PANDRJOSCHKA
Krystyna Kurczab-Redlich
Verlag W.A.B. (Warschau) 2008

Auszüge in deutscher Übersetzung von Olaf Kühl


S. 7

Einleitung
Die Begegnung mit Russland ist ein großes Erlebnis.
Zuerst – Begeisterung. Die märchenhaften Gestalten und Farben der Kirchenkuppeln; die bezaubernde Weichheit der russischen Aussprache; die Romantik der Lieder; die Perfektion der Schauspieler und Filmregisseure; die Menschenmengen in den Theatern; die Herzlichkeit der Mitmenschen; die betäubende Buntheit der Folklore in Moskaus Einkaufsstraße Stary Arbat, wo man sich nur schwer von der hinreißenden Koloristik der für Russland typischen Puppen – der Matrjoschkas - lösen kann: in einer bunten Puppe steckt eine identische kleinere, in dieser noch eine, und so weiter bis zur allerkleinsten...
Dann – die Ernüchterung. Der bittere Geschmack des russischen Alltags: die schroffe Herzlosigkeit der Beamten, die Grausamkeit der Behörden, die abweisende Aura, die nicht nur mit dem Klima zusammenhängt, die Andersartigkeit der Menschen.
Und schließlich – die Kapitulation. Die Verständnislosigkeit. Was ich sehe und erfahre, verlangt nach einer Erklärung. Eine Antwort auf das hartnäckige: Warum? Warum entfernt sich mit der Zeit, was anfangs so nah schien? Warum verblasst der Glanz der Kuppeln angesichts der Allgegenwart des Leidens, und warum gibt es hier so viel von diesem Leid? Und warum wird es von den Leidenden nicht hinterfragt? Warum lehnen sie sich nicht auf?
Unter den schönen Farben der Matrjoschka sieht man Unglück, Angst, Entsetzen, jedes neue Teil des bemalten Spielzeugs ist ein neues Drama. Die Matrjoschka ist nach der Öffnung wie die Büchse der Pandora, ein Hybridwesen von Gut und Böse: die PANDRJOSCHKA.


S. 10
Die grundlegende Einsicht, die ich gewonnen habe, besteht in der Weisung an den eigenen Verstand: Vergleiche nichts Russisches mit irgend etwas Anderem. Denn keine russische psychische oder materielle Kategorie hat irgendwo eine Entsprechung.
NICHTS VON HIER ÄHNELT DEM GLEICHEN IRGENDWO ANDERS.

S. 12

Ich bin unabhängige Journalistin, d.h. niemandem liegt daran, mich zu bezahlen. Ich bin also frei, auch frei, für mich selbst zu zahlen. Also miete ich eine Wohnung für „normales“ Geld, unter normalen Menschen.
In dem Haus, in dem ich wohne, trägt das Treppenhaus Spuren einer schönen Vergangenheit, ganz offensichtlich ist es „aus gutem Hause“. Die Treppe weist am Eingang noch Reste von steinernen Zierrahmen auf, der Fahrstuhl ist mit Stahlornamenten geschmückt... Welcher zivilisatorische Erdrutsch hat dazu geführt, dass einem heute der Staub der seit Jahren ungewaschenen Steine im Halse stecken bleibt, riesige Urinpfützen in die Wände sickern, die diese Wände wie eine Säule zu stützen scheinen, und die Scheiben vom Grau jahrelangen Schmutzes gepanzert sind? Das Fensterbrett dagegen ist eine Landkarte von angetrocknetem Wodka und Bier, denn es dient den hiesigen Trinkern, Obdachlosen und Rauschgiftsüchtigen als Tischplatte.
Als ich hier einzog, rief ich der Reihe nach alle Abteilungen des „Oddelenije Blagoustrojstwa“ an und bekam überall die Information, dass das Treppenhaus gepflegt, geputzt und zwei Mal im Monat aufgewischt werde, also solle ich mich nicht so aufregen. Und für den kaputten Fahrstuhl seien nicht sie zuständig... Natürlich kann ich beweisen, wenn ich ein Tribunal für schmutzige Treppenhäuser finde, dass die Treppe zwar gefegt, aber seit Jahren nicht aufgewischt worden ist... Ist eine Treppe, die mit einem schmutzigen feuchten Lappen gewischt wird, gewaschen oder nicht? Die Putzfrau behauptet, dass ihre Tätigkeit in Bezug auf die Treppe als Aufwischen zu definieren sei. Ich beharre darauf, dass die Mittel den Zweck heiligen, besonders die Mittel der „Sauberkeit“. Und sie darauf, so lange sie lebe (und das tut sie offenbar schon lange), wische sie die Treppe auf die oben genannte Art und sie seien gewaschen. Na gut, sage ich darauf, gewaschen sind sie, aber dreckig bleiben sie trotzdem.
Angeblich hat eine Putzfrau in Picunda immer wieder den schmutzigen Fußboden gebohnert.
Und die Renovierungsfachleute streichen die Wände, ohne zuerst den alten Putz herunterzureißen.
Das Ziel ist nämlich – so wie früher – nicht die erwünschte Wirkung, sondern die Erfüllung des Plans.
Aufgabe der neuen Machthaber war die Einführung einer demokratischen Ordnung, also wurde sie eingeführt. Genau auf die Art, wie die Treppe in meinem Haus aufgewischt wird. Die durchgeführte Aktivität bekam diesen Namen.
Doch die Treppe bleibt schmutzig.

