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STILLE TAGE IN MIENKEN
Kleiner Streifzug durch Fauna und Bevölkerung
(Auszüge aus dem Text)

Allee bei Dominikowo (Mienken)

[...] Mienken liegt in der sogenannten Pufferzone (polnisch otulina, "Umhüllung" klingt zärtlicher) des staatlichen Nationalparks der Drawa. Das bedeutet: hier darf keine Industrie angesiedelt, keine schädliche Produktion in Betrieb genommen werden. Kein Wunder, daß in dieser geschützten Zone vielerlei wiederaufblüht und gedeiht, das anderswo schon ausgestorben war.

Im westlichen Teil des Parks erstrecken sich Reste des an der damaligen Grenze zwischen Deutschem Reich und Polen errichteten Pommernwalls. Unterirdische Bunker bieten heute vielen Arten von Fledermäusen idealen Lebensraum. Das gewaltige Betonbauwerk zeugt mahnend vom Größenwahn und der Aggressivität, die die Deutschen schließlich mit ihrer Vertreibung aus diesem Paradies büßen mußten.

In dem entvölkerten Raum wurden – ebensowenig freiwillig - Polen aus den von der Sowjetunion annektierten polnischen Ostgebieten angesiedelt. Jahrzehntelang fanden sie hier vorwiegend in der Forstwirtschaft Beschäftigung. Noch heute hat jeder eine Kettensäge im Haus. Es gehört zur Geräuschkulisse des Dorfes, daß diese Sägen mehrmals am Tag angeworfen werden. Mitten im Juli Kleinholz für den Winter zu sägen, ist vielleicht nicht zwingend. Aber das Aufheulen der Säge ist so etwas wie ein Brunftschrei. Die lautstarke Selbstvergewisserung der eigenen Existenz wird psychologisch umso wichtiger, als die tatsächliche ökonomische Lage der Bevölkerung sich verschlechtert. Die wenigsten finden noch Arbeit im Wald. Die meisten sind ohne Beschäftigung, die Jugend zieht fort. In das entstehende Vakuum, in die leerstehenden schönen Bauernhäuser sickern seit Jahren Städter ein – viele Stettiner, aber auch immer mehr Berliner, Wiener, ja sogar Engländer.

Die Räuber

Laufkäfer in Mienken (Dominikowo)

Da sind zunächst die erfolgreichen Geschäftsleute, die sich hier Gehöfte kaufen, ins Landleben einsteigen und Pferde züchten. Ein Möbelproduzent aus Kallies zählt dazu, dessen Produktion vor allem bei deutschen Markenhändlern Abnahme findet, aber auch ein Tankstellenbesitzer, von seinen Freunden "Scheich" genannt. Das sind die Raubvögel, oder sagen wir, die Fischotter dieser Gegend. Dieser in ganz Europa sehr selten gewordene Säuger ist das Wappentier des Nationalparks. So wie der Unternehmer in der Stadt, bewegt der Otter sich im Wasser schnell und geschickt dank seines langen Körpers mit kurzen Beinen und Schwimmhäuten. Auf dem Land scheint er schlangenartig zu kriechen. Den langsamen Festlandsgang schalten auch die "neuen Polen" ein, wenn sie in Mienken bei Bier und Grill ausspannen.

Die Träumer

Andererseits siedeln sich stadtflüchtige polnische Intellektuelle, besonders Maler, in der Hoffnung an, ihrem Schaffen in der Unverdorbenheit der Provinz nachgehen und die Kunst mit bodenständigem Landleben verbinden zu können. Häufig überhöhen sie ihre Stadtflucht mit dem Ehrgeiz, die Tradition des polnischen Landadels wiederaufleben zu lassen. Da die Kunst auf dem Dorf noch brotloser ist, knüpft man praktischerweise gleich nahtlos an das Endstadium dieser untergegangenen Klasse an, nämlich Verarmung und Verschuldung.

Die harmloseren Vertreter dieser Gattung, die nach dem Verlust des ökonomischen Bodens rasch wieder in die Stadt zurückgehen, kann man mit den Eintagsfliegen vergleichen. Im Nationalpark der Drawa leben 30 Arten dieses Insekts. Bei einigen von ihnen überdauert die Endform, die sog. Imago, nur wenige Stunden. Diese Zeit reicht ihr aber, um ihre grundlegende Funktion zu erfüllen – die Eiablage. Wegen der kurzen Lebensdauer braucht sie sich nicht zu ernähren und hat deshalb nur reduzierte Mundwerkzeuge sowie einen luftgefüllten Darm.

Die Gefräßigen

Libelle in Dominikowo (Mienken)

Nicht reduziert, sondern erschreckend stark ist das Greiforgan der Libellenlarven, auch "Maske" genannt. Ihnen ähneln die gefräßigeren und aggressiveren Vertreter der Stadtflüchtlinge, die ihren Nachbarn, den neuen Unternehmern, kitschige Porträts aufschwatzen und hemmungslos in der Bekanntschaft schnorren. Die bloße Aufzählung der sechsundzwanzig Libellenarten im Drawa-Nationalpark ergäbe ohne weiteres ein Gedicht, kann hier aber aus Platzgründen nur intoniert werden: Blauflügelige Prachtlibelle, Gebänderte Prachtlibelle, Braune Mosaikjungfer, Heidelibelle (selten), Azurjungfer (sehr selten). Ihre Artenvielfalt ist ein Indikator für den guten Zustand der hiesigen Gewässer. Die räuberischen und gefräßigen Larven schlüpfen im Sommer aus den Eiern und überwintern auf dem Grund der Gewässer. Erwachsene Libellen leben länger als Eintagsfliegen, immerhin eine Woche bis einige Monate lang. Sie lassen es sich in der schönen Jahreszeit wohl sein und sterben im Herbst. Mit den Libellen haben die erwähnten "überflüssigen Menschen" auch die unvollständige Metamorphose gemeinsam. So wie der Libelle das Puppenstadium fehlt, schaffen sie nie die ersehnte Metamorphose von entwurzelter städtischen Intelligenzia zum alten Landadel.

