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Olaf Kühl

Dankesrede

zur Verleihung des Karl-Dedecius-Preises

am 3. Juni 2005 in Krakau

 

Sehr geehrte Damen und Herren,

hochverehrter Herr Prof. h.c. Dr. Karl Dedecius !

Liebe Dorota, lieber Andrzej !

 

Gern sage ich heute einige Worte zur literarischen Übersetzung, aber als Schüler Witold Gombrowiczs kann ich das nicht von der Theorie her. Wie bringt man Spezialisten aus der Fassung, also aus der Theorie? Gombrowicz empfiehlt einen Faustschlag oder Fußtritt mitten in die Person. Er nennt das "an der Person festmachen" oder "auf die Person zurückführen"[1].


Was also quält mich, den literarischen Übersetzer, als Person?

Es ist meine Zweitrangigkeit (übrigens auch ein zentraler Begriff von Gombrowicz, über den er schon in Ferdydurke schreibt).

 

Zunächst einmal ist die Übersetzung als Text zweitrangig in Bezug auf das Original. In dem Roman eines völlig unbekannten deutschen Autors klagt der Erzähler (ich zitiere):

 

"Nie spricht der Übersetzer ein eigenes Wort. Die Worte, die er zu Papier bringt, sind dünner als die wirk­lichen, sie sind nur ihre Ablei­tung (im mathemati­schen Sinne), ihre Pause (im Sinne des Durchschlagpa­piers). Sie sind blutleer und durch­schei­nend wie die Haut auf den Rinderknochen. Faszinierend ist aber, daß sie den richti­gen Worten täu­schend ähnlich sehen. Sie teilen sich ein und denselben Ort im Wörter­buch und werden von der gleichen Gramma­tik regiert. Aber die Worte des Übersetzers sind nie 'ge­sagt'. Ihnen fehlt die Wirklich­keit, die der Spre­chen­de seinen Worten mitgibt, wie die Gebä­rende dem Kind."

 

Ende des Zitats.

 

Auch wenn diese Klage etwas hysterisch anmutet, sie trifft doch einen wunden Punkt. Ist es nicht sogar so, daß die Übersetzung schneller altert als das Original? Weshalb verlangt Günter Grass eine Neuübersetzung seiner Blechtrommel ins Amerikanische, weil die Übersetzung angeblich veraltet sei? Weshalb ist die Blechtrommel selbst seit 1959 frisch und runzellos geblieben? Das sieht doch so aus, als wäre die Übersetzung quasi ein Klon des Originals, und würde deshalb genauso unnatürlich schnell altern, wie das Klonschaf Dolly, das schon im Lammesalter starb.

 

Der Zweitrangigeit der Übersetzung als Text findet ihre Entsprechung in der Abhängigkeit des Übersetzers vom Autor. In der Frankfurter Allgemeinen Zeitung war kürzlich eine Notiz über Ernst Jüngers französischen Übersetzer Henri Plard zu lesen. Der verdienstvolle Germanist hat Heliopolis und 20 andere Werke des Autors übertragen. Jünger selbst sagte in einem Interview: "Wenn ich die Übersetzungen lese, bekomme ich den Eindruck, daß ich ebenso viel verloren wie gewonnen habe. Das Französische ist in der Lage, einem Text mehr Klarheit zu vermitteln, das Deutsche zu mehr Tiefe fähig. Meine Bücher haben an Rationalität gewonnen. Ich lese mich, wie man einen neuen Autor liest. Trotz des Verlusts an Tiefe bleibt es ein Vergnügen: ich wußte gar nicht, daß ich so geistreich sein kann."[2]

 

          Bei Jüngers Buch Der Arbeiter verweigerte Henri Plard die Zusammenarbeit, denn er hielt dieses Buch für "schlecht geschrieben und faschistisch". Das sagte er Jünger, und damit ging eine langjährige enge Zusammenarbeit und Freundschaft zu Ende. Ein Problem? Plard und Jünger mögen eine Weile unter dieser Trennung gelitten haben. Die Weltliteratur ging darüber zur Tagesordnung. Jemand anders kam und übersetzte Den Arbeiter. Und als Henri Plard im vergangen Jahr starb, war das der französischen Presse keinen einzigen Nachruf wert.

 

          Je sichtbarer der Übersetzer wird, desto leichter täuscht er sich über die brutale Tatsache seiner Austauschbarkeit. Neben einem Literaturstar wie Andrzej Stasiuk auf einem Podium in Deutschland, vor einem gebannten Publikum aus blassen Intellektuellen, die in das von ihm geschaffene Kunstgebilde Mitteleuropa verliebt sind, und ebenso vielen jungen Frauen, die in Andrzej selbst verliebt sind, bekommt man soviel Scheinwerferlicht ab, daß man sich bald für beinah so bedeutsam hält wie den Autor. Und wenn der Beifall nach dem Vortrag der deutschen Übersetzung allzu stark wird, zischelt dir der Autor in gespielter Bosheit zu: "Meinen nächsten Roman schreibst du selbst."

 

Dorota Maslowska behandelt mich mit ähnlicher Nachsicht. Ihr zweites Buch "Die Reiherkönigin", eine Art verdorbener Slowacki à rebour, dürfte meine bisher größte Herausforderung werden. Noch gestattet sie es mir, mich mit ihrer Sprache zu vergnügen, mich in ihr zu verjüngen. Wer garantiert mir, daß sie mich nicht eines Tages verjagt, wie Ernst Jünger Henri Plard?