S. 38
Da war ein Platz. Groß wie ein Fußballplatz... Vom Hotel Moskau bis zur Manege – ein großartiger Platz für Demonstrationen und Kundgebungen, mehrere Tausend Unzufriedene würden dort Platz finden. Und das fast unter den Augen des Kreml!
Plötzlich Lärm, Dröhnen, Wasser marsch – das Bauzeitalter begann – die Bebauung des Manegen-Platzes. Richtig: wozu den Kreml mit dem Volkszorn belästigen? Wenn der Kreml sich seinen Zorn organisieren will, lädt er ihn auf den Roten Platz ein und stellt ihn unter den richtigen Transparenten auf.
Den Manegen-Platz aber übergeben wir den Braven. Und Reichen.
Nach wenigen Jahren floss wieder – so wie vor Jahrhunderten – die Neglinka über den Platz, an ihren Ufern bekränzt von Tieren, Jungfrauen und Zwergen aus Stein; plätscherten Brunnen in Form von riesigen Pferdemäulern, und in der Mitte wuchs eine große vergoldete Glaskuppel empor – eigentlich eine Sonnenuhr, deren Schatten man zwischen den auf dem Glas ausgebreiteten Kontinenten einfangen muss.
Am Abend trinkt hier die Jugend in Ruhe ihr Bier (Wodka ist unmodern) und führt die prikidy vor, die neuesten Klamotten... Wo kann man sie kaufen? Na, zum Beispiel hier unter der Kuppel, dem Dach eines Einkaufszentrums, das sich unterirdisch auf drei Etagen erstreckt. Das Zentrum heißt „Ochotnyj Rjad“.
Boutiquen: Valentino, Ermenegildo Zegna, Trussardi, Sonia Rykiel, Jitrois, Calvin Klein und Tom Klaim (Russe). Zu beiden Seiten der breiten Unterführung Gold, Kristall, Säulen. O je, was hat mich hierher verschlagen, für meinesgleichen müsste hier eine Warnung hängen: Eintritt verboten, Vorsicht bissiger Hund, Kommen Sie im nächsten Leben wieder, mit tausend Dollar für Sandwiches... Zu spät, schon bin ich hier, richte den bedrückten Blick auf die Bluse-Leder-Jacke für 1.500 Dollar. Ei, verloren ist mein Leben, nie mehr, ech... Dior, Donna Karan, Cesare Paciotti, Ausverkauf 80%. Aber dort! Eine Menschenansammlung, sie kaufen oder gucken, schwer zu sagen…
Ja, genau, wie fühlen sie sich hier eigentlich?
„Na wie schon, normal“, antworte eine Dame mittleren Alters, mittel vermögend angezogen, mit einem eben solchen Herrn an der Seite und einer erwachsenen Tochter.
„Heute ist frei, da sind wir zum Gucken gekommen. Wir sind das erste Mal hier...“
„Und das letzte,“ wirft der Herr ein.
Jetzt blickte ich mich aufmerksamer um und begriff, dass ich eher an einem Ausflugsziel als in einem Laden war. Worüber hatte ich mich so geärgert?!
Hier kommt man wie in ein Museum, nur dass viel lustiger ist, und man braucht keine Pantoffeln anzuziehen.
Wir schauen nach unten – da sehen wir die Springbrunnen, drei Grazien, schön!
Und mit dem gläsernen Fahrstuhl kann man auf und ab fahren, umsonst.
Und über die Marmortreppen gehen... Wieder ein Lädchen, die Preise sogar in Rubel, nicht in konv. Einheiten ( = Dollar), eine klitzekleine Bluse – 800 Rubel, die offizielle Vergütung eines Arztes mit 30-jähriger Berufspraxis – 1.300 Rubel. Ein dummer Vergleich, wozu braucht der Arzt eine Bluse?
Da kommen Touristen, sie wirken schüchtern, schauen sich um, mit bedepperten Mienen, unterhalten sich auf Englisch, verstehen sie vielleicht etwas nicht? Ah, sie möchten etwas Russisches! Was für ein schematisches Denken! Nur weil es am Kreml ist, soll es Pelze und russische Hemden geben? Donna Karan wollen sie nicht, dann sollen sie sich eine Matrjoschka kaufen!
So groß, wie sie im Leben noch keine gesehen haben, eine Muttergottes mit Jesuskind auf dem Arm, 17.500 Rubel, ungefähr 700 Dollar, und was für eine Freude, in der großen Muttergottes steckt eine kleinere Muttergottes, und so weiter, wie bei der Matrjoschka. Bis vor kurzem gingen Matrjoschkas mit Breschnew oder Stalin gut, doch die weltweite Nachfrage nach sowjetischem Barbarentum hat offenbar nachgelassen. Es ist an der Zeit, die gute Kunde von der Bekehrung der russischen Wilden in die Welt zu tragen.

Die echte Matrjoschka von heute ist oben ein fideles russisches Weib mit leicht schiefem Lächeln, unten aber – die Büchse der Pandora, das schiere Unglück. Je länger ich sie betrachte, desto trauriger wirkt sie auf mich, und leidender, aber doch immer mit einem Lächeln, so ist nun mal die russische, fidele, unselige Matrjoschka. Eine Matrjoschka – Pandrjoschka...

