Laudatio von Olaf Kühl                                                                           Wersja polska

zur Verleihung des Samuel-Bogumił-Linde Preises an Andrzej Bart

am 1. Juli 2012


Sehr geehrter Herr Oberbürgermeister,

sehr geehrter Herr Stadtpräsident,

sehr geehrte Frau Vizekonsulin,

liebe Jurymitglieder,

sehr verehrte Damen und Herren,

    neue Sterne am Himmel der Literatur sind meist jung. Das Verlagsmarketing vergöttert junge und jüngste Autoren, am besten, sie sind auch noch weiblich. Die meisten verglühen nach einer Saison. Ein mir am Herzen liegendes Gegenbeispiel ist Dorota Masłowska, die in Deutschland mit 21 Jahren bekannt wurde und deren mädchenzarter Granit der Medienbrandung bislang stand hielt.

Ich komme nicht nur aus Lust auf diese Autorin, und nicht aus Laune. Andrzej Bart selbst hat mich auf diese Verbindung gebracht, als er mir folgende Widmung in sein Buch schrieb: „Ich begann Rien ne va plus als kleine Masłowska zu schreiben; erschienen ist das Buch, als ich ein erwachsener Mann war.”

    An Andrzej Bart haben sich schon viele die Zähne ausgebissen, besonders die Zeit. Bei seinem jungenhaften Charme, seiner Vitalität, seiner Neugier auf das Leben stellt sich die Frage nicht, wie alt er sein könnte. Seine Lebenserfahrung ist ihm nur von Vorteil. Einer der wichtigsten Vorteile ist der innere Raum, den ein geistig reger und kreativer Mensch im Laufe seines Lebens in das Felsgestein des eigenen Ich hineinmeißelt, quasi als Rückzugsort. Wenn die Öffentlichkeit kommt, drückt sie einen gern an die Wand. Dann ist es gut, wenn dieses innere Reich größer ist als eine Besenkammer.

Bei Andrzej Bart dürfte es inzwischen die Größe eines Ballsaals, wenn nicht eines ganzen Schlosses haben. Denn dass das Scheinwerferlicht der Öffentlichkeit ihn erst kürzlich, seit dem Film Rewers, so richtig aus dem Halbdunkel geholt hat, darf nicht darüber täuschen, dass dieser Autor lange schon auf ein beachtliches Oeuvre zurückblickt. Er könnte uns hier, ohne zu zaubern, einen Roman nach dem anderen aus dem Hut ziehen, danach ein Drehbuch, einen Film und ein Hörspiel nach dem anderen.

Sein erstes Buch erschien, man höre und staune, vor neunundzwanzig Jahren, 1983: Der Mensch, den die Hunde nicht anbellten. Von da an folgte ungefähr alle sieben, acht Jahre – genau in diesem geheimnisvollen Abstand – ein neues Werk.

Die Handlung des Filmes Rewers, der mit Preisen überhäuft und für dessen Drehbuch Andrzej Bart selbst ausgezeichnet worden ist, geht zurück auf eine kurze Episode in dem 1991 erschienenen Epochengemälde Rien ne va plus. Im stalinistischen Polen lehnt sich eine junge Frau auf, indem sie eine Goldmünze täglich neu verschluckt und so versteckt – was im Buch tragisch, im Film dagegen mit einer Befreiungstat endet.

In Rien ne va plus selbst ist diese Episode nur ein Zeitsplitter innerhalb einer Spanne von über zweihundert Jahren. Erzählt wird aus der Perspektive eines Gemäldes, eines Porträts des italienischen Fürsten d’Arzipazzi, der auf abenteuerlichen Wegen, immer von neuem verkauft oder verschenkt, nach Polen gelangt, diese ihm fremde Welt naiv beschreibt und so verfremdet, dass wir die scheinbar vertraute polnische Geschichte aus ganz neuer Perspektive erleben. Weil niemand vom Innenleben des Gemäldes weiß, bekommt es mehr zu sehen als andere. Menschen lieben sich hemmungslos vor ihm, Menschen sprechen Dinge aus, die sie nie sagen würden, wenn sie sich beobachtet fühlten.

Und Andrzej Bart liebt den heimlichen Blick.

Er selbst hat sich umgekehrt immer gern versteckt oder anders gezeigt, als er war. „Vor dem Einschlafen dachte ich über die ewige Neigung des Menschen nach, sein wahres Antlitz zu verbergen” lesen wir in Rien ne vas plus. Als Bart 1991 den hoch angesehenen Kościelski-Preis für dieses Buch erhielt, war er so unbekannt, dass der Kritiker Jan Błoński den Namen für ein Pseudonym hielt und überzeugt war, ein renommierter Autor müsse sich dahinter verbergen.

