Dorota Masłowska

Wie fern von hier, wie hässlich!

Ein Jahr vor meiner Geburt bekamen meine Eltern eine Wohnung in einem Hochhaus am Waldrand. Tausend Mal, wenn ich später im Ausland war und Interviews gab, fiel in einem bestimmten Augenblick immer die schlau auf mein Geburtsdatum schielende Frage nach dem Kommunismus - ob ich mich an die Schlangen erinnere, an den Essig in den Regalen der Geschäfte, den Fall der Mauer und all die anderen Dinge, die einem das Blut in den Adern gefrieren lassen und die es auf der anderen Seite nicht gab. Natürlich erinnere ich mich, antworte ich dann mit einer Mischung aus Triumph und Schmerz, so als wollte ich gleich die Ärmel hochkrempeln und so etwas wie Narben aus dem Kinder-Internierungslager zeigen oder blaue Flecken nach dem Verhör durch die Miliz, und damit vor den Augen des Interviewers fuchteln wie mit einem Packen Fotos von einer exotischen Reise.

Ich bin dort gewesen, meine Lieben; als ihr völlig ahnungslos ward und all eure Leckereien in raschelndem Glanzpapier gefuttert habt, habe ich an der Kinderfront gekämpft! Hier sind meine Narben vom Essigtrinken direkt aus dem Regal! Ihr habt vielleicht andere, aber solche, gebt es zu, habt ihr nicht.

Ob ich mich an den Kommunismus erinnere. An irgend etwas muss ich mich ja wohl erinnern. Aus dem pappigen Brei der Erinnerungen irgend eine herausangeln, die überflüssigen Details abschälen, den Helden ihre Gesichter abnehmen und sie über den Tisch marschieren lassen, lachhaft, erbärmlich, in Ortalionmänteln und dummen Stiefeln mit der Aufschrift „Relax“, mit Netzbeuteln, in denen ein paar grünliche, knospende Kartoffeln kullern. Das also ist der Staat Polen, diese verlorenen Schachtelhäuser am Waldrand, die kleine Stadt, die zwei kleinen, gegen den Schnee ankämpfenden Figürchen, das bin ich und meine Großmutter, und das Dunkle da oben ist die Dämmerung. Was da über die ganze Straße geht, ist die Schlange nach Würstchen, schwellend und wogend, eng zusammengestaucht, ohne Zwischenräume, was aber noch unerbittlicher dahingeht, ist die Zeit. Das kleine Bündel in feuchtem weißen Papier, das sind zwei Würstchen: eins für mich, und eins für meinen Bruder. Nach dem stundenlangen Schlangestehen bin ich so hungrig, dass ich sie auf dem Heimweg beide aufesse. Ja, dieser dunkelblaue Wintermorgen und diese absolute Vergeblichkeit menschlicher Mühsal, die für mich immer den Geschmack dieses blassen, kalten Würstchens behalten wird, den ich vor Hunger nicht einmal wahrgenommen habe – all das wird dem westlichen Leser fassungsloses Grauen aufs Gesicht malen. Und wir wissen alle, dass dies ein vollformatiges Bild jener Jahre ist, vom gleichen touristischen Vollformat, wie das Arafat-Tuch am aknegeplagten Hals des Dreizehnjährigen, die pasteurisierte Landmilch im Kartonbehälter sowie die glänzenden, mit Windmühlen und Häuschen bemalten Holland-Clogs.

Eine präparierte Ansichtskarte, an die weder der Absender noch der Empfänger glaubt, die man aber dennoch gern versendet und mit ach so großer Spannung empfängt.

(Vor kurzem hatte ich ein Gespräch, als ich vor das Hotel in London trat, um eine Zigarette zu rauchen, und der Hotelgärtner auf mich zu kam. Er war schon älter, hager, hatte schwarze Fingernägel und Augen so klar, als wäre er eben gerade geboren worden. „Woher kommst du?“ „Aus Polen.“ „Wie ist Polen?“ „Ziemlich hässlich. Im Krieg ist alles zerstört worden, und danach haben die Kommunisten alles zerstört.“ „Das ist grauenvoll!“ sagte er ehrlich ergriffen und schüttelte fassungslos und mitleidig den Kopf. „Das ist wirklich grauenvoll!“ – „Ja, doch.“

Was für eine Erlösung, in Sprachen zu sprechen, die man nicht beherrscht. Alles wird dann plötzlich so unheimlich einfach!).

