War das der böse Mann, dessen Grenzer mich jahrelang drangsaliert hatten, wenn ich auf der Reise nach Polen durch sein Land hindurch musste? Er wirkte nicht gehetzt, im Gegenteil. Ich hatte fast den Eindruck, er wäre nach seiner Ausweisung aus Moskau froh, endlich wieder in den Händen verlässlicher, deutscher Behörden zu sein, bei denen alles seinen ordentlichen Gang geht. Von der russischen Regierung konnte er nur enttäuscht sein. Einzig und allein die Armee hatte zu ihm gehalten. Die Westgruppe der sowjetischen Streitkräfte hatten ihm Unterschlupf im Militärhospital Beelitz geboten, und der sowjetische Verteidigungsminister Dmitrij Jasow, der im Sommer 1991 gegen Gorbatschow putschen sollte, hatte auf dem Militärflugplatz Sperenberg ein Armeeflugzeug bereitgestellt, mit dem Honecker am 13. März 1991 nach Moskau ausgeflogen wurde. Kanzler Helmut Kohl wusste davon, unternahm aber nichts. Er verriet sich nur durch einen kleinen Versprecher: Kurz bevor die Maschine abhob, sprach er den Fraktionsvorsitzenden der SPD, Hans-Jochen Vogel, im Bundestag mit „Herr Kollege Honecker“ an.
So viele andere konnten ihr Fähnchen gar nicht schnell genug nach dem Wind hängen. Die DDR-Generalstaatsanwaltschaft, jahrzehntelang gefügiges Organ der Partei, bastelte eilig Vorwürfe wegen Amtsmissbrauch und Korruption gegen Honecker zusammen (weil es Westwaren zu Sonderpreisen in Wandlitz und Sonderjagdreviere gab, weil Familienangehörige in Dienstfahrzeugen chauffiert wurden). Später kam Hochverrat dazu. Die Abkehr der Wendehälse in seiner engeren Umgebung dürfte Honecker am tiefsten getroffen haben. Im Gespräch mit dem DDR-Innenminister bricht er in dem Moment in Tränen aus, als Diesel feststellt: „Niemand von Ihren ehemaligen Freunden steht noch zu Ihnen“.
Michail Gorbatschow gewährte Honecker kein politisches Asyl und hatte im August 1991 auch nicht mehr die politische Macht dazu. Die chilenische Regierung hatte nach langem innenpolitischem Streit dem Druck der Bundesregierung nachgegeben und ihn der Botschaftsresidenz verwiesen. Am selben Tag, an dem er in Tegel landete, hatte Honecker die Aufforderung mit dem Vermerk abgezeichnet: „Unter Protest zur Kenntnis genommen“, und mit erhobener rechter Faust, dem Rotfront-Gruß, die Fahrt zum Moskauer Flughafen Wnukowo angetreten.
Hilfreich erläuternd stand er jetzt im engen Gang der Maschine daneben, als die Berliner Kriminalbeamten sein Gepäck durchsuchten, so geduldig, wie wir Wessies jahrelang an der Grenze der DDR gestanden und gehorsam erläutert hatten, was sich da alles in unseren Taschen fand. Er wusste womöglich gar nicht, wonach die Beamten fahndeten, als sie seine Kleidung und ihn selbst millimetergenau untersuchten und sogar die Hutkrempe umbogen, um ihre Innenseite abzutasten. Sie suchten die Zyankali-Pille, mit der Honecker sich schnell hätte ins Jenseits befördern und einen Prozess vereiteln können."
Fündig wurden sie nicht.
Ich hatte den Auftrag herauszufinden, wie der ehemalige Staats- und Parteichef sich fühlte, und ob er während des Fluges von Moskau nach Berlin Anzeichen von Lebensmüdigkeit gezeigt, vielleicht sogar den Versuch eines Selbstmords unternommen habe. Die Besatzung war nicht gesprächig. So hielt ich mich an den Vertreter des russischen Außenministeriums, Herrn L., der den einzigen Passagier Honecker auf seinem Flug nach Berlin begleitete. Herr L. bestätigte: Erich Honecker sei ruhig und entspannt. Während des Fluges habe er kaum etwas gesagt. Aber während des Anfluges auf Berlin habe man sogar Bemerkungen über den Blick auf die Stadt ausgetauscht.