S. 45
„Normal“.
Die Organismen der Russen sind wirklich aus einem haltbarerem Stoff, den für die übrigen Menschheit geltenden Gesetze nicht unterworfen.
„Normal!“ Ein Wieselwort, vermutlich vom amerikanischen „Okay“ übernommen. Eine wunderbare Tarn-Formulierung:
„Wie fühlst du dich? Normal.“
„Wie sehe ich aus? Normal.“
„Wie war’s in der Arbeit? Normal.“
Normal bedeutet oft das genaue Gegenteil, das aber nicht ausgesprochen werden darf: Fatal, albtraumhaft, schlecht. Der Russe beißt sich lieber in den Ellbogen, als zuzugeben, dass er einen Kater oder Depressionen hat, erschöpft und hungrig ist und sich schlecht fühlt... Das Ausgesprochene „wird Fleisch“. Das Verschwiegene – existiert nicht.
Es gilt als unerzogen, zu meckern und zu klagen.
„Du bist bestohlen worden? Na ja, vergiss es. Im Grunde ist nichts passiert. Schließlich haben sie dich nicht überfallen. Du lebst doch noch.“
„Überfallen? Das wird schon wieder. Hauptsache, die Familie ist gesund...“
Probleme und Dramen mit Ausmaßen, die in einer anderer Wirklichkeit schwer vorstellbar wären, haben ein Gen von Generation zu Generation immer stärker werden lassen: das Überlebens-Gen.
„Denn wirklich – solange du lebst und deine Angehörigen gesund sind, mach dir keine Sorgen.“
Es ist normal.

S. 70
Güte und Herzlichkeit sind nicht nur Charaktereigenschaften. Für die Russen sind es die höchsten moralischen Kategorien. Ein Gedenkabend an den großartigen Komödianten Jurij Nikulin – einen Menschen, bei dessen bloßem Erscheinen auf Bühne und Leinwand alles erstrahlte. Die Versammelten – Kollegen und Zuschauer – sprachen jedoch fast einhellig davon, was für sie am wichtigsten war: die Güte, die dieser Mensch ausgestrahlt hat.
Sie schämen sich nicht, Gefühle zu zeigen. Sie nehmen sich nicht zusammen. Lieber helfen sie, als Hilfe abzulehnen.
Die russische Seele – eine in ihrer Art einzige Erfahrung für den Ausländer.
Ihr das Böse einzupflanzen – fast ein Ding der Unmöglichkeit. Und dennoch...
Das ist Russland. Dort ist es anders.

S. 75-76
Sacharows Todestag. Die Fernsehberichte vor neun Jahren, auf denen unermessliche Menschenmengen in einer Dutzende Kilometer langen Schlange defilieren... Eine ganze Stadt, die sich im rieselnden Schnee langsam auf den Sarg des bescheidenen Menschen zu bewegen, der unermüdlich gekämpft hat. Sie tragen Blätter, Pappstücke, Brettchen mit der Aufschrift: „Andrej Dmitrowitsch, verzeih uns...“
Da ist sie, die russische Seele... Jener Teil von ihr, der so wütend macht, dass man nur hilflos die Schultern zuckt: „Verzeih“ – an einem Sarg vorbeidefilieren, das können sie, aber mit der gleichen geschlossenen Menge, und ebenso freiwillig, aus eigenem Antrieb demonstrieren gehen, das bringen sie nicht fertig. Wenn diese Tausende auf Plätze und Straßen gegangen wären, als Sacharow gegen die sowjetischen Atomversuche protestierte, gegen die blutige Niederschlagung der Unruhen in Tbilissi oder Sumgait, die Lager für politische Häftlinge, die Truppen in Afghanistan, dann hätte der Präsident der Russischen Akademie der Wissenschaften es doch nicht gewagt, Sacharow einen Irren zu nennen, die siebzig Professoren hätten diese schändliche Denunzierung des Kollegen nicht unterzeichnet, und er wäre nicht in seiner Stadt Gorki unter Hausarrest gestellt worden... Die Reihen zu schließen, um zu handeln – das geht nicht. Sich zusammenschließen, um zu weinen, zu bereuen, den Sarg um Verzeihung zu bitten, das schon.
Und in der Küche Wodka zu trinken, vermischt mit Tränen.
Das seit Jahrhunderten währende geduldige Warten auf das „Gute“, das gegeben wird. Das von oben geregelt wird. Und wenn es nicht dazu kommt, verwandelt sich die Geduld in Leidensfähigkeit. Märtyrertum. Keine Spur Rebellion. Kein Fünkchen davon.
Das größte „Defizit“ des russischen Volkes ist das fehlende gesellschaftliche Bewusstsein. Keine Spur von dem, was die Polen in Poznań, Radom, Lublin, Kielce, Szczecin und Gdańsk mobilisiert hat. Was die Ungarn im Jahre sechsundfünfzig und die Tschechen im Jahre achtundsechzig zum Aufstand getrieben hat.. Und sogar die disziplinierten Deutschen im Jahre dreiundfünfzig. Kann der in den siebziger Jahren blutig niedergeschlagene Demonstrationszug in Nowotscherkassk als Feigenblatt russischer Demut dienen?
Zorn ist Schrei. Kummer ist Weinen. Auf die Obrigkeit zornig sein – davor hat man Angst. Sich selbst zu zürnen – ist schwer. Aber Selbstmitleid haben, ist einfach. Die Oktoberrevolution ist kein Gegenbeispiel, denn sie war von oben organisiert und mit  deutscher Präzision geplant.
Gemeint ist hier ein Aufstand, bei dem zuerst das Volk kommt, dann der Führer.
Nicht umgekehrt.
Sogar der russische Terrorismus war der Kampf einer Handvoll Intellektueller gegen den Absolutismus – das Volk schwieg dazu. Das Volk, für das der Widerstand kein Recht war, sondern ein Verbrechen. Das Volk, dessen Solidarität nicht durch Steppen, Gebirge und Meere durchdringt. Doch ohne Solidarität gibt es keinen schöpferischen Aufstand. So wird sich dieses Volk – in Stücke geteilt – in den Konvulsionen des Unheils winden, das ihm der nächste Machthaber spendiert. Der russische Verfallsprozess wird entweder damit enden, dass Russland sich endlich ein anständiges Oberhaupt wählt, oder aber damit, dass dieser Moloch auseinander bricht. Ob Ersteres noch rechtzeitig vor dem Letzteren geschehen wird?
 
