Laudatio auf Andrzej Stasiuk von Hauke Hückstädt

Lieber, verehrter Andrzej Stasiuk!
Sehr geehrte Damen und Herren!
Da es nicht Ihr Sitzfleisch, sondern ihre geistige Verfassung ist, die Sie heute hierher führt, lassen Sie mich alle langwierigen Begrüßungen auf den größten gemeinsamen Nenner heben, den es für diese Zusammenkunft, wie für jedes Zusammentreffen überhaupt, geben kann:


Liebe Leser!
Hoch geehrte Stasiuk-Leser insbesondere!
Eine einzige Zeile des amerikanischen Lyrikers John Ashbery ermutigt mich, von einem Podium aus zu Ihnen über Andrzej Stasiuk zu sprechen. Die Zeile lautet: „Ich kann nicht auf der Kante einer Plattform denken.“
Daher habe ich diese Rede aufgeschrieben. Und so etwas geschieht immer in dem verzweifelten Bemühen, dem Autor, den man da bewundert, einmal ein Handtuch, ein Wasser oder irgendwas in dieser Richtung zurückreichen zu können. Die Bürgermeister Thorns und Göttingens haben mich nun aber leichtsinniger Weise dazu ermächtigt, mich vor Ihnen einem Idol zu nähern. Und da will das Mindeste gesagt sein! Und ein Schwärmer macht noch keinen Rhetoriker. Und eine Laudatio auf einen Autor ist keine Liebeserklärung, sondern immer eine kleine Rede an die Welt. Denn im Gegensatz zur Gurke, die zu über 90 Prozent aus Wasser besteht, setzt sich ein Autor zu hundert Prozent aus dem zusammen, was er, was insbesondere seine Bücher erfassen. Erst recht, wenn der Gegenstand der Entzückung in Leinen gebunden ist und den Titel „Die Welt hinter Dukla“ trägt (im Original lediglich Dukla). Erst recht, wenn der Urheber dieser Entzückung Andrzej Stasiuk heißt.
Worauf Sie sich verlassen können, was Sie aber auch reinreißen kann, das sind Kumpels. In Stasiuks Büchern gibt es viele Kumpels. Und man selbst hat ja auch welche, also Kumpels – vielleicht weniger trinkfest, aber Gefährten. Einer von ihnen sei hier erwähnt, weil mit ihm etwas beginnt, und weil wir nie vergessen sollten, dass sich unser Zugriff auf Kultur immer einer vermittelnden Instanz verdankt. Auch unserem Begegnen mit einem Autor geht immer etwas voraus: ein anderer Autor, der ihn zuvor gelesen hat, ein Verlag, der ihn gedruckt hat, ein Übersetzer, der ihn in eine uns vertraute Sprache übertragen hat, ein Rezensent, der das kritisch geprüft hat, Ihre Freundin, die diese Kritik hat aufmerken lassen. Und so weiter.
Der Autor und Literaturen-Redakteur Jan Bürger – es war in einer Leipziger Straßenbahn im Frühjahr 2000 und die Literaturen waren da noch mehr ein Großprojekt aus Geraune und Getuschel als alles andere, Jan Bürger war es, der mich auf Andrzej Stasiuk brachte, der mir empfahl, unbedingt „Dukla“ lesen zu müssen.
Verlockend schien mir seine mehrmalige, wohl Enttäuschung vorbeugende Warnung, es handele sich dabei jedoch um ein Werk, dass bar jeder Handlung sei.
Auf das Buch Dukla finden sich viele Hymnen. Thomas Steinfeld artikulierte damals in der F.A.Z. sogar eine neue Kartographie. Er schrieb: „Mit einem einzigen, wunderbar leichten Wurf hat die Literatur eine neue Hauptstadt erhalten: Es ist Dukla.“ – Ich selbst war damals, also vor wenig mehr als zwei Jahren, nicht minder bescheiden und nannte den Autor dieser Prosa in der anderen Frankfurter Zeitung einen recording angel. Dass ich Dukla zum frühest möglichen Zeitpunkt lesen durfte, hat es schwerer gemacht für andere Bücher, für andere Autoren.