Ehrlich gesagt, erinnere ich mich an nichts Besonderes aus jener Zeit, fast keine Ereignisse, fast keine Gefühle, nur dieser Grauschleier und die Ausdruckslosigkeit, bis in die höchsten Register gesteigert, so dass es fast die reine Idee des Grau war.

Ich war etwa fünf, ich kannte die notwendigsten Ziffern, ein paar elementare Buchstaben, mein Katholizismus stand in voller Blüte, so dass alles Spätere im Vergleich dazu nur noch als Regression bezeichnet werden kann. Ja, ich denke, meine Wahrnehmung der Wirklichkeit jener Jahre war in einem gewissen Sinne vollkommen! Grau. Übelkeit. Wasser aus dem Hahn. Und darin, wie in einer fahlbraunen Geflügelrollade oder in einem Altpapierwickel, die tollen Spielzeuge, die jedem von uns die Tränen in die Augen treiben: Ballongummi Donald, leere Cola- und Desodorant-Dosen, die wie Trophäen auf dem Regal standen, und Schokoladenersatz: eine Art fahlbraunes süßliches Knetgummi in Tafelform. Nur sie sind deutlich erkennbar. So als verginge die Zeit in den Gegenständen, als wären sie die Zeiteinheiten. Gebrauchte Anziehsachen, abgescheuerte Tapeten und glanzlos werdende Möbel, Essen und das Geschirr dazu, Gebäude, Schuhe, Bürgersteige. Die Erinnerung ist ein Brei, eine trübe Pfütze, in der die kleinen Schiffchen der Dinge untergehen, um dann immer wieder triumphierend aus ihr aufzutauchen. An den Kommunismus erinnere ich mich ausschließlich als Stil und als ästhetische Kategorie.

Also dieses Hochhaus. Es stand nicht weit entfernt von einigen ähnlichen, die geradewegs aus dem kahlen fahlbraunen Sand wuchsen. Wann immer man nach oben blickte, in die Wolken, die am Fließband des Himmels vorbeizogen, begann es zu wanken, zu bröckeln und drohte jeden Augenblick umzukippen wie ein angestoßener Ziegelstein.

Überall anders war flauschiger Wald, war irgend eine Welt. Nur wir ragten in die Luft in dieser absurden Wüste, die hier und da mit Asphalt bezogen war. Zwischen den achtlos verlegten Platten strebte albern mutierte Natur ans Tageslicht, Löwenzahn, Gras, Distel. In den Löchern zeigten schwarze Pfützen ihr zartes, regenbogenbuntes Benzinhäutchen. Im Keller tobten die Katzen. Ständig dieser Uringeruch im Treppenhaus, dieses ängstliche Lugen hinter Gittern und schmutzigen, zersplitterten Scheiben. Und dazu die Ameisen. Für Kinder ist das gut, Kinder brauchen etwas zum Quälen, Kinder müssen sehen können, wie etwas stirbt oder wenigstens, wie es tot ist, sie müssen dieses Grauen lernen, müssen lernen, dass Leben heißt - das Blut fließt voran, Tod dagegen - es fließt zur Seite und läuft überall hin, den Bürgersteig entlang.

Auf dem kahlen Rasen vor der Haustür wuchs eine nackte, feuchte, nach Harn riechende Weide. Da war auch ein Parkplatz. Meine Großmutter saß gern mit einem Kissen am Küchenfenster und schnalzte. An jedem ihrer Ellbogen stand ein zwergenhafter Adjutant: links ich, rechts mein Bruder. Wir empfanden das melancholische Schnalzen als ganz besonders schick und versuchten von Zeit zu Zeit, es mit unserem lückenhaften Gebiss nachzuahmen. Auf diese Weise versuchten wir, die Zeit bis zum Mittagessen zu überlisten, aber in Wirklichkeit überlistete die Zeit uns und wand sich und zog sich dahin wie eine blasse, formlose Makkaroni zwischen der Ankunft eines Autos und der Abfahrt eines anderen. So verbrachten wir unsere Zeit. Immer wieder einmal wurde die Kinderwelt von einer Welle der Begeisterung für die Gravitation erschüttert. Auf dem Bürgersteig trockneten zerplatschte Eierwurfgeschosse und andere Wunder. Eines Tages fiel nebenan aus dem soundsovielten Stock auch ein kleiner Junge und hat dann bestimmt dagelegen zwischen Wäscheklammern und Kippen.