Wir hatten an diesem Tag im Juli 1992 lange auf den Anflug der russischen Sondermaschine gewartet: Ein Kriminalhauptkommissar, drei Kripobeamte in Zivil, und die Ärztin. Sommer lag in der Luft, Fliegen summten. Ein Fuchs trabte, die Nase auf dem Boden, seelenruhig über den Rasen des Flugfeldes. Der Pulk von Fernseh- und Pressejournalisten wartete am Hauptgebäude des Flughafens Tegel, viel zu weit entfernt von der Stelle, an dem die russische Tupolew 134-A-3 dann tatsächlich ausrollte – an der Lärmschutzhalle weiter westlich. Selbst die stärksten Teleobjektive lieferten nur grobkörnige Aufnahmen davon, wie Honecker vierzig Minuten später mit uns die Gangway hinabstieg. Die unten wartende schwarze Mercedes-Limousine brachte ihn in das Untersuchungsgefängnis des Landgerichts Moabit, wo der junge Antifaschist schon einmal vor 55 Jahren während seines Hochverratsprozesses vor dem nationalsozialistischen Volksgericht eingesessen hatte.
Der kleine weiße Mann, den jetzt viele offenbar für suizidgefährdet hielten, zeigte sich entspannt und gesprächig. Auch über seinen physischen Zustand äußerte er sich offen, so als wäre sein Körper etwas anderes als er selbst, als spreche er über Probleme bei der Planrealisierung in seiner sozialistischen Volkswirtschaft. Er klagte über den hohen systolischen Wert seines Blutdrucks, der ihn seit längerem beunruhige und den auch die Ärztin an Bord jetzt feststellte. Schon seit längerem leide er an Rhythmusstörungen. Gegen die Herzanfälle trug er Nitroglyzerinpräparate bei sich. Von seinem Krebs war nicht die Rede. Die 5 cm große Lebermetastase war in der Moskauer Botkin-Klinik diagnostiziert, im März aber wieder bestritten worden – möglicherweise, um seine Ausweisung leichter durchsetzen zu können. Es gehört zu Honeckers Schicksal, dass er am 6. Januar 1990 völlig unvorbereitet aus der „Aktuellen Kamera“ erfahren musste, dass er an Nierenkrebs litt. Das Schicksal war am Ende nicht gnädig zu ihm. Er trug auch die härtesten Schläge noch mit sarkastischem Humor. Als man ihm im Oktober 1992 erläuterte, dass die Leberfunktionswerte trotz der Krebsgeschwulst noch im Normbereich lagen, erwiderte Honecker: „Da wird der Krebs aber enttäuscht sein.“
Als er nun fast entkleidet vor mir stand, musste ich daran denken, wie seine Grenzer mir im Winter 1980, als ich von meiner Hochzeit in Stettin kam, am Übergang Friedrichstraße eine Goldmünze mit dem Bildnis eines polnischen Königs weggenommen hatten. Beteuerungen, es handle sich um ein Hochzeitsgeschenk, nicht um ein offizielles Zahlungsmittel, halfen nichts. Ich dachte an die Stunden, die ich im Souterrain des S-Bahnhofs Friedrichstraße hinter Gittern verbracht hatte, weil ich mir Karl Marx’ Kapital für schwarz getauschtes Geld gekauft hatte. Und an die beschlagnahmte Ausgabe der Vogue, die ich einer Freundin in Polen hatte mitbringen wollen. Das sind Kleinigkeiten, aber sie waren typisch für die Willkür und Schnüffelei an der Grenze der DDR. Natürlich hatte der kleine weiße Mann nicht alles wissen können. In einer Stellungnahme bezeichnete er es als „absurd, ein Staatsoberhaupt für einzelne Vorkommnisse an der Grenze persönlich verantwortlich zu machen“. Von jedem einzelnen an der Mauer Ermordeten wird er dennoch erfahren haben. Auch wenn er 1991 nichts mehr davon wissen wollte, hatte er 1974 laut Protokoll in einer Sitzung des Nationalen Verteidigungsrates gesagt: „nach wie vor muss bei Grenzdurchbruchsversuchen von der Schusswaffe rücksichtslos Gebrauch gemacht werden, und es sind die Genossen, die die Schusswaffe erfolgreich angewandt haben, zu belobigen“. Sein spätes Bedauern klingt halbherzig und ungeschickt: „Der unnatürliche Tod jedes Menschen in unserem Land hat uns immer bedrückt“ (aus der „Persönlichen Erklärung“ am 3. Dezember 1992 vor dem Kriminalgericht Moabit). Nur seine Krankheit hat ihn letztlich davor bewahrt, wegen Mordes und mehrfacher vorsätzlicher Körperverletzung verurteilt zu werden.
