wurde es zur Tschetscheno-Inguschischen ASSR zusammengelegt.

    Im Februar 1944 ließ Stalins Geheimdienstchef Berija mehr als 400.000 Tschetschenen und 100.000 Inguschen in Viehwaggons nach Kasachstan und Mittelasien transportieren – ihnen wurde vorgeworfen, mit dem deutschen Militär kollaboriert zu haben. Ein Viertel der Deportierten starb. Die sowjetische Republik Tschetschenien-Inguschetien wurde aufgelöst und den angrenzenden Republiken zugeschlagen. Erst Nikita Chruschtschow erlaubte 1957 die Rückkehr.

    In den über siebzig Jahren der Sowjetunion lernten die Tschetschenen Russisch, wuchsen in der sowjetisch geprägten Zivilisation auf. Doch kamen nur wenige von ihnen in wirklich hohe Führungspositionen von Partei und Armee. Dazu gehört Aslan Alijewitsch Maschadow, zuletzt Befehlshaber der Artillerie- und Raketentruppen in Vilnius. Trotz dieser langen Assimilierungsphase brachen die alten Konflikte nach dem Zerfall der UdSSR mit Wucht wieder aus. Auch hochrangige, sowjetisch sozialisierte Offiziere wie Dudajew und Maschadow wandten sich erstaunlich rasch gegen Russland und engagierten sich im Freiheitskampf Tschetscheniens.

    Am 27. Oktober 1991 wurde Dschohar Dudajew zum Präsidenten gewählt. Er leistete seinen Amtseid auf den Koran. Wenige Tage später proklamierte er einseitig die Souveränität der tschetscheno-inguschischen ASSR und ihren Austritt aus der UdSSR. Die Inguschen trennten sich von Tschetschenien. Moskau versuchte vergeblich, durch Unterstützung der Opposition gegen Dudajew die Lage zugunsten Russlands zu wenden. Bis 1994 kam es zu einem Massenexodus der nicht-tschetschenischen Bevölkerung (200.000 – 300.000 Menschen). Am 11. Dezember 1994 gab Präsident Boris Jelzin nach Beschluss des Sicherheitsrates der Russischen Föderation den Befehl zur militärischen Intervention. Der erste Tschetschenien-Krieg hatte begonnen. Etwa 40.000 Soldaten marschierten in Tschetschenien ein und nahmen nach zweimonatigen Kämpfen die Hauptstadt Grosny. Bei der Zerstörung der Stadt durch Luftangriffe starben 25.000 Menschen.

    Arkadi Babtschenko beschreibt anschaulich, wie schlecht ausgebildet und mangelhaft ausgerüstet die jungen russischen Rekruten in diesen ersten Krieg geschickt wurden. Die Armee verstrickte sich hoffnungslos in einen Guerillakrieg, der sie weitestgehend demoralisierte.

    Fast noch bestürzender als Sterben und Verwundung im militärischen Kampf ist Babtschenkos Schilderung der Gewalt in der Armee selbst. Die unaufhörlichen Schläge und sadistischen Schikanen der «Großväter» (bei Jünger und Remarque hießen sie noch «alte Männer») gegen die jungen Rekruten mögen dem westlichen Leser unglaublich erscheinen. Aber tatsächlich geht die Zahl der gemeldeten Misshandlungen Jahr für Jahr in die Zehntausende, und ohne das „Komitee der Soldatenmütter“ wären viele gar nicht erst bekannt geworden. Die Dunkelziffer liegt weit höher. Aufsehen erregte zuletzt der Fall des Rekruten Andrej Sytschow, dem nach Misshandlungen in der Panzerschule Tscheljabinsk beide Beine und die Genitalien amputiert werden mussten.

