NACHWORT
Fünfundsiebzig
Jahre nach der polnischen Erstausgabe erfährt Wacław Berents Roman
WINTERSAAT
endlich auch in einer deutschen Übersetzung die ihm zukommende
Würdigung. Das
Buch löste beim Erscheinen (1910) heftige Diskussionen aus. Gelesen
wurde es
immer nur von wenigen: Ein Schicksal aller Werke Berents, eines
Autors, der
höchste Ehrungen erfuhr und heute als der wohl interessanteste Stilist
seiner
Zeit gilt, ohne sich je, wie etwa żeromski,
einer breiten Leserschaft, zu erfreuen. Nach dem FACHMANN (Fachowiec,
1895),
einer Auseinandersetzung mit den positivistischen Idealen, und MODER
(Próchno,
1901, deutsch 1908 als »Edelfäule« bei Fontane & Co, Berlin), einer
Schilderung des dekadenten Künstlermilieus, ist WINTERSAAT Berents
dritter
Roman. Wie die Zeitintervalle zwischen den einzelnen Romanen vermuten
lassen,
feilte Berent sehr lange an jedem seiner Werke. Diese Arbeit ist der
WINTERSAAT
anzusehen: Das Buch verlangt vom Leser Einfühlung und Mitarbeit.
Berents
Sprache war schon 1910, als die Blütezeit des Jungen Polen mit
seinen
stilistischen Manierismen noch gar nicht lange zurücklag, vielen allzu
barock
und zu stilisiert. Ein Kritiker schlug gar vor, den Roman erst einmal
ins “normale
Polnisch” zu übersetzen, was sicherlich ungerecht war, weil die Sprache
Berents, von Roman zu Roman anders, eine gewollte, auch symbolische
Funktion zu
erfüllen hat. Mehr noch erregte die Gemüter, daß sie hier ein geradezu
apokalyptisch düsteres Gemälde der polnischen Gesellschaft zu sehen
bekamen,
ohne darin eine positive Identifikationsfigur zu finden. Harten Umgang
mit den
nationalen Gefühlen hatte man — seit Słowacki (1809-1849), seit
Wyspiański
(1869 - 1907), zwei Namen, die im Zusammenhang mit WINTERSAAT am
häufigsten
fielen — zu akzeptieren gelernt. Berent aber, so hieß es, sei ein
kaltblütiger
Beobachter, der zu viel Galle aus seiner Feder fließen lasse. Das
“Weichselland” litt seit mehr als einem Jahrhundert unter der
Herrschaft des
Zarenreiches, aber Berent ließ ausgerechnet einen russischen Oberst,
der doch
mit für die allgemeine Stagnation und für den “polnischen Friedhof”
verantwortlich
war, den Verfall von Tatkraft und Lebensfreude in diesem Land beklagen.
Der
Gestalt des “guten Russen”, die durchaus ihre literarischen Vorläufer
besaß,
wurden hier Äußerungen in den Mund gelegt, die allgemein provozierten.