„Vielleicht“, so sagte einmal der Pionier des poetischen Alltagsrealismus Edward Hopper, „bin ich nicht sehr menschlich. Mein Anliegen bestand darin, Sonnenlicht auf einer Hauswand zu malen.“ Und tatsächlich, man könnte meinen, Hopper hat zeitlebens nichts anderes getan, als Licht auf irgendeine Vertikale knallen oder, das Gegenteil davon, triefen zu lassen. Dem Personal seiner Öl-Polaroids – alles so Hitchcock Vertigo-Ikonen – kommen zwar nie nur Statistenrollen zu, aber über Action verfügen sie auch nicht. Sie sind Hoppers Medium, matt flimmernde Glühbirnen, durch die er sein Licht fließen lässt, um ihm eine menschliche Fassung zu geben.
„Das einzige, was zu beschreiben sich lohnt“, schreibt auch der Autor von Dukla, „ist das Licht, seine Abarten und seine Ewigkeit.“ „Die Welt“, so will Stasiuk voraussetzen, „ist nur eine vorübergehende Störung im freien Fluss des Lichts.“ Und da seine Beschreibung, diese eine einzige Ode auf Dukla, die sich nur aus Bescheidenheit in den luftigen Kittel der Prosa geschwungen hat, da Die Welt hinter Dukla im Dunkeln anhebt, soll sie auch keine Handlung haben. Solange die Wirklichkeit keinen Widerstand leistet, seien alle Geschichten, alle Folgen, all die alten Ehen von Ursache und Wirkung jeder Bedeutung beraubt, schreibt Stasiuk.
Dukla ist ein Nest, kein Dorf. Der Erzähler sucht diesen Ort immer und immer wieder auf, zu allen Zeiten und auf verschiedenste Art und Weise.
Literatur macht den Menschen nicht besser, nur komplexer - was von Vorteil sein kann. Selten verändert das Lesen von Büchern unsere Physiognomie. Obschon ich oft denke, dass das Lesen von und Schauen durch Dukla das günstigste nicht-drogistische Mittel zur legalen Pupillenerweiterung ist. Das Weiße im Auge des Betrachters gleicht, wenn wir Stasiuk lesen, einer rot-geäderten Karte von der in Auflösung und Zersplitterung begriffenen Existenz der Alten Welt.
Dukla, das sind Prosa-Parts, hagere, muskelüberspannte Torsi von einer solchen Beobachtungskraft behauen, dass sie ohne die Behelfsgliedmaßen der Plotdramaturgie auskommen. Wir bekommen es hierbei mit unnachgiebigen Ansätzen über die Bedrohung von Nichtexistenz zu tun, voller Lichttricks und graphischer Wunden auf der Netzhaut des Dukla-Betrachters. Allein die Anfänge, mit denen Stasiuk größere Absätze beginnt, müssten über ihre Vokale und Konsonanten hinaus ein Geräusch wie das Ritsch-Ratsch einer Spiegelreflex zum nächsten Belichtungsabschnitt machen. Etwa: „Im Wörterbuch bedeutet ‚Dukla’ – kleiner Schacht zur Erkundung.“ Oder: „Und wieder bin ich hier.“ Oder, um auf die alles umschlingende Liebe in diesem Buch in ihrer irdischen Tragweite zu kommen: „Bald darauf fuhr sie ab.
„Jedesmal“, schreibt unser Autor (und jedes Mal wenn ich dies sage, meine ich damit auch Olaf Kühl, dem mit diesem Deutsch, das er hier gefunden hat, der allergrößte Dank und die erheblichste Hochachtung gilt), „jedes Mal“, schreibt also Stasiuk durch Kühl, „jedes Mal, wenn ich nach Dukla komme, ist etwas los. Kürzlich war es das frostige Dezemberlicht bei Sonnenuntergang.“ – Wie könnten Absätze schöner, resoluter beginnen?
Andrzej Stasiuk beschreibt in diesem Buch Gegenstände, Orte und Lebewesen, weil sie das Licht brechen, weil sie dem Licht in diesen Brechungen eine Form verleihen. Und dieses Faible für Oberflächen scheint er mit der Malerei Edward Hoppers zu teilen. Es ist das Buch eines Chronisten. Es ist, als wandele Edward Hopper mit einer Spiegelreflexkamera durch Dukla und schösse, fassungslos über die sich ihm offenbarende „Ouvertüre zum leeren Raum“, nachgedunkelte, körnige, reibeisenscharfe Fotos.
