Nachdem Russland 1864 das Land unter seine Verwaltung gebracht
hatte, war die militärische Lage ähnlich wie um 1994: Die
Stützpunkte entlang
der Heerstraße waren unter Kontrolle, doch in den Bergen leistete
ein Teil der
Bevölkerung weiterhin Widerstand. Während des
türkisch-russischen Krieges
1877/1878 erhoben sich die Kaukasier erneut gegen Russland. Ihr
Aufstand wurde
niedergeschlagen. Die russische Besatzung löste bis Ende des 19.
Jahrhunderts
eine Emigrationswelle aus. In den eroberten Städten und
Dörfern wurden Kosaken
und Armenier angesiedelt.
Niemand entsprach dem Charakterideal des gefügigen,
autoritätshörigen Sowjetmenschen und Bürokraten weniger
als die Tschetschenen.
Folgerichtig widersetzten sie sich auch
bis in
die dreißiger Jahre hinein der Kollektivierung der
Landwirtschaft. 1921 war Tschetschenien
Teil der Autonomen Sowjetischen Sozialistischen Gebirgsrepublik (GASSR)
und im
Jahr darauf autonomes Gebiet geworden. Mitte der dreißiger Jahre
wurde es zur Tschetscheno-Inguschischen
ASSR zusammengelegt.
Im
Februar 1944 ließ Stalins Geheimdienstchef Berija mehr
als 400.000 Tschetschenen und 100.000 Inguschen in Viehwaggons nach
Kasachstan
und Mittelasien transportieren – ihnen wurde vorgeworfen, mit dem
deutschen
Militär kollaboriert zu haben. Ein Viertel der Deportierten starb.
Die
sowjetische Republik Tschetschenien-Inguschetien wurde aufgelöst
und den
angrenzenden Republiken zugeschlagen. Erst Nikita Chruschtschow
erlaubte 1957
die Rückkehr.
In
den über siebzig Jahren der Sowjetunion lernten die Tschetschenen
Russisch, wuchsen in der sowjetisch geprägten Zivilisation auf.
Doch kamen nur
wenige von ihnen in wirklich hohe Führungspositionen von Partei
und Armee. Dazu
gehört Aslan Alijewitsch Maschadow, zuletzt Befehlshaber der
Artillerie- und
Raketentruppen in Vilnius. Trotz dieser
langen Assimilierungsphase brachen die alten Konflikte nach dem Zerfall
der
UdSSR mit Wucht wieder aus. Auch
hochrangige,
sowjetisch sozialisierte Offiziere wie Dudajew und Maschadow wandten
sich
erstaunlich rasch gegen Russland und engagierten sich im Freiheitskampf
Tschetscheniens.
Am
27. Oktober 1991 wurde Dschohar Dudajew zum Präsidenten
gewählt.
Er leistete seinen Amtseid auf den Koran. Wenige Tage später
proklamierte er
einseitig die Souveränität der tschetscheno-inguschischen
ASSR und ihren Austritt
aus der UdSSR. Die Inguschen trennten sich von Tschetschenien. Moskau
versuchte
vergeblich, durch Unterstützung der Opposition gegen Dudajew die
Lage zugunsten Russlands zu
wenden. Bis 1994 kam es zu einem
Massenexodus der nicht-tschetschenischen Bevölkerung (200.000 –
300.000 Menschen).
Am 11. Dezember 1994 gab Präsident Boris Jelzin nach Beschluss des
Sicherheitsrates
der Russischen Föderation den Befehl zur militärischen
Intervention. Der erste
Tschetschenien-Krieg hatte begonnen. Etwa 40.000 Soldaten marschierten
in Tschetschenien
ein und nahmen nach zweimonatigen Kämpfen die Hauptstadt Grosny.
Bei der
Zerstörung der Stadt durch Luftangriffe starben 25.000 Menschen.
Arkadi Babtschenko beschreibt anschaulich, wie schlecht ausgebildet
und mangelhaft ausgerüstet die jungen russischen Rekruten in diesen
ersten Krieg geschickt wurden. Die Armee verstrickte sich hoffnungslos
in einen
Guerillakrieg, der sie weitestgehend demoralisierte.
