Neue Zürcher Zeitung, 10. September 2008, 
Original: http://www.nzz.ch/nachrichten/kultur/aktuell/wir_stehen_vor_kleinen_lokalen_kriegen_1.827938.html
«Wir stehen vor kleinen lokalen Kriegen»

Gespräch mit Arkadi Babtschenko über die russische Militäraktion in Südossetien und Georgien
Der russische Schriftsteller Arkadi Babtschenko ist mit seinem für die Unerbittlichkeit der Beschreibung gerühmten autobiografischen Roman über den Tschetschenien-Konflikt, «Die Farbe des Krieges», international bekannt geworden. Babtschenko verfolgte als Journalist die russische Militäroperation in Südossetien. Jörg Plath traf ihn in Berlin.

Sie waren als Militärkorrespondent der russischen Tageszeitung «Nowaja Gazeta» während der Kämpfe in Südossetien. Wie kamen Sie dahin?

Arkadi Babtschenko: Es war unklar, ob ich nach Südossetien hineinkommen würde. Ich ging in einer Militäruniform zu einem Sammelpunkt in Nordossetien und meldete mich als Freiwilliger. An der Grenze zu Südossetien hat niemand unsere Kolonne aus 10 Bussen mit 200 Leuten kontrolliert. Wir mussten nur die Pässe hochhalten. «Fahrt durch, Jungs», hiess es, «kämpft für Russland!» Erst bei der Rückkehr vier Tage später hielt mich der russische Geheimdienst FSB an und fragte, warum ich keinen Ausreisestempel im Pass hätte. Nach Zchinwali wurden die Freiwilligen nicht hineingelassen. Ich habe mich von ihnen getrennt und bin allein mit einem Auto nach Zchinwali gefahren. Die Stadt war sehr stark zerstört.

Durch den Angriff der georgischen Armee auf das russische Bataillon dort?
Das Bataillon war nur in einer Garnison stationiert. Der Angriff galt der ganzen Stadt. Das Bataillon wurde dabei völlig aufgerieben, es gab hohe Verluste.

Alte Fehler wiederholt

Sie waren in den Tschetschenien-Kriegen Soldat. Was war in Georgien anders?
In Tschetschenien kämpfte Russland gegen Partisanen, bärtige Männer mit Kalaschnikows. In Georgien war die professionelle Armee eines anderen Staates mit sehr guter technischer Ausrüstung der Gegner. Bestimmt waren die tschetschenischen Kriege grausamer. Aber die russische Armee hat alle damaligen Fehler haargenau wiederholt: Wieder ist eine Infanteriekolonne ohne Feuerschutz nach Zchinwali einmarschiert und wurde aufgerieben. Wieder war die Technik in schlechtem Zustand, gab es kein Wasser für die Soldaten, kein Diesel für die Fahrzeuge. Wir haben dafür ein Sprichwort: Die ganze Welt kämpft mit russischen Waffen, nur Russland kämpft mit seinen Jungs.

Warum kam es zu dem Krieg?
Der Grund für die Kriege in Tschetschenien und in Georgien ist derselbe: Russland will eine Grossmacht sein und ist inzwischen entschlossen, dieses Ziel um jeden Preis zu erreichen, auch mit militärischer Gewalt.

Was halten Sie von der offiziellen russischen Position, wonach sich in Südossetien und Abchasien ein Völkermord ereignet habe?
Es gab in dem ganzen Gebiet keine Spuren eines Völkermords. Der Präsident von Südossetien, Eduard Kokojty, hat gesagt, in Zchinwali seien 2000 zivile Bürger umgebracht worden. Das stimmt nicht. Nach meinem Augenschein kann es sich um 150, 200, vielleicht auch um 300 Tote gehandelt haben, auf keinen Fall um Tausende. Allerdings ist jedes Haus in der Stadt beschädigt durch den georgischen Beschuss.

Sie haben geschrieben, dass Russland nicht in Georgien hätte einmarschieren dürfen.
Die Stationierung der russischen Friedenstruppen war vertraglich geregelt. Russland konnte nicht einfach zusehen, wie seine Friedenstruppen beschossen wurden. Es musste in Zchinwali einmarschieren, um die Soldaten zu befreien und den georgischen Beschuss zu stoppen. Wäre es dabei geblieben, hätte es keine Fragen gegeben. Warum Russland aber georgisches Gebiet besetzte und georgische Städte bombardierte, verstehe ich bis heute nicht.

Haben Sie nicht eben einen Grund genannt: die Etablierung als Grossmacht?
Wenn Medwedew will, dass Russland Grossmacht wird und von den Fidschiinseln bis nach Gibraltar reicht, dann soll er mit seiner Kalaschnikow selber alles erobern! Aber nicht in seinem warmen Arbeitszimmer sitzen und 18-jährige russische Jungs schicken! Als Jelzin Präsident einer Grossmacht sein wollte und Tschetschenien angriff, musste der kleine Babtschenko dorthin fahren. Jetzt will Medwedew Präsident einer Grossmacht sein und kämpft in Südossetien, und wieder muss Babtschenko hinfahren und brennende Soldaten fotografieren. Ich habe es satt! Ich habe den Eindruck, dass Russland Deutschland in den dreissiger Jahren ähnelt: Es phantasiert von der Weltherrschaft und bereitet sich darauf vor.

