Ein
Phänomen wie Dorota Masłowskas Sprachwucht und ihre fast archetypische
Bilderwelt, die sich aus tiefsten Quellen speist und ihre bewusste Persönlichkeit
transzendiert, kommt in jeder Literatur nur alle halbe Jahrhundert vor. Niemand
hat sich in letzter Zeit tiefer in die kollektive Phantasie Polens eingegraben
als sie. Niemand hat aber auch die Kritik unversöhnlicher in glühende Verehrer
und zornige Verächter gespalten.
Ihr
erstes Buch schrieb sie mit 18 Jahren, während der Abiturprüfungen: Schneeweiß
und Russenrot (poln. 2002; dt. 2004 bei Kiepenheuer&Witsch). Ein Roman
über einen imaginären Krieg gegen die Russen, ausgebrütet von gelangweilten und
drogenweichen Hirnen einer Jugend, die beschäftigungslos in Plattenbauten
abhängt – in einer polnischen Provinzstadt, in der man vielleicht zwei, drei
russische Schwarzarbeiter findet. Monatelang führte das Buch die
Bestsellerlisten an, direkt hinter den Gedichten des Papstes.
Der
Riesenerfolg versetzte Masłowska mit einem Schlag ins Rampenlicht. Für sie war
das nicht nur ein Traum, sondern auch ein Trauma. Sie verstummte drei Jahre
lang und verarbeitete ihre Erfahrungen in der Die Reiherkönigin. Ein Rap
(poln. 2005; dt. 2007 bei Ki&Wi),
für den sie 2006 den höchsten polnischen Literaturpreis NIKE bekam. Skrupellos
verbraucht die Scheinwelt der Medien ihre Stars und frisst sie auf. Der
knallbunte Roman im unbequemen HipHop-Rhythmus ist ein Reflex ihrer eigenen
Ängste, unter den Zwängen der Öffentlichkeit ihr Wichtigstes als
Schriftstellerin zu verlieren – die eigene Authentizität.
Masłowska
markiert einen Generationswechsel in der polnischen Literatur. Ihre Weltsicht
definiert sich nicht mehr über den Freiheitskampf, sie hat – abgesehen von
nebelhaften Kindheitserinnerungen an leere Regale und Warteschlangen – nicht am
realen Sozialismus gelitten. Sie fand die gleißende Warenwelt des Kapitalismus
als Wirklichkeit bereits vor – an ihr arbeitet sie sich ab. Fernsehreklame,
Fresszwang, schillernde Kunst-Stoffe, Kulisse – ihr Thema ist die Suche nach
Wirklichkeit in einer Welt, die, fremddefiniert, an Surrogaten erstickt.
Infolge
der Zeitverschiebung zwischen den ehemaligen Blöcken tauchen bei Masłowska
plötzlich Denkfiguren der 68er wieder auf. Doch Gudrun Ensslins Hass auf die
Kleinbürger, die sich bewusstlos fressen, um Vietnam zu vergessen, lockert sich
bei Masłowska zu einem offenmundigen Staunen. Sie belehrt nicht mit erhobenem
Zeigefinger, sie lässt sich mit katholischer Sinnesfreude auf alle Facetten der
Welt ein. Statt zu moralisieren, beschreibt sie - und spinnt das Gold der
Poesie noch aus dem Stroh der widerwärtigsten Wirklichkeit.
Man
fragt sich oft, woher diese junge Frau ihre Gabe hat, sich in Menschen hinein
zu versetzen, deren Lebenshorizont ihrem eigenen ganz fern ist – besonders die
Männer. Andrzej, der Starke, in Schneeweiß und Russenrot und
Schlagersänger Retro in der Reiherkönigin sind Macho-Kerle am Rande des
Nervenzusammenbruchs, lächerlich in ihrem Imponiergehabe, aber am Ende doch
liebenswerter als all die dümmlichen, sexbesessenen Frauen, die sie umschwärmen
wie die Motten das Licht. Tausendmal wurde Masłowska in Interviews gefragt,
woher ihre Identifizierung mit dem Männlichen komme. Sie ist klug genug, sich
jedes Mal eine neue Antwort auszudenken.
Und
nun ihr erstes Theaterstück: Zwei arme, Polnisch sprechende Rumänen (2006).
Ihr bisher härtester, am wenigsten durch Humor gemilderter Text. Der
TV-Schauspieler Parcha und die Arbeitslose Gina, Zufallsbekannte, haben sich
auf einer Party so zugedröhnt, dass sie erst mitten im weiten Polen zu sich
kommen. Die Alltagssorgen sind nur betäubt: Gina hat ihr Kleinkind irgendwo
vergessen und die Alimente verprasst. Parcha ahnt, dass er am nächsten Morgen
nicht rechtzeitig am Drehort sein wird und seine Rolle, seinen sozialen Status
verliert.
Solange
die Droge wirkt, sind sie frech und witzig, terrorisieren als Anhalter die
Autofahrer und spielen die Rumänen. Rumänen spielen heißt, die schlimmsten
kleinbürgerlichen Vorurteile noch auf die Spitze zu treiben. Rumänien ist für
diese Polen der Underdog, als der sie sich selbst gegenüber dem Westen fühlten.
Rumänen essen Wurstverschnitt und haben weibliche Vornamen, die nach
Schmerztabletten klingen. Um politische Korrektheit schert sich Masłowska
nicht. Vom bizarren Fest „Russenfrei“ in Schneeweiß und Russenrot, über
die „Neger“, Schwulen und „Juden“ in der Reiherkönigin bis zu den Rumänen
persifliert sie rassistische Vorurteile so lebensecht, dass man erst beim
herzlichen Mitlachen plötzlich schluckt. Wo sprachliche Etikette mehr zählt als
die Realität, sind solche Texte untragbar: In den USA können die Rumänen bislang
nicht aufgeführt werden.
Andrzej
Stasiuk hat einmal gesagt, Polen sei für ein Roadmovie geografisch zu klein.
Aber für einen schnellen, heißen Trip reicht es, schnell und mechanisch wie der
Sex mit unbekannten Frauen, über den hier einmal – gendermäßig innovativ – der
Mann klagt. Und wenn Parcha Gina genau in dem Moment, als sie sich aufhängen
will, durch die Klotür die Diagnose zubrüllt, dass sie eigentlich Liebe
braucht, dann mildert einzig und allein die Situationskomik das Pathos dieser
Botschaft und ihre tiefe Wahrheit. Mehr als an allem anderen leiden Masłowskas
Figuren an Beziehungslosigkeit. Wenn die Wirkung von Speed und Alkohol
nachlässt, erhebt Einsamkeit ihr bleiches Gesicht – in der betrunkenen, von
ihrem Mann betrogenen Opel-Vectra-Fahrerin oder dem alten Mann mit
Verfolgungswahn.
Die
schöne neue Welt sollte Freiheit und Überfluss bringen. Nur ist irgend etwas auf
dem Weg dorthin zerbrochen. Dorota Masłowska ist die Exorzistin Polens. Sie
legt der leidenden Gesellschaft die Hand auf, horcht nach falschen Tönen – und
schreit dann in ihrer tiefgründigen Sprache voller doppelter Böden heraus, was
die Öffentlichkeit verdrängt. Nur manchmal wird die Wucht dieses Leidens so
groß, dass man um das Medium – die zarte Person der Autorin – zu fürchten
beginnt.
Berlin, den 7. April 2008