Es gab
aber doch Figuren, die in der Tradition der Romantik vertraut und
positiv
waren. Der alte Komierowski etwa wurde leicht als Held und als Vorbild
empfunden:
Er ist bei Berent der symbolhaft stilisierte “alte Kämpe”, dessen
Lebenslauf
sämtliche Aufstände und Befreiungskämpfe der Polen im 19. Jahrhundert
erfaßt,
das personifizierte “Gewissen der Nation”, das wie ein Gespenst der
unbewältigten
Romantik umherirrt, während sich alles ringsum dem positivistischen
Aufbau (der
“organischen Arbeit”) widmet oder der selbstvergessenen Genußsucht
frönt. Diese
Gestalt ist (seit Krasiński, 1812-1859 und Mickiewicz, 1798-1855) zu
einer Stereotype
der polnischen Literatur geworden, noch bei Gombrowicz (1904-1969)
finden wir
sie, allerdings gebrochen: den alten Major in TRANS-ATLANTIK. Berent
stellt
jedoch diese Figur, nachdem er ihr alle typischen Züge verliehen hat,
sogleich
in Frage: Lähmt sie nicht gerade den Lebenswillen der jungen Nina,
erscheint
sie ihr nicht im Traum — als aschenbestreutes Hyänengerippe?! Als
“Hyäne des
Idealismus” bezeichnet den alten Major auch sein Schwiegersohn, der
Baron, sozusagen
das “positivistische” Gegenstück dieses “romantischen” Greises: Er
vertritt
hier den Glauben an den Sinn der “organischen Arbeit”, an Optimismus
und
Lebensinstinkt, wird aber zugleich der “gemeinsamen Seele” der Polen
untreu,
indem er die Ideale der Romantik, d. h. den Freiheitskampf aufgibt und
sich mit
den Besatzern zu arrangieren sucht. Der Baron verkörpert so etwas wie
Nietzsches
“Willen zur Macht” von russischen Gnaden: Er sucht, um seine
Finanzpläne
durchzusetzen, sogar die Billigung hoher Petersburger Kreise. Der Name
Nietzsches
fällt hier nicht grundlos. Berent ist auch als Übersetzer des großen
Dichterphilosophen
bekannt geworden und galt als sein entschiedenster (und verständigster)
Mittler
in Polen. Nachdem Przybyszewski (1868-1927) Nietzsche für seine
“satanischen
Theorien” mißbraucht hatte, hob Berent die optimistischen und
zukunftsverheißenden
Aspekte dieser Philosophie hervor. Man hat gelegentlich behauptet,
WINTERSAAT
sei nur als Niederschlag von Nietzsches Gedankengut zu verstehen. Daran
ist
viel Wahres. Nietzsches NACHLASS DER ACHTZIGER JAHRE ließe sich fast
als
Sammlung aphoristischer Kommentare zu WINTERSAAT lesen. Aber wie kein
Kunstwerk nur “Ausdruck” einer anderswo schon formulierten Theorie ist,
so ist
auch der Baron (sowohl vom russischen Oberst wie vom alten Komierowski
als
“Bourgeois” beschimpft) gewiß nicht lautere Verkörperung dessen, was
Berent —
wie man seinen Essays entnehmen kann — als den “Willen zur Macht”
durchaus
guthieß. Als Publizist beklagte er die Kommerzialisierung des Lebens,
die sich
etwa in der Verflachung aller Bildung durch den modernen Journalismus
zeige
(vgl. die stark ironisch gezeichneten Journalistenfiguren im Roman!).
Sollte
da ausgerechnet der Finanzier Nieman Vorbild sein? Ähnlich ambivalent
sind die
anderen Gestalten des Romans. Denn es gibt hier keinen Erzähler, der
sie alle
vorstellte: Von jedem erfahren wir nur so viel, wie er selbst von sich,
wie die
anderen über ihn berichten. Die “Wahrheit” über jeden wäre am ehesten
dort zu
suchen, wo sich die verschiedenen Blickrichtungen kreuzen. Der junge
Komierowski
etwa — verkörpert er mit der eisernen Wanda, einer Figur vom Schlage
der Helden
żeromskis, und dem
Bauern Niemsta
die “Wintersaat” des Titels, ist er der unerbittliche “Fürst des
Untergrunds”,
Verheißung der Zukunft Polens, wie manche Kritiker meinten? Berent
zeigt auch
ihn von einer anderen Seite: Am Schluß seiner Erzählung von der
sibirischen
Verbannung berauscht sich Komierowski am Grauen seiner Zuhörer, und bei
den
Gewaltszenen im Armenviertel Warschaus zeigt er eine “ungesunde
Erregung”. Er
selbst sagt von sich, er habe “geschmolzenes Blei” in den Adern, und
Nina sieht
ihn auch im Traum als blutrünstige Hyäne. Hier benutzt Berent das
romantische
Bild von der “heilsamen Krankheit” des patriotischen Enthusiasmus. Aber
— wer
einmal am patriotischen Freiheitsdrang “erkrankt”, vergiftet seine
Seele,
schadet, sagt der Oberst, “den eigenen Landsleuten mehr als den
Feinden”. So
zeigt Berent die Kehrseite des konspirativen Lebens: Der Kampf im
Untergrund
macht “sonnenfeind” und pervertiert die gesunde Lebensfreude zur Lust
an der
Grausamkeit.