Voyeure, Verräter, Geheimagenten - das sind in der Welt des Andrzej Bart die Träger des heimlichen Blicks. „Ich fühlte mich als Judas,“ bekennt der Erzähler in dem Roman Reisezug (Pociąg do podróży), erschienen 1999. Zwei junge Amerikaner werden rekrutiert, um mit Hilfe einer Zeitmaschine – einem umfunktionierten Eisenbahnwaggon - an den Anfang des 20. Jahrhunderts zu reisen und den Aufstieg Adolf Hitlers zu verhindern. Nach dem ursprünglichen Plan seiner Ermordung versucht man es subtiler, will ihm die Aufnahme an der Kunstakademie ermöglichen und die Sublimierung seiner bösen Triebe, und als auch das misslingt, ihn mit Hilfe einer Prostituierten sexuell befreien. Aus Schreck über anatomische Besonderheiten dieser Dame fällt der junge Hitler von der Treppe und beißt sich die Zunge ab. Von nun an kann er nur noch unverständlich stammeln. Die Pointe ist, dass auch dieser Stammler am Ende sein Volk mitzureißen vermag und die Macht ergreift. Eine Diagnose deutscher Mentalität, die nicht unbedingt jedem schmecken dürfte.

Barts Lust am Spiel mit den Identitäten kennt keine Grenzen. Im selben Jahr 1999 erschien unter dem Pseudonym Paul Scarron Junior sein Roman Der fünfte Reiter der Apokalypse. Und der Autor besitzt die Chuzpe, im Reisezug mit dieser doppelt fiktiven Person zu polemisieren. Er „hasse diesen talentierten Schweinehund”, klagt der Erzähler und gesteht: „Ja, ich war ein Teil seines Gehirns”.

Auch in Noch einmal Don Juan (Don Juan raz jeszcze, 2006) soll eine Art Agent das Problem lösen, ein sehr prominenter: Don Juan, der sich nach ausschweifendem Leben ins Kloster zurückgezogen hat, wird für die Aufgabe reaktiviert, die spanische Königin Johanna, auch Johanna die Wahnsinnige genannt, von der manischen Liebe zu ihrem verstorbenen Gemahl Philipp dem Schönen abzubringen, damit endlich dessen Gebeine bestattet werden können.

Als vorläufig letzter Roman schließlich – zählt man die literarische Verarbeitung von Rewers nicht mit – erschien 2008 die Fliegenfängerfabrik (Fabryka muchołapek, dt. 2011).

Ein undurchsichtiger Erzähler, Bart nicht unähnlich, begibt sich im Auftrag einer noch geheimnisvolleren Person als Beobachter zu einem Gerichtsprozess, der dem Judenältesten des Gettos von Łódź, Chaim Rumkowski, gemacht wird. Rumkowski ist eine umstrittene historische Figur. Seine Kooperation mit den Deutschen hat vermutlich einigen Juden das Leben gerettet, andererseits wurde er posthum für diese Kollaboration von vielen, auch von Hannah Arendt, angegriffen.

Der große Erfolg dieses Buchs, nach der Übersetzung auch in Deutschland, dürfte Bart die Erfahrung beschert haben, die andere polnische Autoren auch kennen – die schmerzliche Erfahrung der Missgunst, mit der manches Lob auf den erfolgreichen Landsmann vergiftet wird. Besonders boshaft fand ich die Unterstellung, ein Autor aus dem provinziellen Polen könne sich in der internationalen Arena – zumal in Deutschland - nur noch mit dem Thema des Holocaust Gehör verschaffen, quasi mit Auschwitz als dem Markenzeichen, das in US-amerikanischen Medien – jüngst sogar von Präsident Obama - wider alle Vernunft immer noch als „polnisches Lager” bezeichnet wird.

Hier wird der Neid von Unkenntnis übertroffen. Die Verfasserin weiß offenbar nicht, wie lange und intensiv das Thema der Juden und ihrer Verfolgung Bart schon beschäftigt. Man lese nur das Verhör des Großinquisitors Diego de Deza durch Le Ferron im Noch einmal Don Juan – dort ist alles gesagt, auch wenn es das Spanien des 16. Jhdt. betrifft. Dieses Gespräch ist ein Lehrstück über den Antisemitismus, und die Worte des Großinquisitors könnte man ohne weiteres den furchtbaren Ideologen des Dritten Reiches in den Mund legen:

„Ein Volk, das sich das Fremde nicht beizeiten aus dem Schoß reißt, und zwar mit Haut und Haaren, entwertet sich selbst und wird jämmerlich zugrunde gehen,“  und: „Die Schwäche des Gärtners ermutigt das Unkraut und ermöglicht die Verbreitung des Ungeziefers“.