Kurzum: wenn ich vorhin bereits andeutete, dass dieses Buch ein guter Religionsersatz ist nicht nur für Atheisten, dann deshalb, weil es uns vermittelt, dass nur auf die Dinge, dass nur auf die Wahrnehmung der Dinge wirklich Verlass sein kann. Und wir haben selten etwas besseres zu lesen bekommen über Schatten, wie er über einen Marktplatz kriecht, über Regen, Hitze, Florfliegen, Störche – was immer Sie wollen. Das homogene Mitteleuropa, in dem wir längst in Abschieden auf Raten leben, dieses Mitteleuropa ist durch diese wundersame Prosa aufgehoben wie in einer allem, was da kommen mag, trotzenden Arche Noah.
Die deutsche, wie ich glaube, auch durchweg hymnische Rezeption von Stasiuk beginnt daher vielleicht doch wenig überraschend erst mit Dukla. Obschon zuvor Stasiuks Roman Der weiße Rabe erschienen war. Im Weißen Raben stapfen fünf Jugendfreunde statt in einen abenteuerhaften Karpatenausflug in ein Requiem aus Schnee, in dem Blut zurückbleibt. Schon mit diesem Buch, das 1998 noch im Rowohlt Berlin Verlag erschien (mit seiner Lektorin Katharina Raabe wanderte Stasiuk später zu Suhrkamp), schon mit dem Raben, in dem die Ödnis als Sinnbild begriffen werden durfte für den Untergang einer utopie-behafteten Epoche, schon mit dem Raben erschien Stasiuk für den deutschen Sprachraum in einer Liga mit gerade so stark auftretenden Autoren wie dem Russen Viktor Pelewin, dem Franzosen Michel Houellebecq, dem Tschechen Yachim Topol oder dem US-Amerikaner Tristan Egolf. Dukla aber hat ihn, Andrzej Stasiuk, weit von diesen entfernt. – Und vielleicht kommt das nicht von ungefähr, dass wir dieses Buch im Jahr 2000 geschenkt bekamen. Dukla ist ein guter Schlussstein für das Zwanzigste Jahrhundert und ein verlässlicher Grund- wie Prüfstein für die Literatur der kommenden 100 Jahre.
Seit diesem Erscheinen im Herbst 2000 ist Andrzej Stasiuk auf zahlreichen Lesereisen in der Bundesrepublik unterwegs. Und der große Erfolg sowohl im Feuilleton als auch bei einer wachsenden Leserschaft, den er im deutschen Sprachraum hat, macht es möglich wie auch notwendig, dass der Suhrkamp-Verlag (der polnischen Literatur seit langem ein reger Hort) Stasiuks Bücher in selten schneller Folge veröffentlicht. Immerhin wird es notwendig, dass noch eine Übersetzerin an Stasiuks Seite hinzutritt.
Renate Schmidgall übersetzt Stasiuks Gedichte etwa für die Literaturzeitschrift Akzente, dann den mystisch dunklen Roman Neun (es ist ganz einfach sein neuntes Buch) sowie die Galizischen Geschichten. Während Olaf Kühl die ironische Autobiografie Wie ich Schriftsteller wurde ins Deutsche überträgt und gerade die Arbeit an Stasiuks erstem Buch Die Mauern von Hebron abschließen kann.
Die Jury des Samuel-Bogumil-Linde-Preises erklärte Andrzej Stasiuk zum diesjährigen Preisträger vor allem für sein „schon früh erkennbar hochaufgeladenes wie vielseitiges literarisches Werk.“ Und wenn wir Dukla lesen, wissen wir, was dieses Hoch-aufgeladen-sein bedeutet. Und ich habe versucht, davon zu sprechen. Die gemeinte Vielseitigkeit aber ist eine Sache nicht der Aufzählung, indem wir sagen: Stasiuk schreibt Gedichte, Reisereportagen, Drehbücher, Romane, eine Autobiografie und mit Dukla eine neue Gattung unfehlbarer Wahrnehmungsprosa. Stasiuks Vielseitigkeit ist erschreckender. Es ist eine Vielseitigkeit der Tiefe. Sie hat nichts von Breitensport.
Das Dreieck, in dem man aus Bewunderung für die Arten solcher ‚Tiefigkeit’ (ein Begriff Hölderlins) schier versinken kann, lässt sich am ehesten mit drei Büchern abstecken. Immer wieder Dukla, dann die ironische Autobiographie sowie Die Mauern von Hebron. Im Original erschienen diese Bücher innerhalb von sechs Jahren, zwischen 1992 und 1998.
Schon der Untertitel zu seiner Autobiografie Wie ich Schriftsteller wurde, er lautet: „Versuch einer intellektuellen Biographie“, macht die Ironie deutlich, mit der der Autor Stasiuk sich selbst zu begegnen in der Lage ist.