Das alles war weder schlecht, noch besonders traurig. Einfach fade Übelkeit und Grau, sogar die Sonne hatte die Farbe von Urin, wenn sie durch die Gardinen gefiltert war. Sogar das Essen war grau. Graues Brot, zitronenblasse, falschgelbe Margarine. Schinken mit Strähnen und Haut auf der Milch. Und von Zeit zu Zeit fallen mir die Plakafarben im Sechserpack ein, mit ihren rätselhaften Bezeichnungen: Gebranntes Sienna, Ultramarin, Zinnober, hinter deren euphemistischen, unverständlichen Schleiern sich die biologisch abbaubaren Töne von Schlamm, Roten Beten, krankhafter Galle, Leberflecken und aushärtendem Senf verbargen. Selbst das Schwarz war nicht schwarz, sondern dunkelgrau: das hatte seine Konsequenz, Logik und Kohärenz, denn nur solche Farben ermöglichten die realistische Darstellung und gewissenhafte Wiedergabe von Motiven wie: Meine Stadt. Mein Hof. Meine Schule. Mein Land, beim Malunterricht im Hort, während man darauf wartete, dass Mama aus der Fabrik oder dem Krankenhaus zurück kam. Diese Welt produzierte genau die richtigen, höllisch angemessenen Mittel für ihre eigene Abbildung.

Gebrauchte Kleider, Spielzeuge. Ziegelbrocken, Kastanien, Glasscherben, vergraben zum Zeichen lebenslanger Freundschaft. Teddybären, Püppchen, so was alles, sämtlich in beschissenen Bordeaux-Kleidern, mit kalten starren Beinchen in der Farbe eines Pfirsichs, der an der Tankstelle wächst. Diese unseligen, schieläugigen, ihrer Geschlechtsorgane beraubten Wesen aus schlecht verschweißtem Plastik, von geradezu perfekter Hässlichkeit, schimmeln jetzt irgendwo in den Kellern vor sich hin oder widersetzen sich auf den Müllkippen dem biologischen Abbau.

Einmal in New York habe ich in einem Designerladen so ein Blechauto gesehen, wie sie hier in Kellern und Kammern verrotten. Das heißt, in ein paar Jahren werdet ihr das alles in Hochglanzkatalogen von Posh Posh Design, Mode und Schönheit wieder finden! Kate Moss à la DDR 1985: Auf der Stirn Haare wie verbranntes Gras, Dauerwelle aus Salzsäure, eine Stunde Einwirkzeit, am besten von der eigenen Schwester besorgt. Während die eine Schwester Moss der anderen sorgfältig die Haare auf ammoniakgetränkte Holzstöckchen aufrollt, werfen ihre Kinder in stilechten, bis unter die Achseln hochgezogenen Strumpfhosen und Latschen von H&M mit fabrikneu durchgescheuertem großem Zeh jene zarten Blättchen aus dem Fenster des Hochhauses, die man um diese Stöckchen wickelt. Wie schön sie fliegen! Wie schön sie sich in den Zweigen der Weide verfangen, auf den Parkplatz segeln oder nach oben, hoch über den Wald. Über das ganze Hochhaus, in dem Stockwerk für Stockwerk das gleiche Leben abgeht in den Wohnungen, die alle identisch eingerichtet sind mit identischem Spanplattenmobiliar, im Ultraviolett des Fernsehers, der unfehlbar immer den zentralen Platz der Wohnung einnimmt und in dem Blake Carrington, wie in einem Aquarium, neue Erdölvorkommen in Denver kauft. Der Himmel endet knapp über Scheitelhöhe an der Holzverkleidung des Fernsehapparats Marke Neptun, festgenagelt zur Zierde mit einer gestickten Serviette und etwas in seiner Unbrauchbarkeit besonders Hässlichem, vom Typ angestoßene Porzellan-Ballerina in Kolor Brechreiz.