    Verteidigungsminister Iwanow nannte als Grund dafür, dass man nicht so leicht etwas gegen diese Schinderei in der russischen Armee unternehmen könne, die Armee sei nun einmal ein Spiegel der Gesellschaft. Damit ist viel über den Zustand der letzteren gesagt. Wenn die Soldaten sich schon untereinander keinen Respekt zollen, werden sie den Gegner umso weniger menschlich behandeln. Und die Entmenschlichung in der Sprache bereitet hemmungslose Gewalttaten vor. Die russischen Soldaten nennen die Tschetschenen «Tschechen»; «Schwarzärsche» («Černožopy») ist das gängige Schimpfwort für kaukasisch aussehende Menschen in Moskau. Die Tschetschenen selbst bezeichnen alle Russen als „gasski“ – Fremde, Ausgestossene.

    Die von Babtschenko beschriebenen Soldaten, einfache Rekruten, erkennen den daraus folgenden Widerspruch sehr genau: Wenn die Tschetschenen so radikal fremd und feindselig sind, warum will Russland sie dann unbedingt im eigenen Staatsverbund halten? Einerseits erhebt die Föderation Anspruch auf Tschetschenien als «Heimaterde» (Wladimir Putin), andererseits werden die Tschetschenen als wilde Tiere, das Fremde an sich, dargestellt. Der Hass verstärkt sich dann natürlich auch in der Gegenrichtung. Tolstoj beschreibt die Situation nach einem russischen Angriff auf ein tschetschenisches Dorf, bei dem Bienenstöcke verbrannt, Brunnen vergiftet und Kinder ermordet worden sind: «Niemand sprach vom Hass gegen die Russen. Das Gefühl, das alle Tschetschenen, vom jüngsten bis zum ältesten, empfanden, war stärker als Hass. Es war kein Hass, sondern das Unvermögen, diese russischen Hunde überhaupt als Menschen anzusehen, ein solcher Abscheu und Ekel, ein so fassungsloses Erstaunen über die sinnlose Grausamkeit dieser Geschöpfe, dass der Wunsch, sie wie Ratten, giftige Spinnen und Wölfe auszurotten, ebenso selbstverständlich erschien wie der Selbsterhaltungstrieb.»

    Nachdem die russische Armee im April 1995 rund achtzig Prozent des tschetschenischen Gebiets unter ihre Kontrolle gebracht hatte, setzten Dudajews Anhänger den Guerilla-Krieg fort. Sie schreckten dabei auch vor Geiselnahmen und Terroranschlägen nicht zurück. Im Juni 1995 brachten Rebellen unter der Führung Schamil Bassajews ein Krankenhaus im südrussischen Budjonnowsk in ihre Gewalt und verschanzten sich mit 1000 Geiseln. Russland ging auf die Forderungen der Rebellen ein und sicherte freien Abzug und das sofortige Ende der Militäraktionen zu. Am 30. Juli 1995 wurde in Moskau ein Abkommen unterzeichnet, in dem der Verzicht auf Kampfhandlungen, Entwaffnung der Tschetschenen sowie Abzug der russischen Soldaten aus Tschetschenien bis auf 6.000 Mann vereinbart wurde. Doch tschetschenische Freischärler brachen den Waffenstillstand und führten erneute Angriffe. Im August 1996 eroberten sie Grosny schließlich zurück. Es sind jene Monate und Wochen, die Babtschenko im ersten Teil seines Buches schildert – der Zeitraum zwischen dem Tag, als die Soldaten an der Startbahn bei Mosdok auf ihre Verlegung ins Kampfgebiet warten, und dem Abzug aus Tschetschenien.

    Am 31. August 1996 handelte der russische Sicherheitsberater und ehemalige General Alexander Lebed in Chassawjurt ein Waffenstillstandsabkommen mit dem Chef der tschetschenischen Übergangsregierung, Aslan Maschadow, aus. Jelzin verfügte den Rückzug aller Truppen. In dem fast zweijährigen ersten Krieg starben etwa 80.000 Menschen. Die russische Armee machte sich schwerer Menschenrechtsverletzungen schuldig, und auch auf tschetschenischer Seite nahm die Grausamkeit immer mehr zu.