Als ich ihn einmal darauf anspreche, dass man nach der Lektüre seiner Autobiographie den Eindruck hat, dass er sein Dasein als Schriftsteller nicht allzu ernst nimmt, sagte er mir: „Ja, das liegt daran, dass ich meine Existenz sehr ernst nehme. Und deswegen kann ich es mir leisten, mein Literaten-Dasein leichter zu nehmen.“ Und er fügte dem noch hinzu: „Ich nehme es durchaus ernst, Schriftsteller zu sein. Aber ich bin kein typischer deutscher seriöser Autor und übrigens auch kein typisch polnischer.“
Das ist er gewiss nicht. Die Autobiographie macht ihn in Polen zunächst bekannt unter Freaks, Außenseitern und Musikkennern. Er erhält sogar einen Preis für Popkultur. Beschrieben wird in dem Buch, das Stasiuk in nur drei Wochen herunterschreibt, ein Leben in den siebziger und achtziger Jahren im kommunistischen Polen. In einer Sprache, der Kritiker nun Eigenschaften wie „Speed“ und „Drive“ zuschreiben, berichtet Stasiuk über seine Jugend und Militärzeit, die gnadenlose Monotonie des Kasernenalltags, der er aus purer Langeweile nach seinem zweiten Ausgang durch Desertion entflieht. Wofür er im Militärgefängnis landet und anderthalb Jahre Haft absitzt. Als er endlich entlassen wird, feiert man ihn wie einen Helden: Er ist ein gefragter Mann, als Trinkkumpan wie als Beischläfer.
Vor dem Hintergrund solch biografischer Fakten ist die Autobiographie vielmehr aber noch ein lakonischer Angriff auf den Solidarnosz-Mythos und die polnische Märtyrologie. Das Buch ist ein lächelnder, fast bösartig gelungener Versuch über das kommunistische Polen, das ihn geprägt hat.
Es wimmelt darin von Freunden und Bohemiens, Alkoholikern, Strafgefangenen, Selbstmördern, öffentlichen Verkehrsmitteln und diletantischem Self-made-Rock sowie litaneihafter Aufzählungen von einstigen Lebensmittelpreisen.
„Eine einzige Unverschämtheit“ eigentlich, diese Autobiographie, wie Stasiuk selbst sagt. Denn das System, das er hier adelt, in dem er uns mit Anekdoten bis zur Schmerzhaftigkeit lächeln macht, war eine „hervorragende Gesellschaftsordnung für Künstler und solche Leute, die am Rande der Gesellschaft lebten.“ Für die, die Kinder hatten und durchkommen mussten, war es hingegen ein hoffnungslos destruktives System. Für die Rücksichtslosigkeit mit der er für dieses eine Buch diese andere Wirklichkeit unterbelichtet hat zugunsten eines ironiedurchtränkten Wandgemäldes seiner Jugend, dürfen wir ihn einmal mehr vielseitig nennen. Ein recording angel, der sich moralisch nicht instrumentalisieren lässt.
Nur schmale 180 Seiten im Jahre 1992, Die Mauern von Hebron. Das ist Stasiuks Debüt. Er selbst ist da 32 Jahre alt.
Ich danke dem Übersetzer Olaf Kühl und Andrzej Stasiuks Lektorin Katharina Raabe. für das Privileg, dieses allererste seiner Bücher, schon jetzt, da es noch nicht einmal in den Satz gegangen ist, gelesen haben zu dürfen. Es wird wohl im kommenden Frühjahr erscheinen. Und all diejenigen, die von Der weiße Rabe beeindruckt, von Dukla überwältigt, von Neun und den Galizischen Geschichten bestätigt, von der Autobiographie aber leicht irritiert waren, all diejenigen müssen ihr Auffassen von unserem Autor erweitern. Erst mit den Mauern von Hebron wird die ganze ‚Tiefigkeit’ seines bisherigen Werkes erkennbar.
Wenn es für dieses Buch irgendeinen Vergleich geben kann, dann den, mit einer Kunst, Gegenwart zu bannen, wie es die Höhlenmalerei und später, ausgeformter, das Deckenfresko vermochte. Höhlenmalerei wie Fresko erzählen uns von unseren Vorfahren, von dem, was ihnen widerfuhr, was sie beschäftigte, von ihren Werten und von dem, was sie für erinnerungswürdig hielten.