Geschürte Ängste

Ist die Aktion gegen Georgien ein weiterer Versuch der KGB- und Sicherheitsleute um Putin, die eigene Macht zu sichern, indem durch äussere Konflikte innenpolitischer Druck erzeugt wird?

Ja, wahrscheinlich. Die letzten drei Präsidenten haben Kriege begonnen: Jelzin den ersten Tschetschenien-Krieg, Putin den zweiten, und die Zustimmung zu Medwedew ist durch den Georgien-Krieg von 40 auf 80 Prozent hochgeschnellt. Zwei Fernsehprogramme in Russland senden nur Propaganda. Ständig wird von amerikanischen Kriegsschiffen im Schwarzen Meer und der Raketenstationierung der Nato in Polen berichtet. Der Kreml schürt Ängste, er will ablenken. Russland ist ja reich, es schwimmt in Öl- und Gasmilliarden. Warum liegt das Durchschnittseinkommen trotzdem bei 385 und nicht bei 1000 Dollar?

In der Ukraine, im Baltikum und im Kaukasus hat das russische Vorgehen in Georgien Ängste ausgelöst. Halten Sie diese Ängste für übertrieben?
Noch vor einem Monat hätte ich gesagt, das seien alles irreale Ängste. Heute habe ich keine eindeutige Antwort mehr. Zumal die Krim viel wichtiger für Russland ist als Südossetien. Ich verstehe nicht, was Russland tut. Ich verstehe aber auch nicht, warum der Westen die Konfrontation schürt. Was verspricht er sich davon? Die Eskalation kommt im Augenblick von beiden Seiten.

Sie meinen das Engagement der USA in Georgien?
Nein, Georgien ist ein unabhängiges Land und kann sich seine Freunde aussuchen. Aber so wie Russland die Südosseten jahrelang zu Aktionen ermunterte, hat der Westen Georgien ermuntert. Wer Waffen nach Georgien liefert, will kein Spielzeug produzieren.

Also sind die Ängste des Kreml, vom Westen eingekreist zu werden, nicht falsch?
Vielleicht. Aber ich glaube nicht an einen dritten Weltkrieg. Wir stehen vor kleinen lokalen Kriegen. Das weiss der Kreml und versucht, die Bevölkerung darauf einzustimmen. In der jetzigen Lage kann jeder noch so kleine Schritt unabsehbare Folgen haben.

Keine Integration in Europa


Im Westen ist die Rede von einem neuen kalten Krieg. Halten Sie das für zutreffend?

Der kalte Krieg hat schon angefangen. So kalt wie zu Zeiten der Sowjetunion wird er nicht werden. Es wird keinen Eisernen Vorhang geben, aber auch keine Integration Russlands in Europa.

Drei Journalisten der «Nowaja Gazeta» sind ermordet worden, eine von ihnen war Anna Politkowskaja. Fürchten Sie sich?
Nein, ich habe keine Angst um mein Leben. Die Herrschenden in Russland sind schon so sehr Denkmal, dass ihnen egal ist, was Arkadi Babtschenko schreibt. Putin hat von Anna Politkowskaja gesagt, sie sei keine einflussreiche Journalistin gewesen. Leider entspricht das der Wahrheit. Jeder Artikel von Anna Politkowskaja hätte Ermittlungen auslösen müssen, aber es gibt keine unabhängige Gerichtsbarkeit. In Russland tritt man nur jemandem auf den Zeh, wenn man untersucht, wie er sein Geld verdient. Ich befasse mich nicht mit solchem investigativen Journalismus. Und wenn schon Anna Politkowskaja keine einflussreiche Journalistin war, bin ich es erst recht nicht.

Aus dem Russischen von Olaf Kühl.

Ein Kind des Krieges


Ein Kind des Krieges

pla. Arkadi Babtschenko, 1977 in Moskau geboren, nennt sich ein «Kind des Krieges». Er war mit nur neunzehn Jahren Soldat im ersten Tschetschenien-Krieg und nahm auch am zweiten teil. Der Titel seiner Début-Erzählung ist der Name des tschetschenischen Dorfes Alchan-Jurt (2005). Auf Deutsch ist von ihm der von der Kritik hochgelobte autobiografische Roman «Die Farbe des Krieges» (2005) erschienen. Babtschenko ist Journalist, leitet einen Veteranenverband und die Internetseite «Art of War» (www.navoine.ru), auf der mehr als 400 ehemalige Soldaten, darunter auch frühere Gegner, über ihre Kriegserfahrungen schreiben. Derzeit arbeitet Arkadi Babtschenko im Literarischen Colloquium Berlin an einem Reportageroman über seine Tage im Georgien-Krieg.