    Am 27. Januar 1997 gewann Maschadow die Präsidentenwahlen in Tschetschenien deutlich vor Selimchan Jandarbijew und Schamil Bassajew. Im Mai 1997 unterzeichneten er und Jelzin einen formellen Friedensvertrag. Der politische Status Tschetschenien sollte bis zum 31. Dezember 2001 offen bleiben. Aber das de facto «unabhängige» Tschetschenien nutzte zwischen 1996 und 1999 die Chance zur Stabilisierung nicht. Das Land verkam zum kriminellen Eldorado – vom Krieg verwüstet, menschlich verroht. An dem korrupten System verdienten sowohl die tschetschenischen Clans als auch die russischen Militärs. Die Soldaten sprechen bei Babtschenko mehrfach von einem «gekauften» Krieg. Eine ganze Reihe von Politikern wird dabei aufgezählt, von Jelzin bis Putin, von Gantamirow bis Sawgajew. Maschadows Name fällt bezeichnenderweise nicht.

    Die Clan-Tradition verhinderte die Etablierung einer starken Zentralregierung. Statt sich um Präsident Maschadow zu scharen, gründeten die tschetschenischen Feldkommandeure in ihren Heimatgegenden kriminelle Fürstentümer. Das Geschäft mit Geiseln blühte. Gleichzeitig wuchs der Einfluss des Islamismus. Aus dem Ausland sickerten islamistische Kämpfer ein. Ausbildungslager für Terroristen, zum Teil von saudi-arabischen Geldgebern finanziert, wurden gegründet. Im Januar 1999 gab Maschadow islamistischem Druck nach und verkündete, dass in Tschetschenien innerhalb von drei Jahren die Scharia, das islamische Recht, eingeführt werden solle.

    In den nun folgenden Ereignissen bereitete sich der Beginn des zweiten Tschetschenien-Krieges mit der Mechanik eines Uhrwerks vor. Im August 1999 drangen islamische Freischärler unter Führung Bassajews in die Nachbarrepublik Dagestan ein und proklamierten dort einen unabhängigen Gottesstaat. Der kurz zuvor von Jelzin zum Ministerpräsidenten ernannte Wladimir Putin kündigte ein hartes Vorgehen an.

    Im September 1999 starben in Moskau und in Südrussland bei schweren Sprengstoff-Attentaten auf Wohnhäuser etwa 300 Menschen. Der Kreml beschuldigte die Tschetschenen. Die wahren Urheber sind bis heute nicht ermittelt. Es gibt schwerwiegende Indizien dafür, dass der russische Geheimdienst in die Attentate involviert war. Auch innenpolitisch mochten dem Kreml das dadurch hervorgerufene Bedrohungsszenario und ein weiterer «kleiner, siegreicher Krieg» nützlich erscheinen. Im September 1999 flog Russland Luftangriffe auf Guerilla-Stellungen. Die tschetschenischen Grenzen wurden abgeriegelt. Am 2. Oktober 1999 startete die russische Armee eine neue Bodenoffensive. Der zweite Tschetschenien-Krieg hatte begonnen. Er war militärisch besser vorbereitet, übertraf aber den ersten auch an erbittertem Hass bei weitem.

    Maschadow und Lebed beziehungsweise Jelzin hatten noch miteinander verhandelt. Wladimir Putin akzeptierte den demokratisch gewählten Maschadow nicht mehr als tschetschenischen Präsidenten, und der rief als Oberkommandierender der Streitkräfte den «Heiligen Krieg» aus. In der russischen Generalität empfanden viele die Niederlage im ersten Krieg, besonders die Rückeroberung Grosnys durch die Tschetschenen, als Schmach. Unverständnis oder gar Wut über den Waffenstillstand von 1996, der sie plötzlich zur Zusammenarbeit mit dem vormaligen Feind zwang, äußern auch Babtschenkos Protagonisten.