Die Überlebenskünstler

Es gibt an der Drawa aber auch ausdauernde Arten, die sich in Stoffwechsel, sprich Ökonomie, und psychischer Anspruchslosigkeit der kargen Umwelt anzupassen verstehen. Sie sind zur Askese bereit und leben erstaunlich zurückgezogen. Der ehemalige Priesterschüler Karol, der nach Scheidung und finanziellem Ruin hierherkam und sich anfangs in einer Erdhöhle versteckt hat, um sein Scheitern im bürgerlichen Leben zu überwinden, hält hier schon Jahre aus. [...] Ihre Anspruchslosigkeit ist der der Egel vergleichbar, von denen manche Arten bis zu anderthalb Jahren ohne Nahrungsaufnahme überdauern können. Im Nationalpark leben 20 Arten davon. Zu ihnen gehört der medizinische Blutegel (Hirudo medicinalis). Sie bevorzugen das Blut von Enten, Schildkröten oder Ringelnattern, können aber ohne weiteres auch die Ferse oder die menschliche Kniekehle durchbohren. Zum Glück gibt es im Großen Mienkensee keine Vertreter dieser Art.

Die Geschäftigen

Veränderungen werden nicht nur von außen aufs Land getragen. So wie die Biber, die hier infolge menschlicher Wirtschaftstätigkeit ausgestorben waren, sich aber nach erfolgreicher Wiederansiedlung inzwischen biberwohl fühlen, erlebte auch die unternehmerische Initiative, die im realen Sozialismus gründlich entmutigt und plattgemacht worden war, vielerorts eine Wiedergeburt.  Mienken ist noch nicht ganz Saint Tropez, aber doch schon en vogue. Das sieht man am "schlechten Ende" des Dorfes, wo sich die Schrebergärten der Sommerfrischler auf engstem Raum zusammenballen. Aber die wenigen Touristen auf dem Campingplatz am See verziehen sich schon im Frühherbst. Dann fallen für einige Wochen noch Busladungen von Pilzsammlern ein, bis auch ihr Rascheln in den weiten Wäldern verhallt, und im Herbst stehst du staunend am nebelbehangenen Ufer des Sees und horchst in eine Stille hinein, die der Großstädter nicht mehr gewohnt ist. Berlin ist weit, weit weg. Du fühlst dich sicher, zum ersten Mal richtig auf dem Festland, auf festem Land.

Die Originale

Rosenkäfer in Dominikowo (Mienken)

Diese Abgeschiedenheit lockt natürlich auch Eigenbrötler und seltene Exemplare an. Es gibt allein 150 Arten von Vögeln. Zu den seltensten gehören Schwarzstorch, Fischadler, Rotmilan, Schwarzmilan, Seeadler, Schreiadler und Uhu. Auch unter den Menschen dieses Landstrichs findet man exotische Exemplare. Am Waldrand in Mienken steht ein neuerbautes Häuschen, dessen schrullige Gestalt an die Zeichentrickfilme von Walt Disney erinnert, aber auch an die kleinen Plastikfiguren in Überraschungseiern. Das ist kein Zufall, denn hier wohnt jemand, der sich seit zwanzig Jahren diese Überraschungen ausdenkt und einer der begehrtesten Tüftler des Konzerns ist. Einmal im Monat fliegt er zur Zentrale der Überraschungseiermacher in die westeuropäische Metropole, bespricht die neuesten Trends und zieht sich dann wieder in die inspirierende Abgeschiedenheit Hinterpommerns zurück. Seine Identität darf nicht gelüftet werden, denn der Konzern will nicht, daß Headhunter auf ihn aufmerksam werden.

Nicht jeder ist so exotisch, viele sind einfach nur schön in der schlichten Klarheit ihres Charakters, so wie die marmorierten Rosenkäfer, die sich im Juli auf den Blüten tummeln. Da betritt zum Beispiel ein alter Pole mit einem Akzent, der ihn als Gebürtigen der Ostgebiete, ja der Ukraine ausweist, deinen Hof. Du kennst ihn bisher nicht persönlich. Er tritt an dich heran und zieht eine Pistole vom Typ Mauser (übrigens nicht benannt nach dem bekannten polnischen Schriftsteller Lopez Mausere), und ehe du sie ihm mit einem Karateschlag aus der Hand fegen kannst, fragt er dich höflich, ob du noch Munition für diese Wehrmachtswaffe besitzest. Er habe nämlich erfahren, daß du Deutscher seist.

Den vollständigen Text von Olaf Kühl konnten Sie lesen in dem Magazin  Polenplus Nr. 1 / 2007 (Februar 2007), S. 14 - 19. 
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