Auf diese Hasstiraden hält ihm Ferrero – das Alter Ego von Bart - vor: „Du hast alles getan, um das Göttliche im Menschen zu kompromittieren, vor allem den Gerechtigkeitssinn und die eigene Würde.” „Wenn wir die Juden umbringen oder sie auch nur vertreiben, dann tun wir nicht nur Gott Böses, sondern auch Christus unserem Herrn, der ein Jude von Juden war, und seiner Mutter, einer Jüdin seit Generationen?”

Heute gibt es kein Verstecken mehr für Andrzej Bart in Polen. Er ist prominent. Man kennt ihn. Was nicht heißt, dass man alles über ihn wüsste. So wie er seinen inneren Raum hütet, so behandelt er das Außen, seine sichtbare Biographie, als formbaren Stoff, als Gegenstand kreativer Verwandlung.

Deshalb lässt er sich so schwer einordnen. Keiner der einschlägigen literarischen Salons kann ihn für sich beanspruchen, weder der wirtschaftsliberal-progressive der Gazeta Wyborcza, noch der national-konservative der Rzeczpospolita. Bart ist kein Herdentier, und welche Vergleiche man immer anstellen wollte, etwa mit der Garde der recht erfolgreichen Fantasy-Autoren wie Andrzej Sapkowski, er überragt all diese Zeitgenossen haushoch durch Bildung, Witz und Geist.

Ja, um einen Bart ins Netz zu bekommen, muß man schon andere Koordinatensysteme auswerfen und weiter zurückgreifen.

Zweifellos gehört er zu jener großen Linie, die von Oscar Wilde bis hin zu Witold Gombrowicz führt, jenem Stammbaum der feinsinnigen Spötter, die die Maske lieben oder – wie Wilde – die Lüge sogar zum künstlerischen Prinzip erheben.

         „Aber Gimpel, was hilft es dir zu wissen, ob ich's ehrlich oder unaufrichtig meine?“ ruft Gombrowicz in seinem Tagebuch. „Ich kann ganz ehrlich die größte Dummheit sagen und unaufrichtig die reinste Wahrheit verkünden.“

         Und wie um Andrzej Bart zu ermuntern, fährt Gombrowicz fort: „Ja, dem Schriftsteller ist das Mystifizieren sogar geraten. Soll er ein wenig Wässerchen um sich trüben...“ (Tagebuch, 1961).

Ironie und trockener Witz sind nicht zufällig Barts beliebteste Stilmittel. Niemand bringt es fertig, so viele Informationen in einem einzigen, mehrgliedrigen Satz zu verschachteln wie er. Bartsche Sätze müsste man eigentlich, wie eine neue Sprache, erst lesen und verstehen lernen. Sie verlangen die Gabe des geistesgegenwärtigen Dechiffrierens und ein scharfes Auge für versteckte Bissigkeiten.

Seine Tochter behauptet, den Stil ihres Vaters auch dann noch zu erkennen, wenn er einmal eine Gebrauchsanweisung schreiben sollte. Sie muss eine besondere Begabung haben. Denn Bart ist das große Chamäleon der polnischen Literatursprache.

In Rien ne vas plus sind es nicht nur die Realia, der Zeitgeist vergangener Jahrhunderte, die zum Leben erweckt werden, es ist auf meisterhafte Weise auch der Stil des 19. Jhdts., etwa der „Handschrift von Saragossa“ (Le manuscrit trouvé à Saragossa). Und dies ist nur ein Register unter vielen, die Bart virtuos beherrscht.

Greift man zum Reisezug, glaubt man Raymond Chandler zu lesen, so wohltuend lakonisch und trocken, als hätte man die Übersetzung eines amerikanischen Kriminalromans vor sich.

Angst vor der Berührung der sogenannten trivialen Genres (etwa Science Fiction oder Kriminalroman) kennt Bart nicht. Auch Gombrowicz benutzte ja die Gattungen wie trojanische Pferde, handelte in Kosmos schwierige ontologische Fragen im Rahmen eines Krimis ab und schrieb als junger Mann sogar einen Gruselroman, die Besessenen.

Mit Jan Potocki, dem Autor der Handschrift von Saragossa, teilt Andrzej Bart die Lust am Fabulieren. Bei ihm sprudeln die Geschichten wie aus einer geköpften Champagnerflasche, und es ist eben kein Sekt, sondern bester Champagner, der da hervorschießt. Barts Erfindungsgabe lässt sich vom geringsten Fundstück inspirieren. Mitten in der Handlung der Romane knospen Träume, die sich zu seitenlangen Nebenwirklichkeiten auswachsen. Und wenn sich der Leser anfangs nur skeptisch entführen lässt, so ist er bald von der neuen Geschichte verschlungen.

 Stendhal mit seinen Gesellschafts- und Liebesintrigen könnte Vorbild gewesen sein. Auch mit seiner nie erlahmenden, fast schon selbstquälerischen Leidenschaft für die Frauen, die nichts Konsumistisches hat, eher schon etwas von der Melancholie eines alternden Don Juan.

