KONSUM ESSEN SEELE AUF

Satellitenaufnahme des Planeten Erde. Europa aus der Vogelperspektive. Schneller Zoom auf Polen, Sinkflug auf den Flughafen Okęcie. Warschau ein prickelndes Lichtermeer, ein rotierender Moloch. Das Stadtviertel żoliborz. Plattenbauten an der ulica Broniewskiego. Das Teleobjektiv schiebt sich an ein Fenster im achten Stock heran, lugt in das kleinere der zwei Zimmer einer Wohnung vom Typ M3. Auf den ersten Blick ist nichts Besonderes zu erkennen. Das Arbeitszimmer, PC und Bildschirm. Neben der Tür ein Schrank. Erst das Infrarotlicht dringt in das Dunkel oben auf diesem Schrank ein, ganz hinten in die Ecke, und holt eine zusammengekauerte, bekleidete Kunststoffpuppe ans Licht.

Paweł Althamer Dorota Masłowska Puppe
Foto © Paweł Dunin-Wąsowicz


Die Puppe hat einen gebrochenen Schädel.
Nur der Skalp hält die Bruchstücke zusammen.
Der Wein ist das Blut Christi, das Brot ist sein Leib.
Die Puppe ist Dorota Masłowska.

Ihr Kopf ist wie ein geöffnetes Gefäß, das alles aufnimmt, was in der Luft liegt. Die bösen Gedanken, die unanständigen Wörter, die man nicht aussprechen darf. Alles strömt hinein, und Dorota Masłowska schreibt es auf.
"Eigentlich isst du Scheiße, aber der Teller, der ist so schön bunt" (aus: Die Reiherkönigin. Ein Rap, Verlag Kiepenheuer & Witsch 2007)

Auch der Protest der Achtundsechziger in der Bundesrepublik richtete sich zuerst gegen den greifbaren  „Konsumterror“. Die ersten Brandanschläge galten den Konsumtempeln der Kaufhäuser. Sattheit war Synonym für gesellschaftliche Erstarrung. Das gilt übrigens unabhängig von der politischen Richtung. "Werdet nie satt, sondern bleibt Revolutionäre!", lautet ein Befehl in den Zwölf Geboten für die deutschen Verwaltungsbeamten in den besetzten Ostgebieten (geheime Kommandosache vom 6. Juni 1941). Gudrun Ensslin, Tochter eines evangelischen Pfarrers, schrieb: "Na warte, die Kostüme der Müdigkeit – wie ich sie satt, wie ich sie gefressen habe... – die raunenden Pastoren, Pfadfinder, Tantchen, fressenden Weiber, Jüngelchen, uralte, von Schminke erstickte, wesenlose Wesen – wie ich das satt habe: Hunger!"

Auch für Dorota Masłowska ist das Essen der zentrale körperliche Ausdruck der neuen Ordnung: "Das Wichtigste bei alldem ist, dass wir essen [...] alles ist gleichermaßen tastbar, alles ist gleichermaßen essbar, alles darf man anschubsen und umkippen, alles in etwas anderes verwandeln." (Masłowska, Aufs Fressen dressiert).
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Es tagt. Ich stehe im Arbeitszimmer des Verlegers Paweł Dunin-Wąsowicz. Die Puppe ist ein Werk des polnischen Künstlers Paweł Althamer, ein Porträt von Dorota Masłowska. Dunin streichelt ihr über den gebrochenen Kopf. Die Helligkeit macht uns ein bisschen protestantischer. Von Voodoo kann keine Rede mehr sein. "Das lässt sich wieder kleben, keine Angst," wiederholt Dunin mehrmals beschwörend, und ich versuche, ihm zu glauben.


Der vollständige Text von Olaf Kühl war zu lesen in dem Magazin Polenplus, Heft 2 / 2007 (leider vergriffen; Abonnement auf www.polenplus.eu)
"Konsum essen Seele auf. Werdet nie satt! ",
Magazin  Polenplus Nr. 2 / 2007 (April 2007), S. 86 - 89.