Beim
Erscheinen der WINTERSAAT lag die erste russische Revolution (1905)
gerade fünf
Jahre zurück. Sie hatte auch in Polen ihren Widerhall gefunden: Mit
Schulstreiks, mit Demonstrationen und Barrikadenkämpfen, die von den
sozialistischen
Parteien organisiert worden waren. Im Oktober 1905 wurden
Massendemonstrationen
in Warschau durch die Verhängung des Ausnahmezustands beendet. In
diesem
historischen Kontext wurde WINTERSAAT natürlich auch als
Auseinandersetzung mit
der revolutionären Unruhe gelesen. Bereits in dem Artikel DIE IDEE IN
DER REVOLUTIONÄREN
BEWEGUNG (1906) hatte Berent auf die Gefahren aufmerksam gemacht, die
ein
Verzicht auf das eigene Ich im Namen der nationalen oder
Klassenidentität mit
sich bringt. Er zitierte dort als abschreckendes Beispiel Maurycy
Mochnacki
(1804-1834), einen Publizisten der Romantik, der aus Anlaß des
Novemberaufstands 1830 darob frohlockte, daß »die Menschen in diesem
Lande
endlich aufhören werden, zu philosophieren und Gedichte zu
schreiben... In
diesem harten Zeitalter macht sich nur eine
Fähigkeit
bezahlt. Sie beruht darauf, das Volk durch die Revolution in eine Hyäne
zu
verwandeln, die sich vom Aas ernährt . . .« Berent wandte sich gegen
die Reduzierung
des einzelnen zu einer “Marionette des Parteienmolochs”. Der Dichter
könne “die
Sache” am besten unterstützen, indem er seine Identität bewahre und
eine eigene
Sprache finde. So ist auch der junge Komierowski keine makellose
Gestalt. Der
Krakauer Professor sieht ihn am Schluß zwar als zukunftsverheißende
Galionsfigur dem Gefangenenzug voranschreiten; aber der Baron
beschimpft seinen
Schwager als Produkt des östlichen Marasmus. Interessant ist, daß
Komierowski
selbst in seiner Erzählung “aus den sibirischen Bergwerken” den
lähmenden
Einfluß der russischen Mentalität eindringlich beschreibt. Wir sehen
schon
hier, daß das Bedeutungsgeflecht des Romans in wenigen Worten nicht zu
fassen
ist. Nicht nur, daß jede Gestalt aus unterschiedlichen Blickwinkeln
geschildert wird — die Perspektiven selbst sind in sich oft
uneinheitlich, ja
widersprüchlich. Die “Polyphonie” des Romans, d. h. die Tatsache, daß
hier
jeder seine Meinung “ungegängelt” (Berent) äußern kann, verleiht so
auch jeder
Einzelstimme eine gewisse innere Unstimmigkeit, eine Art
Dialogcharakter. Bei
Lena, der Gattin des Barons und ehemaligen Geliebten des Selbstmörders
Woyda,
wird das bildhaft deutlich: Spricht sie doch — in Anwesenheit der
beiden
Mädchen — “mit sich selbst” und weiß um die “Zerrissenheit” ihrer
Frauenseele,
die darin zum Ausdruck kommt, daß sie sich einerseits sehr beeindruckt
zeigt
von Woydas Worten über den Stillstand des Lebens, das nur durch Opfer
einzelner
wieder in Gang zu bringen sei, andererseits aber zugibt, daß ihr “jeder
lebensfrohe
Tag” heller sei als “all diese Sternenbahnen” (romantischer
Schwärmerei).