S. 78
Großrussland!
Groß – in der verfälschten Geschichtsdeutung, in Imagination und Unwissenheit. Tolstoj! Dostojewski! Tschechow! Puschkin! Tschaikowski!...
Und Goethe, Schiller, Mozart, Bach, Beethoven... Wie klein im Vergleich zu Russland ist Deutschland, und – was für ein Vergleich! – Österreich! Kopernikus oder Chopin will ich bescheidenerweise gar nicht erwähnen...
Der Deutsche Georg, der in Moskau Theaterwissenschaft studiert, sagt:
„Mir würde nie in den Sinn kommen zu sagen – ich bin stolz, ein Deutscher zu sein. Ich wohne in München in einem Viertel, in dem viele Ausländer leben und niemand von ihnen sagt, er sei stolz, weil er Italiener oder Franzose ist... Ist der Geburtsort ein Grund stolz zu sein? Etwas Besonders zu sein?“

Was ist Patriotismus?
Ist es bedingungslose Liebe zum Vaterland, egal wie es sei?
Wie geht man mit einem Patriotismus um, der einem „bösen“ Vaterland und „bösen“ Menschen gilt? Ist der Patriotismus übertragbar? Von jenen Jahren auf diese, von diesen Helden auf jene? Ein 38-jähriger Major sagt: „Ich habe meinen Eid auf die Sowjetunion geleistet. Verpflichtet er mich auch heute, in einer Wirklichkeit, die ich nicht akzeptiere?“
Ist der Patriotismus ein Kettenhund, der – wie an die Hütte – an die geografische Zone gebunden ist, in der wir geboren wurden? Oder ist er eine Sammlung von historischen Axiomen, die uns von Kind auf eingebläut wurden und die der Überprüfung in verschiedenen Bibliotheken der Welt nun nicht mehr standhalten? Oder ist er vielleicht ein Gift, das die Herrscher uns seit Jahrhunderten ins Ohr tröpfeln, weil sie es als Schutzschirm brauchen, weil sie außer diesem Slogan nichts zu bieten haben?
Patriotismus – das sind Gefühle.

Und wie steht es mit der historischen Wahrheit? Wie passen darin die ukrainischen, litauischen, finnischen, tschechischen, deutschen, polnischen und russischen Argumente zueinander?
Wenn wir den Patriotismus anderer nicht achten, in wessen Namen tun wir das? Im Namen der historischen Wahrheit oder der Würde unseres Landes? Ganz zu schweigen von seinen Interessen.
Fast die ganze Welt sitzt heute an den gleichen Computern, verständigt sich mit Hilfe des Internets, fährt ähnliche Autos, reist in wenigen Stunden von einem Ende der Welt ans andere, aber es reicht der Ruf: Verteidige dein Vaterland! und schon fällt das ganze internationale Puzzle zusammen...

Und das alles durch dieses Gemenge von Emotionen?
Aus historischer Sicht ist das womöglich gar kein Problem. In hundert Jahren werden sich Menschen und Dinge so miteinander vermischt haben, dass die Ehre nur noch eine Sache des Individuums sein wird, nicht mehr des bunten Kleckses auf dem Globus, der an seiner verworrenen Geschichte zu tragen hat...
Und der Patriotismus wird verdunsten wie ein zu lange aufbewahrtes Parfüm. Plötzlich ist der geöffnete Flacon leer. Aber dieser Duft! Dieser Duft!