 

          Mich schmerzt das. Ich würde gern der einzige sein. Ich bin ein zu narzißtischer Charakter, um die Rolle des bescheidenen, fast unsichtbaren Mittlers zwischen den Kulturen auf mich zu nehmen. Polnische Literatur übersetze ich nicht aus abstrakter Menschenliebe, nicht einmal aus konkreter Liebe zu den Polen, sondern deshalb, weil es so ein großartiges Erlebnis ist, gute deutsche Literatur zu schreiben, selbst wenn sie nur der Klon polnischer Originale wäre. Was gibt es Schöneres als die Arbeit an dem frischen Translat, das noch nach Geburtswasser duftet? Die Übertragung selbst ist immer ein traumatischer, schmerzhafter Prozeß. Soviele Verbindungen reißen ab, soviel bleibt zurück auf der polnischen Seite. Erst im Deutschen beginnt für mich der kreative Prozeß.

 

So bin ich hin- und hergerissen zwischen dem Schaffensrausch und dem Glücksgefühl angesichts der sprachlichen und geistigen Schönheit, die mir im besten Falle aus der Feder fließt, und Anfällen des bitteren Bewußtseins, daß diese Schönheit nicht ganz meine ist.

 

In dieser Zerrissenheit, diesem manisch-depressiven Seelenzustand, ist die Verleihung des Karl-Dedecius-Preises so, als legte dir jemand die Hand auf die Schulter und sagte: "Immer mit der Ruhe, Junge. So schlimm ist es doch gar nicht. Jedenfalls hast du bis jetzt ganz gute Arbeit geleistet. Mach weiter so, ich jedenfalls ermuntere dich dazu." Und diese Hand ist nicht irgendeine Hand, sie kommt von ganz oben, vom Olymp der deutschen Literaturübersetzer und Nachdichter.

 

Als ich neulich mein persönliches Tagebuch auf der Suche nach Karl Dedecius durchblätterte, stieß ich unter anderem auf folgende Begegnung. Vor gut 20 Jahren, im Frühjahr 1985, lud Dedecius mich ins Hotel Excelsior in Berlin ein, um über mein Nachwort zu Waclaw Berents Wintersaat zu sprechen, das in der von ihm begründeten Polnischen Bibliothek erscheinen sollte. Es wurde ein langes Gespräch, in dem Dedecius dem Stil und dem Gedankengang eines fremden – d.h. meines – Textes so viel Aufmerksamkeit widmete, wie ich es nie erwartet hätte. Natürlich, er wollte in seiner angesehenen Serie keine verpfuschten Texte. Aber das erklärt nicht alles.

 

Ich empfand diese Aufmerksamkeit als ein Geschenk. Der Respekt, die Aufmerksamkeit für den Anderen, für jedes seiner Worte, für noch die geringste Nuance seiner Ausdrucksweise ist eine Einstellung, die fast religiöse Züge trägt. Sie bedeutet auch, den Anderen als Menschen anzuerkennen, ihn nicht zum Träger einer Meinung zu degradieren. Diese Achtung vor der Schrift läuft der Dominanz der bunten Bildchen völlig zuwider, sie stemmt sich gegen die wachsende Manipulierbarkeit der Menschen und gegen jene Kräfte, die die Menschen am liebsten als konsumierende Masse hätten, nicht als selbstbewußte Wesen, die ihr Schicksal in die eigene Hand nehmen.

 

Aus dieser umgekehrten Perspektive wird klar, daß die Auseinandersetzung mit dem fremden Text eine Aufgabe allerersten Ranges ist. Zweitrangig mag das Ergebnis sein, wenn der Übersetzer nicht auf der Höhe seines Autors ist, wenn er sich nicht mit ganzem Wesen und ganzer Kraft engagiert, wenn er nachlässig arbeitet. Wenn er den Anderen – den Autor - nicht ernstnimmt.

 

Karl Dedecius ist der lebende Beweis dafür, daß ein wirklich großer Übersetzer eben gerade unersetzlich ist. Und unersetzlich wird er nicht nur durch seine Arbeit, sondern fast noch mehr durch das, was ihn als Mensch ausmacht – mehr durch seine energeia, als sein energon. Seine Persönlichkeit, seine Individualität machen ihn zum ebenbürtigen Partner der Autoren. Nur so kann er auf gleicher Augenhöhe mit ihnen sprechen. Kann sie inspirieren, kann sie sogar lieben, nach Gombrowiczs Maxime, auf die ich abschließend kommen möchte: "wer den Wunsch hat, zu gefallen, wird leichter zum Menschsein kommen, als wer nur ein nützlicher Diener sein will."[3]

 

Am Tage dieser hohen Auszeichnung erlaube ich mir davon zu träumen, daß ich noch ein paar Stufen in Richtung der Höhe eines Karl Dedecius emporklettern darf. Und erlaube mir die Hoffnung, auch künftig Autoren solchen Ranges wie Andrzej Stasiuk und Dorota Maslowska zu gefallen.

 

Ich danke von ganzem Herzen der Robert-Bosch-Stiftung, ich danke der Jury, und ich danke Karl Dedecius.

 

Olaf Kühl



[1] "Also klärte ich sie auf, das geeignetste Gegenargument sei ein Schlag – Faustschlag oder Fußtritt mitten in die Person des Spezialisten. Und fügte hinzu, das heiße in meiner Terminologie 'Festmachen an der Person' oder 'Zurückführen auf die Person'... Auf jeden Fall bringt ihn das aus der Theorie." (Tagebuch, Hanser: München/Wien 1988, S. 665).

[2] Zit. nach Frankfurter Allgemeine Zeitung, 11.2.2005

[3] Tagebuch, S. 531.