Damit spricht sie aber ihrem Gatten, dessen bürgerliches Streben sie
doch
zynisch belächelt, aus der Seele. “Die Saite ihrer Erzählung” sei mit
einem
häßlichen Ton gerissen — so bringt Nina diese Zwiespältigkeit in ein
treffendes
Bild. Die junge Nina, die alles mit unverdorbenen Augen sieht: Ihr
“unfaßbar
sonniges Schweigen” provoziert jedes Gegenüber zum Sprechen; so bekommt
sie die
verschiedensten Meinungen zu hören, erlebt neben der sexuellen (durch
Zaremba)
auch ihre patriotische Initiation (durch den alten Major), und
verarbeitet
all ihre Eindrücke schließlich in einem Traum, den man als polnische
Version
der Walpurgisnacht sehen kann. In diesem Traum werden die Schleier von
einer
tieferen Wirklichkeit gerissen, die Gestalten des Abends zeigen ihr
“eigentliches
Gesicht”. In seinem Essay URSPRÜNGE UND AUSWIRKUNGEN DES
NIETZSCHEANISMUS
(1906) hat Berent die Heldin dieses Bildungsromans
vorauscharakterisiert: »Es
ist doch so, daß nur bei den jungen Mädchen unter der Maske von
Gekicher,
Grimassen, Gelächter und äußerem Gehabe, unter all dem sonnigen
Vibrieren
frühlingshaften Lebens oft — ohne daß man wüßte, wo und wie — eine
ganze,
gefestigte Frauenseele heranreift.« Nina ist unverdorbener
Lebensinstinkt, sie
ist “noch nicht mürbe in der Seele”, wie der Baron sagt, und dieser
Instinkt
droht von den Konventionen, der allgemeinen Verlogenheit, vom Gespinst
der
Tradition erstickt oder verfälscht zu werden. »Der “Gewissensbiß” als
solcher
ist ein Hindernis der Genesung, — man muß alles aufzuwiegen suchen
durch neue
Handlungen, um möglichst schnell dem Siechtum der Selbsttortur zu
entgehen ..«
schreibt Nietzsche. Genau das tut Nina, nachdem sie mit Zaremba
“gesündigt”
hat. Deshalb wehrt sie sich instinktiv gegen den Einfluß der demütigen,
opferseligen Wanda. Diese fast körperlose Aufklärungsenthusiastin (von
einem
zeitgenössischen Kritiker “hysterische Pseudomärtyrerin” geschimpft)
ist
übrigens eine der nietzschewidrigsten Figuren, die sich denken lassen.
Daß
ausgerechnet sie mit einem Granatapfel als Fruchtbarkeitssymbol in der
Hand den
Roman beschließt, ist in seiner Paradoxie schon fast wieder logisch.
Wie gerät
denn diese Frucht, die zu Beginn so schön mit Nina assoziiert war (»Die
blutroten Lippen öffneten sich im Lächeln zu einem langen Spalt, wie
ein
platzender Granatapfel, und ein Wort enthülste sich ihnen, schwer und
saftig
wie dieses Granatapfels purpurner Samen...«) — plötzlich in Wandas
kalte Hände?
Aber es bewegt sich manches in diesem Roman — Meinungen etwa gehen von
Mund zu
Mund. Was der russische Oberst von den Polen sagt (»Es steckt nicht
viel Gutes
in ihnen, und das Böse ist zu schlau für uns.«), taucht in den
David-Psalmen
wieder auf, die dem Professor beim Anblick der östlichen Pilger
einfallen:
»Denn in ihrem Munde ist nichts Verläßliches, ihr Inneres ist
Bosheit.« Der
Baron und sein Schwiegervater, der alte Major, Todfeinde an und für
sich,
äußern sich merkwürdig einhellig über den dekadenten Schwächling
Woyda. Diese
Sprunghaftigkeit der Meinungen ist nur anderer Ausdruck der erwähnten
inneren
Unstimmigkeit. Inwieweit sich hier nicht doch Berent in die Äußerungen
seiner
literarischen Gestalten mischt, sei offengelassen. Meinungen sind in
WINTERSAAT zudem auch immer “Symptome bestimmter Leiber” (Nietzsche,
DIE
FRÖHLICHE WISSENSCHAFT), und triebhafte, psychosomatische Bedürfnisse:
Die
“eigentlichen Gesichter”, die Nina in ihrem Traum erkennt, bilden
sozusagen den
Kontrapunkt in der Partitur formulierter Gedanken. Die klarsichtige,
weil
unverbildete Nina spricht so von Lenas “körperlicher Klugheit”! In kaum
einem
zeitgenössischen Werk der polnischen Literatur findet man einen
derartigen
Reichtum naturalistischer Körperbeschreibungen, animalistischer
Vergleiche und
Metaphern, eine derartige erotische Kühnheit — all dies neben einer
ebenso
ausgeprägten “nationalen Symbolik”.