S. 88 – 90
Die Könige der Metro-Station Wladykino sind die Hunde. Nebenan im Botanischen Garten, an dem See, der märchenhaft wäre, wenn man ihn nur einmal reinigen würde, liegen sie in der Sonne – die Hunde. So schön, so malerisch dahin gebettet, dass sich bestimmt der Herrgott selbst diese Komposition in seiner Freizeit ausgedacht haben muss. Und sie ist ihm gelungen, im Gegensatz zu Werken größeren Formats.
Fröhliche, satte, nicht aggressive Hunde. „Meine“ Metro-Station ist auch ein Reich der Hunde. Es ist immer dasselbe Rudel, mit dem selben Leithund, seinem Harem und dem  ständigen Invaliden: einer hinkenden Hündin. Die Hunde lächeln – ich gebe mein Wort darauf – besonders im Winter. Im Winter wärmen sie sich an dem Eingang zur Metro auf, oder wenn der Frost besonders unangenehm wird – zwischen den Doppeltüren aus Glas.
Eines Abends im Winter umringten sie mich alle und richteten ihre fragenden Blicke auf mich. Ich hatte nichts zu Essen dabei, und es gelang mir, ihnen das einigermaßen zu erklären. Würdig wandten sie sich ab und wedelten verächtlich mit den Schwänzen. Sofort kaufte ich Hackfleisch, lief nach Hause, um es aufzutauen. Ich kochte Grütze, vermischte sie mit dem Fleisch und rannte zurück. Sie ließen sich nicht zu dem Festmahl herab!
„Hören Sie, eben hat hier ein Junge sie mit Brühwürsten gefüttert“, informierte mich die Zeitungsverkäuferin.
„Die Menschen sind besser geworden, glaube ich,“ sagt der Maler David, Liebhaber von Katzen und Pferden. „Früher hat niemand die herrenlosen Tiere beachtet. In unserer Gegend war ich wohl der einzige, der sie gefüttert hat. Jetzt sehe ich immer mal wieder aufgestellte Futterschüsseln...“
Das Reich der Katzen sind die Geschäfte. Da thronen sie lässig zwischen dem Gemüse in der Auslage, strecken sich auf Stoffballen. Im Werksverkauf der großen Stofffabrik Triochgorka ließ ich einmal den Blick von einem Regal zum anderen wandern. Seide – 20 Rubel der Meter, Baumwolle – 15 Rubel, Perkal – 10 Rubel, Barsik – 50 Rubel! Der graue Barsik, hingefläzt in einer Pose, als wäre ihm die ganze Welt egal, schlief seelenruhig.
Ich kaufte einen halben Meter Barsik.
Die Ladenkatzen werfen Junge, die Verkäuferinnen stellen sie in Pappkartons an die Eingangstüren, und die Kunden gehen manchmal mit einem Laib Brot und einem flauschigen Knäuel nach Hause. In einem Luxusgeschäft in der Nähe Duma lässt der Herr Kater, selbstverständlich auch Barsik, das Glöckchen an seinem schönen Halsband klingeln. Auf der Twerskaja-Straße hat ein findiger Bettler seinem schwarz-weißen Kater einen Hut und Behälter fürs Kleingeld appliziert. Ich wollte schon Mitleid mit der Katze entwickeln, doch sie paradierte absolut zufrieden und im Vollgefühl der Würde ihrer Tätigkeit auf und ab. Mich würde nicht wundern, wenn der Besitzer eine Villa besäße...
Es war Januar. Vor „meiner“ Bäckerei steht eine Schlange. Alle recken die Köpfe hoch. Dort oben hat sich ein weißes Kätzchen zwischen Dach und Rinne verfangen.
Die Menge debattiert, wie sie zu befreien wäre. Der Typ auf dem Dach bekommt Ratschläge von unten. Er hört aufmerksam zu. Er schwankt leicht, was ihm das Zuhören sicherlich erschwert. Die Hilfeleistung verlangt akrobatische Fähigkeiten. Der Schwankende ist ein Akrobat. Er legt sich aufs Dach, hakt den Fuß hinter einen Vorsprung und greift nach dem Tier.
Eine ältere, arme Frau nimmt das Kätzchen unter den Mantel und füttert es mit dem für andere Tiere zubereiteten Fleisch... Sie spricht etwas im Reim. Es klingt schön.
„Verzeihung, haben Sie etwas gesagt?“
„Das ist Jessenin,“ erklärt der Schwankende, der inzwischen vom Dach herunter ist. Und er spricht das Gedicht weiter, das die Frau begonnen hat...

In einer privaten Tierklinik, in der die Visite umgerechnet vier Dollar kostet (während der Durchschnittsverdienst in Moskau im Jahre 1999 wenig mehr als sechzig Dollar betrug), ist es immer voll, obwohl die Klinik ganztägig geöffnet hat. An der Decke ein Fernsehgerät und Filme über die Vierbeiner, in den Vitrinen Medikamente von Schering oder Bayer, nebenan ein Laden mit allem, was Tiere brauchen (darunter sehr viel Importware aus Polen).
Natürlich überwiegen hier die Wohlhabenden, aber im Wartesaal sind auch einige bescheiden gekleidete Menschen zu sehen, die nicht die Geduld haben, bei den Tierärzten in den staatlichen Kliniken Schlange zu stehen. Und ich sehe viele armselige alte Weiblein und Väterchen auf den Basaren, wo Whiskas, Kite-Kat und so etwas wie Pedigree viel teurer sind als im Laden.

Ein später Herbstabend. Ein Luxusjeep Cherokee fährt vor der Tierklinik vor. Selbstverständlich – wie in Russland üblich – mit Fahrer (aus der russischen Traumdeutung: einen Fahrer haben = jemand sein). Eine junge Frau in einem schönem, teuren Pelz steigt aus. Gepflegte Frisur. Verweinte Augen. Sie drückt eine weiße Ratte an sich.

Auf der Treppe in der Metro hält eine elegante Frau ein Äffchen auf dem Arm. Das Äffchen hat ein Hemd und Lederhosen an. Es schmiegt sich an die Frau. Die Frau ist ganz verliebt in das Äffchen...