Und ich blättere in diesem Hochglanz-Magazin auf dem Flug nach New York im seltsamen Teleport des Flugzeugs, den Magen voll von Foliennahrung in Regenbogen-Farben, die Stewardessen mit Dentisten-Lächeln, ich weiß, dass ich all das mit mir schleppe, den ganzen Kopf tätowiert und in Grauschleier eingelegt, die ganze Sammlung meiner Ansichtskarten mit Blick auf die Leere, auf das fahlbraune Unmaß, die abrutschende Wüste mit vollgepisstem Sand, und die Straße zum Flughafen ist wie das langsame Auswickeln eines unerhört komplizierten, unglaublich multimedialen, mit großer Verspätung zugeschickten dämonischen Spielzeugs. Und nur der hermetische Charakter der Schädelhaut verhindert die Explosion!

Danach kamen die dämonischen neunziger Jahre, die Landschaft veränderte sich schlagartig von einem Tag auf den anderen, so als wäre ein Mülleimer in der Wüste umgekippt. Noch glaubte niemand an den Einmalgebrauch von irgend etwas, am wenigsten solcher schönen Dinge wie Plastik. Dieses haltbare, wasserdichte und unzerbrechliche Material bildete das Gegenteil zu Glas, Schnur und feuchtwerdender Pappe: und bevor sie später ihren Wert verloren, wurden Plastiktüten und Joghurtbecher immer ausgewaschen. Zwei Jahre lang verbrachten wir jeden Abend vor dem Fernseher und guckten „Glücksrad“. Das war ein Quiz über Gegenstände. Eine buntschillernde Scheibe drehte sich vor den bebenden Teilnehmern, wirbelte ihnen den Kreislauf völlig durcheinander und steckte die Zuschauer vor den Bildschirmen mit dem giftigen Samen hoffnungsloser Begierde an, öffnete ihnen die Pandora-Büchse der wildesten Träume.

Fernsehapparat! Sony! Wasserbett! Im Wert von dreieinhalb Millionen. Und natürlich der Hauptgewinn: ein Polonez, ein Auto, so lang und flach wie ein zertretenes Ungeziefer, am besten in der Farbe Pistazie schwer, Rose dreckig, Ultraviolett oder Fuchsie wild! Jeden Abend zuckten alle Fenster des Blocks im Bildschirmblau der Fernseher, als beteten sie im Morsealphabet den Kosmos an! Ein Wasserbett. Oder ein aufblasbares, für Gäste, so wie sie heute in den übelsten Löchern der billigsten Discounter herumliegen und auf Umwegen als Trostpreis zu denen zurück finden, die in all den Jahren nichts gewonnen haben.

Die Farben erlebten eine triumphale Wiederkehr. Jetzt kam der Kreuzzug der Farben, kam ihre Rache am Fegefeuer! Sie hatten noch immer wenig Ähnlichkeit mit den natürlichen Farben. Danke schön, so was hatten wir schon. Jetzt waren es die Farbtöne der Fruchtdrops, Orangeaden und brennenden Glühbirnen. Ultraviolett! Glasgrün! Glühend Orange! Große Hast nur dem Teufel passt, sagt das Sprichwort, und deshalb wurde jetzt alles noch hässlicher. Draußen vor dem Fenster versteifte sich bei Wind und Wetter der Spielplatz. Korrodierender Schrott, der einmal eine Schaukel gewesen war, ragte aus dem Sand als äußerst perverse künstlerische Installation zum Thema: Womit sollen Kinder spielen? - zur Unterstreichung der Aussage mit einem verrosteten Vorhängeschloss festgesperrt. Dafür wurden die mit Teer bestrichenen Stahlbetonplatten der Hochhäuser mit kanarienvogelgelbem Styropor beklebt, und Fenster, von denen die Farbe abblätterte, durch PVC ersetzt.

Das alles werdet ihr noch in den abgefahrensten Life-Style-Magazinen sehen! Mitten in New York wird so ein Wolkenkratzer hochgezogen werden, zur Hälfte mit den Namen von Fußballmannschaften besprüht, von einem perfiden Künstler entworfen. Und ich, auf der Suche nach der verlorenen Zeit, kaufe mir darin eine Wohnung mit Blick auf den Parkplatz und werde in dekatierten Baumwoll-Trainingsanzügen aus einem auf Joghurtbecher stilisierten Glas Essig trinken.

Deutsch von Olaf Kühl