Fast noch bestürzender
als Sterben und Verwundung im militärischen Kampf ist
Babtschenkos
Schilderung der Gewalt in der Armee selbst. Die unaufhörlichen
Schläge und
sadistischen Schikanen der «Großväter» (bei
Jünger und Remarque hießen sie noch
«alte Männer») gegen die jungen Rekruten mögen
dem westlichen Leser unglaublich
erscheinen. Aber tatsächlich geht die Zahl der gemeldeten
Misshandlungen Jahr
für Jahr in die Zehntausende, und ohne das „Komitee der
Soldatenmütter“ wären viele
gar nicht erst bekannt geworden. Die
Dunkelziffer liegt weit höher. Aufsehen erregte zuletzt der
Fall des
Rekruten Andrej Sytschow, dem nach Misshandlungen in der Panzerschule
Tscheljabinsk beide Beine und die Genitalien amputiert werden mussten.
Verteidigungsminister Iwanow nannte als Grund dafür, dass man
nicht so leicht etwas gegen diese
Schinderei in der russischen Armee unternehmen könne, die Armee
sei nun einmal
ein Spiegel der Gesellschaft. Damit ist viel über den Zustand der
letzteren
gesagt. Wenn die Soldaten sich schon untereinander keinen Respekt
zollen,
werden sie den Gegner umso weniger menschlich behandeln. Und die
Entmenschlichung
in der Sprache bereitet hemmungslose Gewalttaten vor. Die russischen
Soldaten
nennen die Tschetschenen «Tschechen»;
«Schwarzärsche» («Černožopy») ist das
gängige Schimpfwort für kaukasisch aussehende Menschen in
Moskau. Die
Tschetschenen selbst bezeichnen alle Russen als „gasski“ – Fremde,
Ausgestossene.
Die
von Babtschenko beschriebenen Soldaten, einfache Rekruten,
erkennen den daraus folgenden Widerspruch sehr genau: Wenn die
Tschetschenen so
radikal fremd und feindselig sind, warum will Russland sie dann
unbedingt im
eigenen Staatsverbund halten? Einerseits erhebt die Föderation
Anspruch auf
Tschetschenien als «Heimaterde» (Wladimir Putin),
andererseits werden die
Tschetschenen als wilde Tiere, das Fremde an sich, dargestellt. Der Hass verstärkt sich dann natürlich auch
in der Gegenrichtung. Tolstoj beschreibt die Situation nach
einem
russischen Angriff auf ein tschetschenisches Dorf, bei dem
Bienenstöcke
verbrannt, Brunnen vergiftet und Kinder ermordet worden sind:
«Niemand sprach
vom Hass gegen die Russen. Das Gefühl, das alle Tschetschenen, vom
jüngsten bis
zum ältesten, empfanden, war stärker als Hass. Es war kein
Hass, sondern das
Unvermögen, diese
russischen Hunde überhaupt als
Menschen anzusehen, ein solcher Abscheu und Ekel, ein so fassungsloses
Erstaunen über die sinnlose Grausamkeit dieser
Geschöpfe, dass der Wunsch, sie wie Ratten, giftige Spinnen und
Wölfe
auszurotten, ebenso selbstverständlich erschien wie der
Selbsterhaltungstrieb.»
Nachdem die russische Armee im April 1995 rund
achtzig Prozent des tschetschenischen Gebiets unter ihre Kontrolle
gebracht
hatte, setzten Dudajews Anhänger den Guerilla-Krieg fort. Sie
schreckten dabei auch
vor Geiselnahmen und Terroranschlägen nicht zurück. Im Juni
1995 brachten
Rebellen unter der Führung Schamil Bassajews ein Krankenhaus im
südrussischen
Budjonnowsk in ihre Gewalt und verschanzten sich mit 1000 Geiseln.
Russland
ging auf die Forderungen der Rebellen ein und sicherte freien Abzug und
das
sofortige Ende der Militäraktionen zu. Am 30. Juli 1995 wurde in
Moskau ein Abkommen
unterzeichnet, in dem der Verzicht auf Kampfhandlungen, Entwaffnung der
Tschetschenen sowie Abzug der russischen Soldaten aus Tschetschenien
bis auf
6.000 Mann vereinbart wurde. Doch tschetschenische Freischärler
brachen den
Waffenstillstand und führten erneute Angriffe. Im August 1996
eroberten sie Grosny
schließlich zurück. Es sind jene Monate
und Wochen, die Babtschenko im ersten Teil seines Buches schildert –
der
Zeitraum zwischen dem Tag, als die Soldaten an der Startbahn bei Mosdok
auf
ihre Verlegung ins Kampfgebiet warten, und dem Abzug aus Tschetschenien.
Am
31. August 1996 handelte der russische Sicherheitsberater
und ehemalige General Alexander Lebed in Chassawjurt ein
Waffenstillstandsabkommen
mit dem Chef der tschetschenischen Übergangsregierung, Aslan
Maschadow, aus.