S. 152
„Personen kaukasischer Nationalität“ können provozieren, unbestreitbar. Die Georgier haben die Tankstellen in Moskau unter ihre Kontrolle gebracht, auf den Basaren herrscht die aserbaidschanische Mafia, im Immobiliengeschäft fühlt sich auch die tschetschenische Mafia zu Hause. Die Tadschiken sind im Drogengeschäft führend. Aber wäre ihnen das ohne die Unterstützung der „Weißen“ gelungen? Steckt nicht viel kaukasisches Geld in den dicken russischen Portemonnaies?
Einmal kam es, dass bei einem ungleichen, von einem „Weißen“ angefangenen Kampf auf einem der Basare ein Aseri getötet wurde. Seine Landsleute zogen in einem Protestmarsch über eine der Hauptverkehrsadern Moskaus – die Allee des Komsomol – und blockierten sie für Stunden.
„Das geht jetzt aber zu weit, was erlauben die sich denn!“ empörte sich die goldhaarige Wera Iwanowna, und mit ihr gewiss auch all die Moskauer, für die die Leiche eines unschuldig getöteten „Schwarzarsches“ ein Nichts ist, völlig unwichtig, viel unwichtiger als die eigene Person.
Wera Iwanownas Angst vor der Obrigkeit verlangt nicht nach Befreiung durch Rebellion. Wera Iwanowna weiß nicht einmal, wie groß ihre Angst ist. Und wenn sie es sich einmal klarmacht, weiß sie nicht, was sie mit ihrer Angst anfangen soll. Ihre Angst verlangt also nur nach der Mitangst des Nachbarn. Nach Verständnis. Dem Gefühl des Ellbogens... Der Nachbar soll sich genauso fürchten. Aber ihre Erniedrigung durch die Angst, die ewige Frustration, verlangt nach einem Ventil; sie verwandelt sich in Aggression. Sie sucht nach Rache. Rache an den Schwächeren. Wehrlosen. An Menschen, die noch weniger Rechte besitzen als sie und ihr Nachbar.
Ein kleines, schwärzliches, lärmendes, von fremdem Gefühl zusammen geschweißtes Volk (ob es nun die Georgier, Abchasen, Tadschiken, Osmanen, Aseris oder Tschetschenen sind) eignet sich hervorragend dafür.

S. 154
Die Gemeinsamkeit der Angst verleiht Wera Iwanowna, ihrem Nachbarn und dem Rest gleichsam das Gefühl nationaler Solidarität. Eine Unschuldsgarantie. Ein Alibi. „Die anderen“ werden immer Schuld haben, in diesem historischen Abschnitt mögen es die „Schwarzärsche“ sein. Die mit ihren wilden Sitten, der kehligen Aussprache, dem seltsamen Ausdruck der dunklen Augen... Schuld muss bestraft werden. Sollen sie Angst haben. Zu dem „Blutbad“ in Tschetschenien (der Krieg von 1994 bis 1996) haben die Russen geschwiegen.

S. 202
Blutige Leiber kullern uns vom Fernsehbildschirm auf den Teller. Den Tod konsumieren wir mit dem Abendbrot. Wir wollen das nicht. Aber wir finden uns damit ab. Es wird geradezu absurd. Wir fühlen uns hilflos. Wir sind der Geschichte ausgeliefert und glauben – um die Absurdität zu rechtfertigen – an die Slogans, nehmen sie für bare Münze. Abend für Abend geben wir unser Gehirn in die Fernsehwäsche. Sauber bekommen wir es wieder und schlafen rasch ein.
Wir meckern nicht. Doch wir gestatten uns auch die Illusion nicht, wir könnten mit der Option für eine der Parteien und gegen die andere zu der sauberen und transparenten Pflicht beitragen, die Welt zu erlösen.
***
Ich komme in das Reich des Todes. Zerwühlte Felder.
„Das sind Schützengräben. Und dies Laufgräben,“ sagt Salman.
Ich kann einen Schützengraben nicht von einem Laufgraben unterscheiden. Ich unterscheide zwischen Leben und Tod.
Ein getöteter Wald. Die Baumwipfel abgeschnitten wie mit der Guillotine. Von einer Rakete umgebrachte Bäume. Ich weiß, wie ein normaler Baum aussieht. Ein Baum im Winter, der so angenehm ist wie dieser, im leichten Schnee, in der lauen Luft... Oder ein Baum im Sommer, wenn sein Laub üppig sprießt. Ich weiß, wie ein Baum aussieht.
Ich weiß nicht, wie eine Rakete aussieht.
Ich weiß nicht, wie das Töten von Bäumen aussieht.
Das Flussbett, gequollen von der Krankheit der Erde, die gleichsam von innen her zerrissen ist, aufgestaut von einer sehr alten Bombe; gestorben mit dem Wasser, das hier nicht mehr fließt, und mit den Bäumen, deren nackte Wurzeln ein Fragezeichen zum Himmel senden.
Hier der Bombentrichter.
Dort die Minen.

S. 207
„Dort, auf dem Minutka-Platz, war im August alles voller Leichen,“ sagt Salman aus Grozny. „Russischen Leichen. Ganze Panzer voller verbrannter Leichen. Sie standen dort in der Sonnenhitze. Auch nicht verbrannte Leichen lagen dort. Sie wurden von den Hunden zerfleischt. Unsere Frauen beweinten sie. Dann haben wir sie begraben...“
Mitte August 1996 begannen Verhandlungen zwischen dem Befehlshaber der „tschetschenischen Aufstandskräfte“, Aslan Maschadow, und dem Sekretär des russischen Sicherheitsrates Alexander Lebedjew, über die „Regulierung der Krise in Tschetschenien“. Die föderalen Truppen schickten sich zum Rückzug an. Ihr Kommandant, General Pulkowski, gab zur Vereinfachung der Evakuierung den Befehl, die gefallenen Soldaten zu verbrennen. Panzerfahrzeuge und Schützenpanzer verwandelten sich in Scheiterhaufen.

Vor mir ein Junge, vielleicht elf Jahre alt. Er liegt regungslos da. Daneben das aus der Hüfte gerissene Bein. Mauerbrocken. Blut im Schnee. Plötzlich bewegt sich der Kopf von links nach rechts, von rechts nach links. Ein Stöhnen. Noch eine Bewegung. Dann erstarrt der Kopf.
Ich spule das Bild zurück. Der Junge bewegt wieder den Kopf. Aber ich kann das Bild zurückspulen und zurückspulen, das Bein kehrt nicht in die Hüfte zurück, und der Junge steht nicht wieder auf. Der sterbende Junge hat ein helles Gesicht, rötliche Haare. Es ist ein Russe.
 