Mein Zorn über die unwürdige Behandlung an der Grenze war längst verraucht, als ich jetzt Erich Honecker so nah vor mir sah, des Schutzes jeder staatlichen Schale beraubt. Mich beeindruckte jetzt – und nur deshalb ist diese Geschichte erzählenswert - die gelassene Souveränität, die der Mann in dieser Situation an den Tag legte.
Einer der Kripobeamten fand in seiner Jackentasche eine Telefonnummer und fragte, was das sei. „Das ist die Nummer von Helmut Kohl“, antwortete Honecker. „Bei dem muss ich mich doch zurückmelden, wenn ich wieder hier bin.“
Sein Mund blieb ein feiner Strich. Dennoch schien er jetzt zu lächeln. Seine Augen blitzten. Ich musste feststellen, dass dieser Mann persönlichen Charme besaß. Da war nichts von dem hölzernen Funktionär, der elend langweilige Reden herunternäselte, jedes einzelne Wort betonte und doch ganze Silben verschluckte. Wenn jemand in Unterhose vor dir steht und immer noch Ausstrahlung hat, immer noch Haltung wahrt, ja witzeln kann, dann hat er immerhin Format. Und innerlich zollte ich ihm dafür Respekt. Ich hielt Honeckers Blick stand und war kurz davor, sein Lächeln zu erwidern. Aber als Rädchen im Getriebe einer Staatsaktion musste ich mich – dachte ich damals – davor hüten. Deshalb formte ich den Mund listig so ähnlich wie er und spiegelte ihm in fast geheimem Einverständnis das Lächeln zurück. Er mag es an meinen Augen abgelesen haben.
Lauter wurde er nur, als man ihm sein Portemonnaie wegnahm.
„Das ist nur vorübergehend, Sie bekommen alles wieder“, beschwichtigte der Beamte.
Aber der Verlust des Geldes schien ihn mehr zu ärgern als anderes.
„Mein Portemonnaie hat mir damals sogar die Gestapo gelassen“, sagte Honecker mit fester, fast schneidender Stimme und blickte uns der Reihe nach an. Man merkte plötzlich, dass er auch ganz anders konnte, als demütig und gehorsam dazustehen.
Der Vergleich zwischen Gestapo und der bundesdeutschen Polizei war natürlich eine Unverschämtheit. Auch als er am 29. Januar 1990 auf Weisung des DDR-Generalstaatsanwalts in die Krankenabteilung des Untersuchungsgefängnisses Rummelsburg eingeliefert wurde, sagte Honecker: „So schlimm sind nicht einmal die Faschisten mit mir umgegangen.“ In Rummelsburg nahm man ihm Hosengürtel und Schnürsenkel ab.
Diese Rhetorik war wirksam, sie nahm dem Gegner zunächst einmal die Luft aus den Segeln. Zugleich war sie mehr als bloße Rhetorik. Denn sie schlug einen historischen Bogen. Honeckers Leben war tatsächlich nicht auf Mauertote und Drangsalierung der eigenen Bevölkerung zu reduzieren. Er hatte in seiner Jugend gegen den Faschismus gekämpft, hatte Jahre dafür im Zuchthaus gesessen. Nur dass sein Kampf schon den Keim eines anderen Bösen, eines Totalitarismus umgekehrten Vorzeichens, in sich trug – des Stalinismus. Als junger Mann schrieb Honecker begeistert nach Hause: „Ich habe Stalin gesehen. Es war die größte Sache, die ich je erlebt habe.“ Und dass gerade die ehemaligen Opfer in ihrer unerschütterlichen Überzeugung, die Guten zu sein, manchmal das Böse fortpflanzen, dafür gibt es genug andere Beispiele in der Geschichte.
