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Montag Ich. Dienstag Ich.

Die Tagebücher von Witold Gombrowicz in einer klug zusammengestellten Auswahl

von Wolfgang Schneider

Witold Gombrowicz ist der einzige polnische Autor des 20. Jahrhunderts, der es zu einer deutschsprachigen Gesamtausgabe gebracht hat. Aber ist er deshalb auch jenen bekannt, die kein spezielles Interesse an der Nachbar-Literatur entwickelt haben? 1904 geboren, debütierte Gombrowicz 1933 mit den furiosen Erzählungen „Memoiren aus der Epoche des Reifens“. 1938 erschien „Ferdydurke“, einer der großen Romane der literarischen Moderne, zugleich einer ihrer unterhaltsamsten und komischsten. Von 1939 bis 1963 lebte er im argentinischen Exil. Nach einem Stipendiatenjahr in Berlin verbrachte er die letzte Zeit seines Lebens in Südfrankreich, wo er 1969 starb, kurz nachdem die Literaturpreise sich seiner angenommen hatten.

Zu seinen Hauptwerken gehört das von 1953 bis zum Lebensende geführte Tagebuch, ein im Original über tausend Seiten starker Band. Die „Andere Bibliothek“ bringt den Leser jetzt mit verringertem Lektüreaufwand in den Genuss des einzigartigen Werkes. Sie hat in der vorzüglichen Übersetzung von Olaf Kühl eine Auswahlausgabe herausgebracht, die nicht nur eine Kürzung, sondern auch eine Verdichtung ist.

Gombrowicz’ Tagebuch ist kein Ort der stillen Selbstergründung und intimen Geständnisse. Es wurde fortlaufend in der polnischen Emigrantenzeitschrift „Kultura“ in Paris publiziert und ersetzte dem Autor jene Diskussionen und intellektuellen Gefechte (gerne so rabiat wie möglich), die er überaus schätzte, die ihm aber in Argentinien, wo er als kleiner Bankangestellter sein Leben fristete, nicht mehr zugänglich waren. Die berühmten vier ersten Einträge („Montag Ich. Dienstag Ich. Mittwoch Ich. Donnerstag Ich.“) sind bei allem programmatischen Subjektivismus also keine Selbstermunterung zum monadischen Monologisieren. In seinen einsamsten Grübeleien bleibt Gombrowicz dialogisch. Das in sich selbst gründende Individuum gibt es für ihn nicht; in allen seinen Werken stellt er dar, wie Menschen durch andere Menschen definiert, geformt und entstellt werden.

Gegen nichts macht er so entschieden Front wie gegen große Überzeugungen, die von der konkreten Lebenswirklichkeit blamiert werden, ob es sich nun um Marxismus, Neo-Katholizismus oder jenen Existentialimus handelt, mit dem er sich an vielen Stellen auseinandersetzt. Neben den oft skurrilen Beschreibungen seiner alltäglichen Erlebnisse, die ihm stets zu Denk-Anstößen werden, gibt er Kommentare zu seinen vielfältigen Lektüren. Vom gepflegten akademischen Diskurs hält er allerdings ebenso wenig wie von der feinsinnigen Prosakunst eines Borges – das ist ihm aus Bibliotheken genährte „Literatur für Literaten“, „speziell für Jurymitglieder geschrieben“. An Orten der Hochkultur – Universitäten, Museen, Konzertsälen – lauert für ihn der schiere Stumpfsinn, der zu Tode erstarrte Geist. Das Tagebuch übt sich dagegen in einem lässigen, ambulanten Philosophieren, das Widersprüche und Polemik nicht scheut und sich der Inspiration des Moments überlässt.

Gombrowicz gehört zu jenen Autoren, deren Schreiben stets um die gleichen Gundthemen kreist. Seine Werke sind wie die Thomas Manns von polaren Gegensätzen bestimmt, zwischen denen sowohl permanenter Kampf wie erotische Spannung herrscht: Unform gegen Form, Unreife gegen Reife, das Junge gegen das Alte, das Niedere gegen das Hohe. Während jedoch Thomas Mann, der haltlose Ironiker des Bewahrens, die Form als Schutzwehr gegen die Mächte des Chaos aufbietet, bedient sich Gombrowicz der Unform – literarisch gesehen: der Groteske –, um die Form aufzusprengen, wo sie das Leben erstickt.

So macht er etwa gegen die Pariser Dame als Verkörperung vollendeter Form die polnische Kuhmagd geltend – zumindest spaßhafterweise. Die Rebellion gegen die Form ist ein modernes Motiv, das einen ganz unmodernen biographischen Hintergrund hat: Gombrowicz’ Abstammung aus dem polnischen Landadel und eine Kindheit, in der ihm überlebte Formen und Manieren zur Qual wurden. Seine Brüder schritten noch zum Duell, wenn jemand wagte, sie allzu scharf zu fixieren. In Gombrowicz’ spöttisch grimassierender Prosa bleibt jedoch bei allem Unbehagen in der Kultur der Aristokrat und Mann mit Stil immer spürbar. „Fisch mit dem Messer darf essen, wer weiß, dass man Fisch nicht mit dem Messer isst“ – so die paradoxe Maxime seiner Regelverstöße.

Das weltläufige Tagebuch enthält grandios-gehässige Porträts von Buenos Aires und von Paris, der „Stadt der vierzigtausend Maler“, wie es höhnisch heißt. Besonders eindrucksvoll für deutsche Leser ist die Darstellung Berlins. Hier, im Herzen der nationalsozialistischen Finsternis, wo vor kurzem noch Völkermorde verwaltet wurden, findet Gombrowicz im Jahr 1964 lauter „Gutmütigkeit, Ruhe, Freundlichkeit“ und einen der höchsten Lebensstandards der Welt. In der „aus Schutt gebauten Stadt ohne Charakter“ erscheint ihm gerade die Normalität dämonisch; es ist, „als wüsche sich Berlin, wie Lady Macbeth, unermüdlich die Hände“. Kein deutscher Schriftsteller hat mit so abgründiger Präzision die damalige Berliner Befindlichkeit eingefangen.

Im übrigen ist Gombrowicz kein politischer Moralist, er denkt in weiterem Rahmen. Alle Utopien scheitern für ihn am ewigen Skandalon des Schmerzes. Beim Baden in Argentinien ist der Sandstrand eines Tages übersät mit Tausenden auf den Rücken gefallener, zum elenden Tod in der schmorenden Sonne verurteilter Käfer. Die Düne mit ihrem „Ausschlag gepeinigter Pünktchen“ wird ihm zum Sinnbild leidender Kreatürlichkeit. Voller Mitleid beginnt Gombrowicz die Tiere umzudrehen, eins nach dem anderen, und muss doch irgendwann die groteske, ins Unendliche verlängerbare Rettungsaktion abbrechen: „Der Käfer aber, bei dem ich aufgehört hatte, blieb dort mit rudernden Beinchen zurück.“ Auf leichtfüßigere Weise lässt sich das Drama der Ethik nicht darstellen. Dieses grandiose Prosastück allein lohnt die Anschaffung des Tagebuches. Aber es hat noch viel mehr zu bieten.

Witold Gombrowicz:
Sakrilegien.
Aus den Tagebüchern 1957 bis 1967.
Aus dem Polnischen von Olaf Kühl.
Eichborn, Frankfurt /M.
360 S., 25 E.

Artikel erschienen am 4. Jan 2003

 

Quelle: http://www.welt.de/data/2003/01/04/29661.html?s=1

 

 

 

 

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