So
wie die geäußerten Meinungen durchwandern Bilder, ihre Bedeutung
variierend,
den Roman. Am Anfang steht Zaremba als “Fischer dieses schwarzen
Bootes” — auf
der Jagd nach Nina. Als Vampir jungen Blutes, wie die Diva ihm
vorwirft? Auch
der Revolutionär Komierowski wird mit einem Fischer verglichen, der
seine Netze
nach den Resten von Lebenskraft auslegt. (»Hier hast du die reichsten,
wenn
auch trübsten Wasser, Fischer!« S. 261). Fangen kann sich ein junger,
unverdorbener Lebensinstinkt nicht nur in den — ganz verschieden
auslegbaren —
Netzen dieser Fischer, sondern auch in dem Gespinst allgemeiner
Antriebsschwäche
und lastender Tradition: Dem “Spinnweb ekler Trägheit”, das der
Professor hier
zu sehen meint (S. 29), dem “Spinnennetz der Intrigen”, die den Oberst
umweben
(S. 65), oder im “Spinnennetz der Vergangenheit”, in dem jede
redlichere
Empfindsamkeit, umgeben von “trauten Familiensouvenirs”, geraten muß
(S. 247).
Verfänglich ist in den Wohnhöhlen der feinen Gesellschaft also vieles,
und auch
die Straße bringt nicht jene Befreiung und Zukunftsaussicht, die man
sich von
diesem Wechsel Salon — Straße, der ja mit dem symbolhaften Übergang von
der
Nacht zur Morgendämmerung einhergeht, erwartet hätte: Dort gerät man in
die
bedrückenden Armenviertel Warschaus, wird als Individuum von der
demonstrierenden
Masse erdrückt (der Professor, der im Gedränge nicht mehr Herr seiner
Schritte
ist!). Die Bewegung der Massen ist aber auch schon Ausdruck des
dionysischen
Prinzips: Dionysos als der Gott der Lebenskraft, von Dynamik und
Aktivität, ist
gerade in der Literatur der Jahrhundertwende beliebtes Thema. Die
mythologischen
Gestalten der Demeter/Ceres und Kora/ Persefone waren, etwa aus
Wyspiańskis
NOVEMBERNACHT (1904), in der übrigens auch die Metapher der Saat eine
große
Rolle spielt, schon vertraut.
Da
man nun in den realistischen Schilderungen des Salons und der “Straße”
keinen
Hoffnungsschimmer fand, interpretierte man nicht selten die
abschließende
mythologische Vision der Wiedergeburt als Sinngebung des gesamten
Romans, als
Berents “eigentliche Stimme”. Das Bild von Oberfläche und Untergrund
wird ja in
WINTERSAAT vielfach beschworen, wobei der “Untergrund” sowohl konkret
(als
Feld
konspirativer Umtriebe) wie auch im übertragenen Sinne verstanden
werden kann:
Als die unsichtbare Bewegung und Entwicklung dieses scheinbar so
hoffnungslosen,
trägen Lebens. Die Romantiker prägten das Bild der “Lava”, voll
“inneren
Feuers”. Bolesław Prus (1847-1912), der Positivist, verglich einmal
die erste
russische Revolution mit der berstenden Rinde eines jungen, wachsenden
Baumes
und meinte damit Ähnliches. Diese schillernden Übergänge von der
naturalistischen
zur symbolischen Beschreibung sind für Berents Sprache
charakteristisch. Wie
Ceres aus der Unterwelt, dem Hades, so steigen nun Komierowski und
Wanda aus
dem Untergrund auf — Frühling und Wiedergeburt verheißend. Dies aber
als
Enthüllung eines Gesamtsinnes der WINTERSAAT zu verstehen, hieße den
Krakauer
Professor zum Sprachrohr Berents zu machen (was oft getan wurde!).