S. 211
„Den Russen erging es schlimmer als uns“, sagt Mahomed aus Grozny.
„Fast jeder Tschetschene aus Grozny hatte seine Familie auf dem Land. Er wusste, wohin er fliehen konnte. Und die, die nicht flohen, konnten wenigstens auf Lebensmittel von den Angehörigen rechnen. Die Russen nicht. Im Winter neunzehnhundertfünfundneunzig waren sie es vor allem, die starben. Sie hockten wochenlang in den Kellern, in den Trümmern der Häuser, in denen sie gewohnt hatten. Wer irgendwo hin fliehen konnte, der tat es. Die andere litten zusammen mit uns.“
 
S. 221
Was ist das für eine Kraft, die ganze Völker wie eine Windhose empor reißt und ihnen dort hoch oben Flügel verleiht? Den Ungarn, Tschechen, Polen, Kurden, Basken oder Tschetschenen?
Die Ehre.
Was ist das für eine Kraft, die Völker in die Erstarrung treibt, ihnen den Sauerstoff raubt und sie mit nur einer Lunge atmen, mit einem Auge sehen, an Krücken gehen lässt?
Die Erniedrigung.
Die mit Füßen getretene Ehre eines Volkes ist eine kollektive Plage.
Was sagen Menschen, die mit heißem Schwert aus dem Gedränge heraustreten?
Sie sagen: „Reicht euch das Zeichen der Ehre.“

S. 254
„Ich hatte nichts mehr. Das Haus verbrannt, Mutter, Frau und Kinder begraben. Es war so: Erst trugen sie die Vorräte aus dem Keller, dann übergossen sie das Haus mit Benzin. Die Wasserfässer haben sie mit Schüssen durchlöchert. Meine Frau, Schwester, Tochter und Sohn versteckten sich beim Nachbarn im Keller.
Ich grub bei meinem Bruder ein Grab für meine Mutter und seine Frau, die einen Tag zuvor getötet worden waren. Die waren nicht normal, diese Soldaten, sogar ihr Gebrüll war unmenschlich, nicht wie von Betrunkenen, viel schlimmer. Sie hatten glanzlose, weiße Augen... Später fand ich bei mir auf dem Hof Spritzen, sie setzten sich Spritzen, andere fanden auch solche Spritzen. In ganz Samaschki fand man solche Spritzen. Aber nach Wodka stanken sie auch.
Einer stürzte sich auf die Frau meines Bruders, Azman hieß sie, und... Meine Mutter warf sich auf die Knie und flehte, die Schwiegertochter in Ruhe zu lassen. Er richtete seine Maschinenpistole auf sie und gab einen ganzen Feuerstoß auf sie ab. Und mit Azman machte er, was er wollte, und erschoss sie dann auch.
Ich ging nach Hause. Ich sah, wie einer eine Zeitung anzündete und sie in den Flur warf, auf das Benzin.
Sie saßen auf Panzerwagen, aßen das Kompott, das meine Frau gemacht hatte, sie spuckten Sonnenblumenschalen aus, und mein Haus brannte.

S. 257
Das Gespräch mit ihnen verläuft zäh. Und wie viel Mühe es gekostet hat, sie zu finden, zu ihnen zu fahren... Die Vororte von Grozny, Samaschki, Schaly... Das Betteln um ein Auto, die Straßen in der Dunkelheit.
Man muss ihnen die Erzählungen entreißen, muss ihnen tausend Fragen stellen... Stacheldraht hat sich in ihr Gedächtnis gebohrt; nur mühsam setzen die Erinnerungen die vor Schmerz stehen gebliebene Sanduhr wieder in Gang.
Am schwierigsten war es in Samaschki.

S. 258

Ich habe genug.
Was suche ich hier überhaupt?! Schließlich hat die ganze Welt die Brandruinen von Samaschki und die frischen Gräber schon gesehen, vielleicht sogar Tränen, denn damals haben die Frauen vielleicht noch geweint. Jetzt – so sagen sie – sind ihre Tränen vertrocknet. Ich gehöre nicht zu denen, die hinrennen, um einen Verkehrsunfall zu sehen. Was hat mich zu dieser abgelegenen Kreuzung auf dem Globus getrieben?
Ein weiterer historischer Unfall? Oder das Gefühl, ihnen allen, den Ungebildeten, Vorlauten, etwas Wilden und so Unglücklichen über den Kopf streichen zu müssen? Ich bin keine Gesandte des Herrgotts.
Ich reise wie wild durch dieses Tschetschenien, hierhin und dorthin. Wer hat etwas davon? Alles schon beschrieben, Videotheken voller Filmaufnahmen. Immer wieder drücke ich auf den Auslöser meines idiotensicheren Fotoapparats, ärgere mich, dass ich weder eine anständige Ausrüstung noch genug Wissen über das Fotografieren besitze, das ich immer am falschen Ort bin, dass mir immer etwas entgeht... Und jetzt jage ich dem Tod hinter her, dem Krieg, dem Albtraum in der Befürchtung, auch er könnte mir entgehen. Ich könnte ein Bindeglied verpassen, das verstehen hilft. Mir könnten in der Bibliothek von Gut und Böse die Bände auf den Regalen durcheinander kommen. Aber sind solche archaischen Bibliotheken heute wirklich noch vonnöten?
 