Jelzin verfügte den Rückzug aller Truppen. In dem fast
zweijährigen ersten
Krieg starben etwa
80.000 Menschen. Die russische
Armee machte sich schwerer Menschenrechtsverletzungen schuldig, und
auch auf
tschetschenischer Seite nahm die Grausamkeit immer mehr zu.
Am
27. Januar 1997 gewann Maschadow die Präsidentenwahlen in
Tschetschenien deutlich vor Selimchan
Jandarbijew und Schamil Bassajew. Im Mai 1997 unterzeichneten er und
Jelzin einen
formellen Friedensvertrag. Der politische Status Tschetschenien sollte
bis zum
31. Dezember 2001 offen bleiben. Aber
das de
facto «unabhängige» Tschetschenien nutzte zwischen
1996 und 1999 die Chance zur
Stabilisierung nicht. Das Land verkam zum kriminellen Eldorado – vom
Krieg
verwüstet, menschlich verroht. An dem korrupten System verdienten
sowohl die
tschetschenischen Clans als auch
die
russischen Militärs. Die Soldaten sprechen bei Babtschenko
mehrfach von einem «gekauften»
Krieg. Eine ganze Reihe von Politikern wird dabei aufgezählt, von
Jelzin bis
Putin, von Gantamirow bis Sawgajew. Maschadows Name fällt
bezeichnenderweise
nicht.
Die
Clan-Tradition verhinderte die Etablierung einer starken
Zentralregierung. Statt sich um Präsident Maschadow zu scharen,
gründeten die
tschetschenischen Feldkommandeure in ihren Heimatgegenden kriminelle
Fürstentümer. Das Geschäft mit Geiseln blühte.
Gleichzeitig wuchs der Einfluss des
Islamismus. Aus dem Ausland sickerten islamistische Kämpfer ein.
Ausbildungslager für Terroristen, zum Teil von saudi-arabischen
Geldgebern
finanziert, wurden gegründet. Im Januar 1999 gab Maschadow
islamistischem Druck
nach und verkündete, dass in Tschetschenien innerhalb von drei
Jahren die
Scharia, das islamische Recht, eingeführt werden solle.
In
den nun folgenden Ereignissen bereitete sich der Beginn
des zweiten Tschetschenien-Krieges mit der Mechanik eines Uhrwerks vor.
Im
August 1999 drangen islamische Freischärler unter Führung
Bassajews in die
Nachbarrepublik Dagestan ein und proklamierten dort einen
unabhängigen Gottesstaat.
Der kurz zuvor von Jelzin zum Ministerpräsidenten ernannte
Wladimir Putin
kündigte ein hartes Vorgehen an.
Im
September 1999 starben in Moskau und in Südrussland bei
schweren Sprengstoff-Attentaten auf Wohnhäuser etwa 300
Menschen. Der Kreml beschuldigte die Tschetschenen. Die wahren Urheber
sind bis
heute nicht ermittelt. Es gibt schwerwiegende Indizien dafür, dass
der
russische Geheimdienst in die Attentate involviert war. Auch
innenpolitisch mochten dem Kreml das dadurch hervorgerufene
Bedrohungsszenario
und ein weiterer
«kleiner, siegreicher Krieg»
nützlich erscheinen. Im September 1999 flog Russland Luftangriffe
auf
Guerilla-Stellungen. Die tschetschenischen Grenzen wurden abgeriegelt.
Am 2.
Oktober 1999 startete die russische Armee eine neue Bodenoffensive. Der
zweite
Tschetschenien-Krieg hatte begonnen. Er war militärisch besser
vorbereitet, übertraf
aber den ersten auch an
erbittertem Hass bei weitem.
Maschadow und Lebed beziehungsweise Jelzin hatten noch miteinander
verhandelt. Wladimir Putin akzeptierte den demokratisch gewählten
Maschadow
nicht mehr als tschetschenischen Präsidenten, und der rief als
Oberkommandierender
der Streitkräfte den «Heiligen Krieg» aus. In der
russischen Generalität
empfanden viele die Niederlage im ersten Krieg, besonders die
Rückeroberung
Grosnys durch die Tschetschenen, als Schmach. Unverständnis oder
gar Wut über den
Waffenstillstand von 1996, der sie plötzlich zur Zusammenarbeit
mit dem
vormaligen Feind zwang, äußern auch
Babtschenkos Protagonisten.
Ende 1999 nahmen russische Truppen Gudermes, die
zweitgrößte Stadt Tschetscheniens, ein und schlossen den
Belagerungsring um
Grosny. Bis Jahresende wurden die größeren Städte
Tschetscheniens erobert.