Honeckers tiefem Fall war eine dramatische Beschleunigung der Ereignisse vorausgegangen. Schon vor der Maueröffnung flohen DDR-Bürger in Scharen in die Botschaften in Prag und Warschau. Helmut Kohls Zehn-Punkte-Plan zu Deutschland ist es zu verdanken, dass die sowjetische Führung sich schon bald vor vollendete Tatsachen gestellt sah. Michail Gorbatschow ließ Außenminister Genscher seinen Ärger darüber in Moskau unverhohlen spüren. Intern jedoch fand man sich rasch mit der Entwicklung ab. Auf einer Besprechung im Moskauer ZK-Gebäude am 27. Januar 1990 stellte Gorbatschow fest: „Der Prozess bei uns und in Osteuropa ist ein objektiver Prozess. (...) Natürlich müssen wir die DDR gehen lassen. (...) Das wichtigste ist jetzt, den Prozess in die Länge zu ziehen“. Und am 10. Februar 1990 erklärte er dem überraschten Kanzler im Kreml: „Die Deutschen sollen selbst ihre Entscheidung treffen“. Am 12. Februar 1990 dolmetschte ich im Senatsgästehaus ein Gespräch zwischen dem sowjetischen Botschafter Kotschemassow und dem Regierenden Bürgermeister Momper. Kotschemassow überbrachte genau diese Nachricht: Gorbatschow ist mit der Wiedervereinigung einverstanden. Aus den Akten wird heute klar, dass die sowjetische Führung sich beim Prozess der deutschen Wiedervereinigung lieber auf Helmut Kohl als auf die SPD verlassen wollte, weil sie sich von ihm die Einbindung in europäische Strukturen erhoffte. Momper konnte das damals nicht wissen.
Der „objektive Prozess“, von dem Gorbatschow 1990 sprach, hatte 1980 in Polen, in Danzig, begonnen – als historisches Aufbegehren von Millionen einzelner, subjektiv freiheitsbegieriger Menschen, die sich nicht mehr von ihrer undemokratischen – und selbst fremdbestimmten – Regierung gängeln lassen wollten. „Objektiv“ hieß im hegelianischen Neusprech der Partei, von dem auch Gorbatschow als Zögling des alten Systems nicht frei war: Wir können den Prozess nicht mehr – so wie 1956 und 1970 - mit Panzergewalt niederwalzen, wir sind auch wirtschaftlich gar nicht mehr in der Lage, die Entwicklung aufzuhalten.
Wie sehr die Machthaber der DDR die Entwicklung in Polen und die Solidarność von Anfang an gefürchtet haben, zeigen die Akten der DDR-Staatssicherheit. Ich selbst musste Jahre später feststellen, dass ich allein aufgrund meiner Kontakte zu polnischen Wissenschaftlern als potentieller Feind der DDR galt und von der Hauptabteilung II geführt wurde, die zuständig war für „Aufdeckung und Abwehr geheimdienstlicher Angriffe gegen die DDR (‚Spionageabwehr’).“ Erhalten sind nur zwei Karteikarten, die Namen, Adressen und Telefonnummern meiner Freunde und Kontaktpersonen in Polen enthalten. Irgendjemand hatte geflissentlich notiert, dass ich mit Professor Andrzej Walicki, einer Autorität der russischen Geistesgeschichte, in Warschau korrespondierte. War es mein Postbote? Meine Freundin? Die polnische Post? Ein Bekannter Walickis in Warschau?
Die Akten, auf die die Ablagennummer A 4423 verweist, fehlen. Das ist typisch für die Unvollständigkeit der Unterlagen des MfS und das Zerrbild, das sie dadurch häufig vermitteln. Kein Wort findet sich zum Beispiel von meinen zahlreichen Treffen mit dem damaligen KGB-Residenten in Berlin-West, offiziell Korrespondent der Nachrichtenagentur TASS. Ich nutzte 1979 die Wissbegier meiner neuen Bekanntschaft fleißig, um meine Konversationsfähigkeit im Russischen zu verbessern und brach die Beziehung erst ab, als man Berichte über Kommilitonen und Professoren von mir erbat. Der große Bruder Sowjetunion scheint der kleinen DDR schon damals nicht recht getraut zu haben. All diese Informationen behielt er lieber für sich.
Ohne den Rückhalt des großen Bruders aber fiel das Gebilde „DDR“ in sich zusammen. Und ein Mann, der es vermutlich doch gut gemeint hat, fiel mit. Hassen konnte ich ihn nicht."
Den vollständigen Text von Olaf Kühl über Erich Honecker lesen Sie in dem Magazin P+ (im guten Bahnhofsbuchhandel. Bestellung und Abonnement auf www.polenplus.eu)