S. 260
„...sie kamen in die Häuser gestürzt, brüllten mit unmenschlicher Stimme, sie waren betrunken und anormal. So sehen nicht einmal Betrunken aus, so benehmen sie sich nicht. Sie hatten weiße Augen. Später stellte sich heraus, dass sie auch Drogen nahmen, sie fluchten furchtbar, schon das war ein Schock für uns, bei uns flucht man nicht, erst nach diesem Krieg sind unsere Männer so verwildert, dass sie fluchen.
Sie entführten Männer. Aus einem Haus in dieser Straße nahmen sie drei Brüder mit, Magomed, Salman und Mansur. Die mussten sich fast ganz nackt ausziehen und wurden an einen Panzer gebunden. Sie zogen sie durch den Schnee und lachten. Einer übertrieb und sprang Magomed aufs Gesicht. Ein Krachen, das Blut spritzte, der Mann nahm die Maschinenpistole und gab eine Salve ab... Sie banden Magomed los, Fleisch und Blut, und ließen ihn liegen. Die anderen nahmen sie mit, ins Filtrationslager, sagten sie. Sie würden zurück kommen. Bis heute sind sie nicht da. Zuchra, ihre Schwester, sucht in ganz Russland nach ihnen.“

S. 297
Schluss. 1999
In jedem Metro-Waggon erschien an der Decke die magische Formel: „Lušče Rossii net ničego  / Svjataja Rossija prevyžše vsego“ (frei übersetzt: „Russland, Russland über alles / Das Heilige Russland ist besser als alles andere“). Wer diese Formel zu seiner Waffe im Wahlkampf macht, der wird der große Hypnotiseur und gewinnt.
Und als er gekommen war, sprach der große Hypnotiseur: Wir lassen uns von den Tschetschenen nicht ins Gesicht spucken. Keinen Krieg gegen ein kleines Volk auf einem Mikro-Territorium führen wir, sondern eine anti-terroristische Operation gegen den mächtigen internationalen Terrorismus. Nicht nur Russland retten wir, sondern die ganze Welt. Hypnotisiert stimmte das Volk zu.
Der russische Bürger im Wahlkampf hatte keine Chance, zwischen Wahrheit und Lüge zu wählen: Ihm wurde nur Lüge angeboten. Hypnose.
Weil er in einem Zustand des falschen Bewusstseins handelte, müssten die Wahlen eigentlich für ungültig erklärt werden. Aber der russische Bürger will nicht aufwachen, er liebt die Hypnose. Im Jahre 1991 wurde er brutal aus ihr herausgerissen, von einem Tag auf den anderen wurde der größte und älteste Mythos zerstört: der Mythos von der Großmacht. Arm war er schon, jetzt wurde er noch ärmer, und zu allem Übel auch noch hilflos gegenüber der westlichen Technologie, dem Dollar, der NATO, und sogar – wie sich herausstellte – gegenüber Tschetschenien. Also sprach der große Hypnotiseur: „Wir werden die Banditen sogar auf dem Scheißhaus kalt machen“. Und das heilige Russland fand wieder zum aufrechten Gang. Der große Hypnotiseur fügte hinzu: Bis zum siegreichen Ende. Und Russland fühlte sich wieder großartig!
Statt Wahlkampf gab es Manipulation. Statt Information – Lüge, Verleumdung, Zynismus. Zensur und Informationsmonopol standen wie Phönix aus der Asche wieder auf.
107 Millionen Wahlbürger wurden einer elektronischen Schockhypnose unterzogen: Wir sind nicht nur die Bezwinger der Separatisten (als Hypnosewort gleichbedeutend mit „Terroristen“), sondern auch ihre Wohltäter: wir bringen ihn das Licht (das während des Krieges mit dem Gas als Strafsanktion abgestellt wurde) und die Funzel der Aufklärung. Die Tschetschenen, denen seit Jahren der Zugang zu den Medien verwehrt war, konnten sich – leider – nicht öffentlich bedanken.
Ein Bekannter von mir – Reservist der Sowjetarmee – hat die Beziehungen zu mir abgebrochen, weil er nichts mehr von den Kindern ohne Beine und den Frauen ohne Arme hören wollte, die in den Krankenhäusern Inguschetiens von Bomben erzählten, die aus Helikoptern abgeworfen wurden, die Jagd auf sie machten. Die Fernsehsender ORT und RTR zeigten ja schließlich nur verwundete Soldaten. Russische Soldaten.
Nadia, die Frau des Malers David, akzeptiert kein einziges Argument zugunsten der Tschetschenen, sie schreit nur: Also bist du dafür, dass Russland zerfällt???!!!

Bei der (auf eigenen Wunsch) wachsenden Isolierung Russlands vom Westen wird sich in dem Land wahrscheinlich eine derart autoritäre Regierungsform entwickeln, dass die Jelzin-Zeit dagegen als rosige Demokratie erscheint. Die Zahl der Verhaftungen nimmt eher nicht ab. Der große Hypnotiseur, der als aussichtsreichster Kandidat für den Kreml in das Wahljahr geht, hat die Gedenktafel für den Großmeister des KGB, Jurij Andropow (die im Zuge der Demokratisierung entfernt worden war), wieder an die Mauer der Geheimdienstzentrale in der Lubjanka anbringen lassen.
Die Matrjoschka lächelt nicht mehr. Die Büchse der Pandora ist weit geöffnet...