Wer sich in die großen historischen Zeiträume wagt und sie so überzeugend darstellt wie Andrzej Bart, muss nicht nur recherchieren, nicht nur belesen sein, er darf auch gern den ängstlichen Respekt des akademischen Historikers ablegen. Barts Phantasie ist dafür viel zu unbändig, seine funkensprühende Imagination penetriert das Faktische und durchlöchert es. Dann bleibt es nur eine Frage der Abstufung, ob die Bedeutung der porös gewordenen Geschichte gänzlich kippt und sie zu einer „alternativen“ Geschichte wird. Im Reisezug misslingt der Versuch, die Historie rückwirkend zu ändern. In der Fliegenfängerfabrik soll wenigstens der Täter, wenn schon seine Taten nicht rückgängig gemacht werden können, der Gerechtigkeit zugeführt werden. Quentin Tarantino könnte sich in seiner filmischen Alternativgeschichte „Inglorious Bastards“ von einer Episode in Barts Buch haben inspirieren lassen: Wo Tarantino alle Nazigrößen in einem Kino versammelt und erschießt, sollen bei Bart die sogenannten Szmalcowniks, gemeine Menschen also, die versteckte Juden denunzierten, an einen Treffpunkt gelockt und mit Zyklon B vergiftet werden.

    Nicht nur als Frauenliebhaber zeigt sich Bart in all seinen Büchern und Filmen, sondern vor allem auch als großer Menschenfreund. Er ist ein Liebender mit weitem Herzen, ein dezenter Voyeur, der seiner Personage großzügige Freiheiten lässt und die Luft zum Atmen, die sie brauchen. Keine menschliche Schwäche bleibt seinem scharfen Blick verborgen. Zugleich adelt ihn die sympathische Diskretion, nie mit dem Finger darauf zu zeigen.

Vielleicht ist er auch weise geworden mit den Jahren. Wer weiß, wie sein Urteil über Chaim Rumkowski ausgefallen wäre, hätte er dieses Buch früher geschrieben. Radikaler, strenger, auf jeden Fall.

Für die Toleranz und das friedliche Nebeneinander der Kulturen steht in Barts Werk eine Hauptfigur, ein Symbol nachgerade, ein überindividuelles Lebewesen – die Stadt Łódź – die er zugleich, mit Fragezeichen, als „böse Stadt” tituliert. Ihrem Schicksal und ihrer Geschichte hat er Texte, vor allem aber Dokumentarfilme gewidmet, zuletzt Radegast, über die gleichnamige Bahnstation, an der Juden aus Westeuropa im Getto eintrafen und von der später die Transporte in die Vernichtungslager abgingen. Bart hat den Wunsch geäußert, die interkulturelle Toleranz im Łódź des 19. Jahrhunderts möge heute wiederaufleben. Er verschließt dabei nicht die Augen vor der nicht immer erfreulichen Realität, etwa die Hauswand-Schmierereien „Jude“, im heutigen Polen. Als die Jüdin Dora in der Fliegenfängerfabrik sich darüber wundert, tröstet der Erzähler sie mit der erfundenen Geschichte, das seien Markierungen der Deutschen, und die Polen hätten sie, um die Juden zu retten, auf allen anderen Häusern vervielfältigt.

So ließe sich am Ende das, was Andrzej Bart ausmacht, auf den kleinsten Nenner der Humanität bringen, und es gibt einen Satz in Rien ne va plus, der diese Einstellung sehr bewegend zum Ausdruck bringt: „Damals begriff ich,” heißt es dort, „dass es das größte Verbrechen ist, das menschliche Blut so zu vergiften, dass sich die Menschlichkeit nicht entwickeln kann.”

Humanität ist also der Boden, auf dem dieser Mann, der in seinem Leben bestimmt auch manche persönliche Tiefen erlebt hat, mit beiden Beinen steht. Auf diesem sicheren Fundament kann er sein literarisches Feuerwerk abschießen, kann seine Begabung zur ironischen Bissigkeit, zum Maskenspiel und sprachlicher Virtuosität immer von Neuem zur Geltung bringen.

Immer von Neuem – das wäre mein ganz persönlicher Wunsch. Und wenn ich ihn heute so ansehe, bin ich zuversichtlich, dass sein Pulver noch lange nicht verschossen ist.

 Ich freue mich, lieber Andrzej, dass Du heute mit dem Samuel-Bogumił-Linde-Preis ausgezeichnet wirst und würdig in die Reihe der polnischen Preisträger, von Wisława Szymborska über Zbigniew Herbert bis hin zu Andrzej Stasiuk und Sławomir Mrożek, trittst.


    Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.