    Ende 1999 nahmen russische Truppen Gudermes, die zweitgrößte Stadt Tschetscheniens, ein und schlossen den Belagerungsring um Grosny. Bis Jahresende wurden die größeren Städte Tschetscheniens erobert. Beide Seiten machten sich schwerer Vergehen gegen die Zivilbevölkerung schuldig. Am 1. Januar 2000 – seinem ersten Amtstag als Nachfolger von Boris Jelzin – besuchte Wladimir Putin Truppenteile in Tschetschenien, am 1. Februar 2000 wurde die Hauptstadt Grosny genommen. Am 6. Februar 2000 verkündete Putin den Sieg seiner Truppen im Krieg gegen Tschetschenien. Im Juni 2000 stellte er Tschetschenien als «Teilrepublik» unter direkte Verwaltung Moskaus und setzte den muslimischen Geistlichen (Mufti) Achmed Kadyrow als Premier ein. Ende Januar 2001 übertrug Putin die Bekämpfung des Guerillakrieges dem Inlandsgeheimdienst FSB.

    Tschetschenische Rebellen verübten weiter Terroranschläge. Russische Menschenrechtsorganisationen und die OSZE stellten nach wie vor Menschenrechtsverletzungen sowohl von russischer als auch von tschetschenischer Seite fest. Besonders Schamil Bassajew tat sich durch rücksichtsloses Vorgehen gegen Geiseln und Zivilisten hervor.

    Nach den Anschlägen vom 11. September 2001 erklärte der Kreml den Krieg zum Teil des Kampfes «gegen den internationalen Terrorismus». Inzwischen ist es Russland gelungen, den Konflikt zu «tschetschenisieren». Die Regierung von Ministerpräsident Ramsan Kadyrow, des Sohnes von Achmed, verzeichnete Erfolge beim Wiederaufbau der Infrastruktur. Mit seiner brutalen Garde von ehemaligen Widerstandskämpfern zwang er viele Rebellen zur Aufgabe, andere nutzten das Amnestie-Angebot.

    Aber je länger sich der Krieg hinzog, desto nervöser reagierte Moskau auf jede Kritik an seinem Vorgehen in Tschetschenien. Die Bewegungsfreiheit ausländischer Berichterstatter wurde schon Ende 2002 eingeschränkt. Am 2. Januar 2003 mussten Internationale Beobachter Tschetschenien verlassen. Das Mandat der einzigen internationalen Beobachtertruppe, der OSZE, wurde nicht verlängert.

    Der unbewältigte Konflikt in Tschetschenien diente als Vorwand für den Abbau demokratischer Rechte im Inneren Russlands. Das reicht von der Entmachtung der föderalen Subjekte (Regionen) über die zunehmende Gleichschaltung der Fernsehsender und Zeitungen bis zur staatlichen Gängelung der NGOs. Politische Gegner werden unter dem Vorwand des Steuerstrafrechts mundtot gemacht – Michail Chodorkowskij sitzt im Straflager in Sibirien, weil er die liberale Opposition unterstützt hat; andere Oligarchen, die sich ebenso bereichert haben wie er, sind auf freiem Fuße. Die zarten Pflänzchen einer Zivilgesellschaft drohen einzugehen.

    Dabei wäre heute nichts nötiger als eine starke Zivilgesellschaft, eine offene Diskussion. Russlands wahre Größe beruht nicht auf polizeistaatlicher Härte und nicht auf imperialen Ansprüchen, sondern auf der Fähigkeit, auch schmerzliche Wahrheiten auszusprechen, jenem unbestechlichen Blick, wie Lew Tolstoj ihn hatte. Als «Hadschi Murat» 1912 posthum erschien, waren die oben zitierten Passagen von der Zensur gestrichen. Heute ist die russische Presse von einer totalen Zensur zwar noch weit entfernt, aber der Druck nimmt zu. Kritische Journalisten riskieren ihr Leben. Eine solche Vertreterin russischer Größe war auch Anna Politkowskaja. Sie hat die russischen Menschenrechtsverletzungen in Tschetschenien angeprangert, war aber auch nicht blind für die Verbrechen tschetschenischer Kommandeure und Krimineller: Vor ihrer Ermordung am 7. Oktober 2006 recherchierte sie über Folterungen unter dem Kommando des moskautreuen Kadyrow.

    Auch Arkadi Babtschenko gehört mit seinem aufrüttelnden Buch in die Reihe jener mutigen Stimmen, von denen heute jede einzelne immer wichtiger wird.

 

Olaf Kühl, im Oktober 2006