Die Mauern von Hebron ist eine Erzählungssammlung aus dem Gefängnisalltag. Nirgendwo sonst, als im Knast, ist die Entscheidung über ‚im Leben bleiben’ oder ‚aus dem Leben gehen’ unfreier. In zehn ersten Prosastücken, jedes von ihnen wie ein Säulenfresko, werden die Szenen des Gefängnisalltags beschrieben: kollektives Onanieren, Arschficken, Selbstverstümmelung, Teesud für die Phantasie, Boxkämpfe, Prügelkolonnen, Sadismus unter der Dusche.
Insgesamt ist das eine ziemlich hirnzerkochende Ouvertüre, die uns verunsichert in ihrer sprachlichen Schönheit aus Lakonik und poetischer Abschweifung.
Aber auf die Ouvertüre folgt die Tragödie. Und auf die Säulenfresken das Panorama mit all seinen Ausstülpungen.

Stilistisch sind beide Teile voneinander unterschieden. In den kurzen Prosastücken vorweg, scheint die Identität von Autor und dem, der da erzählt beinahe identisch zu sein. Hingegen das, was ich Panorama nennen möchte, der weitaus größere Teil des Buches, erlebte Rede ist. Jemand spricht. Stasiuk hat dessen Reden scheinbar ‚nur’ aufgeschrieben.
Doch dieses ungeheuere Vorhöllenfresko wird, darauf ist Verlass, diejenigen verstören, die sich mit der Lektüre von Dukla eine naturreligiös motivierte Genussnische erschlossen zu haben glauben.
Für diejenigen jedoch, für die Ästhetik nach wie vor vor Ethik kommt, ist diese pausenlose Rede des Häftlings von barbarisch schöner Vitalität, die nichts auslässt, womit wir, bislang, hoffentlich, wenig Berühren hatten: Analverkehr mit einer Gefängnispsychologin, der Missbrauch eines rosigen, im übrigen ganz vergnügt grunzenden Schweins, die Vergewaltigung der eigenen Mutter, die Vergewaltigung einer Katze, das Massakrieren von Mithäftlingen. Dazu Niederträchtigkeit, Raub, Lüge. – Ein Banditen-Fresko, mehr in die Oberfläche menschlicher Existenz geätzt als in pastellfarbenen Schichten aufgetragen.
Stasiuks Übersetzer Olaf Kühl begegnet der Fassungslosigkeit, mit der zu rechnen sein wird, wie folgt. Er schrieb: „Wie könnte man den Ort der Mauern von Hebron in Stasiuks Werk beschreiben? – Man hat das Gefühl, in einem solch schön eingerichteten Haus, in dem man zwar manches grobe Wort gewohnt war, aber auch durch Zartheit und Lyrik entschädigt wurde, habe man plötzlich eine Tür geöffnet, die in den Keller hinabführt, wo etwas Schreckliches, etwas nie Erwartetes lauert. In diesem Keller ist das andere, ohne welches der überschwängliche Rausch von Landschaft und Licht in Dukla womöglich falsch und fade wäre.“
Die polnische Literatur ist stark und groß und dunkel; aber nicht ironiefrei. Wir dürfen uns glücklich schätzen, dass wir ihr wenigstens geografisch so nahe liegen. Und um diese Stärke weiß der Samuel-Bogumil-Linde-Preis, wenn er seinen Hort einer exzellenten Gemeinde aus Autoren wie Wis?awa Szymborska, Zbigniew Herbert und Ryszard Kapu?ci?ski heute erweitert – und im übrigen ja auch verjüngt.
Als ich bei Andrzej Stasiuk einmal Gewissheit darüber suchte, warum diese polnische Literatur so gut ist, fragte ich ihn, ob er mir zustimmen würde, dass mit dem existenziellen Druck auch die poetische Dichte der geschriebenen Literatur zunimmt? Er sagte mir und Olaf Kühl darauf:
„Ja, ganz bestimmt. Wenn wir uns darauf einigen, dass Druck nicht nur vom Kommunismus ausgeht, sondern vielmehr von jedem Gesellschaftssystem wie von der Existenz auf dieser Welt überhaupt.“
Und auf die ihm eigene Weise schob er noch hinterher:
„Die Grundlage der Literatur ist die Unzufriedenheit, das ist schon klar. Wenn man zufrieden ist, braucht man nicht zu schreiben: Man liest oder trinkt Bier.“
Die Unzufriedenheit Andrzej Stasiuks scheint beneidenswert, wenn sie solche Bücher hervorbringt.
Für heute sollte er aber zufrieden sein. Meinerseits ist da nur Dank, Hochachtung, Bewunderung.