Beide Seiten machten sich schwerer Vergehen gegen die
Zivilbevölkerung schuldig.
Am 1. Januar 2000 – seinem ersten Amtstag als Nachfolger von Boris
Jelzin – besuchte
Wladimir Putin Truppenteile in Tschetschenien, am 1. Februar 2000 wurde
die
Hauptstadt Grosny genommen. Am 6. Februar 2000 verkündete Putin
den Sieg seiner
Truppen im Krieg gegen Tschetschenien. Im Juni 2000 stellte er
Tschetschenien
als «Teilrepublik» unter direkte Verwaltung Moskaus und
setzte den muslimischen
Geistlichen (Mufti) Achmed Kadyrow als Premier ein. Ende Januar 2001
übertrug Putin
die Bekämpfung des Guerillakrieges dem Inlandsgeheimdienst FSB.
Tschetschenische Rebellen verübten weiter Terroranschläge.
Russische Menschenrechtsorganisationen und die OSZE stellten nach wie
vor Menschenrechtsverletzungen
sowohl von russischer als auch von tschetschenischer Seite fest.
Besonders
Schamil Bassajew tat sich durch rücksichtsloses Vorgehen gegen
Geiseln und
Zivilisten hervor.
Nach den Anschlägen vom 11. September 2001 erklärte der
Kreml den Krieg zum Teil des Kampfes «gegen den internationalen
Terrorismus». Inzwischen
ist es Russland gelungen, den Konflikt zu
«tschetschenisieren». Die Regierung
von Ministerpräsident Ramsan Kadyrow, des Sohnes von Achmed,
verzeichnete
Erfolge beim Wiederaufbau der Infrastruktur. Mit seiner brutalen Garde
von
ehemaligen Widerstandskämpfern zwang er viele Rebellen zur
Aufgabe, andere nutzten
das Amnestie-Angebot.
Aber
je länger sich der Krieg hinzog,
desto nervöser reagierte Moskau auf jede Kritik an seinem Vorgehen
in
Tschetschenien. Die Bewegungsfreiheit ausländischer
Berichterstatter wurde
schon Ende 2002 eingeschränkt. Am 2. Januar 2003 mussten
Internationale Beobachter
Tschetschenien verlassen. Das Mandat der einzigen internationalen
Beobachtertruppe, der OSZE, wurde nicht verlängert.
Der
unbewältigte Konflikt in Tschetschenien diente als
Vorwand für den Abbau demokratischer Rechte im Inneren Russlands.
Das reicht
von der Entmachtung der föderalen Subjekte (Regionen) über
die zunehmende
Gleichschaltung der Fernsehsender und Zeitungen bis zur staatlichen
Gängelung
der NGOs. Politische Gegner werden unter dem Vorwand des
Steuerstrafrechts
mundtot gemacht – Michail Chodorkowskij sitzt im Straflager in
Sibirien, weil
er die liberale Opposition unterstützt hat; andere Oligarchen, die
sich ebenso
bereichert haben wie er, sind auf freiem Fuße. Die zarten
Pflänzchen einer
Zivilgesellschaft drohen einzugehen.
Dabei wäre heute nichts nötiger als eine starke
Zivilgesellschaft,
eine offene Diskussion. Russlands wahre Größe beruht nicht
auf
polizeistaatlicher Härte und nicht auf imperialen Ansprüchen,
sondern auf der
Fähigkeit, auch schmerzliche Wahrheiten auszusprechen, jenem
unbestechlichen
Blick, wie Lew Tolstoj ihn hatte. Als «Hadschi Murat» 1912
posthum erschien,
waren die oben zitierten Passagen von der Zensur gestrichen. Heute ist
die
russische Presse von einer totalen Zensur zwar noch weit entfernt, aber
der Druck nimmt zu. Kritische Journalisten riskieren ihr Leben. Eine
solche
Vertreterin russischer Größe war auch Anna
Politkowskaja. Sie hat die russischen Menschenrechtsverletzungen in
Tschetschenien angeprangert, war aber
auch
nicht blind für die Verbrechen tschetschenischer Kommandeure und
Krimineller: Vor
ihrer Ermordung am 7. Oktober 2006 recherchierte sie über
Folterungen unter dem
Kommando des moskautreuen Kadyrow.
Auch Arkadi Babtschenko gehört mit seinem aufrüttelnden Buch
in die Reihe jener mutigen Stimmen, von denen heute jede einzelne immer
wichtiger wird.
Olaf Kühl, im Oktober
2006