Strenggenommen geschieht diese Interpretation der letzten Szenen aus
der Sicht
des Professors; sie ist eine Stimme von vielen. Wie Nina ihre
Erlebnisse in
einem Traum vom Hexensabbat verarbeitet, so wecken die
niederschmetternden
Eindrücke in dem Professor die Erinnerung an die — ihm von seiner
Bildung her
gewiß vertraute —antike Mythologie. Da aber das mythologische Motiv
schon
vorher anklingt (am deutlichsten in Lenas Erzählung von Woyda) und den
Roman
bis zu einem gewissen Grade strukturiert, ist es zwiefach vorhanden:
“Zerstreut” in der Vielstimmigkeit des Romans, ausformuliert in des
Professors
Gedanken. Daß Berent den Mythos bewußt subjektiviert hat, läßt sich
aus der
Tatsache ersehen, daß er drei Gedichte, in denen die Idee der
Wiedergeburt ganz
eindeutig beschworen wird und die er ursprünglich in den Roman hatte
integrieren wollen, getrennt veröffentlichte. Ihm, der am Mythos des
Nietzscheschen Übermenschen einmal kritisierte, für einen Übermenschen
denke
er zuviel über sich selbst nach, war die Paradoxie eines
“selbstbewußten” Mythos
zu deutlich, als daß er das vielstimmige Sinngewebe des Romans auf so
fragwürdige
Weise einstimmig gemacht hätte.
Beim
Erscheinen des Romans las man “Wiedergeburt” verständlicherweise als
nationale
Auferstehung, als Rückgewinnung des unabhängigen, polnischen Staates.
Wir
wissen aus Berents publizistischen Äußerungen, daß er mehr darunter
verstand,
daß er auch die Ursachen der allgemeinen “Instinktverkümmerung”, der
schleichenden Hoffnungslosigkeit nicht allein in der nationalen
Unterdrückung
sah. Bei einem Vergleich zwischen Goethe und Nietzsche spricht er von
der
»Wiederkehr des vollen Menschen, der einst mitten im Leben stand, es
mit Geist
und Willen beherrschte und meinetwegen Goethe oder Napoleon hieß, und
der
heute... in der Einsiedelei von Sils Maria vom Leben nur träumem kann«.
Den
Übermenschen interpretiert Berent als Ausdruck moderner Sehnsucht nach
einem
Vorbild voll ausgelebten, in all seinem Reichtum sich verwirklichenden
Menschentums. Solche “Renaissancemenschen” versuchte er später in
seinen
biographischen Skizzen der dreißiger Jahre zu zeigen.
Einiges deutet darauf hin, daß die Atmosphäre unserer Zeit die Rezeption dieses Romans begünstigt. Man muß nur das Abenteuer wagen, WINTERSAAT einmal nicht allein als exotisches Relikt polnischer Literaturgeschichte zu betrachten und sich auf Berents ausgeprägtes Stilwollen einzulassen. Denn dies ist kein Autor, der um einiger sprachlicher Absonderlichkeiten willen den Geist aufgäbe: Der barocke Reichtum dieser wuchernden Metaphern ist gestützt vom Skelett eines scharfen Intellekts. WINTERSAAT wurde als der bestkonstruierte Roman seiner Epoche gerühmt. Eine fadenscheinige Aktualität braucht man diesem Buch nicht anzudichten: Weder steht heute die “gemeinsame Seele” —oder frei nach C. G. Jung: die “nationale Kollektivpsyche” der Polen — ungebrochener da als um die letzte Jahrhundertwende, noch entbehrt die Zustandsbeschreibung des Romans der Gültigkeit selbst für uns Deutsche: Wie da alles bei der ersten Begegnung voreinander zurückschreckt, einen Schmollmund zeigt, sich aufplustert; wie unter der glänzenden Oberfläche ostentativen Lebensgenusses die tiefere Strömung unbewältigter Vergangenheit am Werke ist; wie die Erwartung eines großen, kommenden Ereignisses das Bewußtsein prägt — Wintersaat liegt auch bei uns im Boden. Man muß sich der Emphase dieses Buches öffnen: Wer trüge nicht die Sehnsucht nach einer Morgensonne in sich, die glühend und stark aus dunklen Bergen kommt?
Olaf Kühl