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Sehnsuchtsort Russland

Von den Tücken der Wirklichkeit

Olaf Kühl

(erschienen in der Zeitschrift P+, Heft 14 (2016).


Je älter ich werde, desto tiefer glaube ich an die Wirklichkeit (mit Großbuchstaben geschrieben), also eigentlich an das, was man sehen kann,“ sagt Mariusz Wilk in dem von Piotr Brysacz herausgegebenen Band „Blick nach Osten. Raum. Mensch. Mystizismus.”1. „Man braucht nur den Blick von diversen ‘Spiegeln’ abzuwenden – Monitoren, Beamern, Bannern, Handys ... Mit einem Wort – sich vom Virtuellen ins Reale zu begeben“.

Der Reporter und Schriftsteller, der seit vielen Jahren im Norden Russlands in einem einsamen Haus in dem unbewohnten Dorf Konda Berežnjaja am Onega-See lebt, benutzt im Original das polnische Wort „rzeczywistość“. Es enthält die Wurzel „rzecz“, das Ding, die Sache – so wie das spätlateinische realitas vom Wort res abgeleitet ist. Aber steht diese Realität für ein Ding an sich, das ungerührt davon bleibt, ob und wie man es gerade betrachtet?

Erstaunlich viele Menschen verweisen bei der Frage, was Wirklichkeit sei, spontan auf die unberührte Natur: Wüste, Tundra, oder eben hier, die menschenleeren Landstriche im Norden Russlands. Als wäre die Ferne menschlicher Einwirkung eine Garantie dafür, dass das dort Wahrgenommene unverfälscht sei. Auch Wilks Äußerung verrät ein bißchen von dieser Naivität. Er habe dort das „Reich hinter dem Spiegel“ entdeckt (russ. „зазеркалье“), also quasi eine Welt jenseits der aufgezwungenen Meinungen, der medialen Brechung. So etwas wie die philosophische Entsprechung des geographischen Заонежье, das Land hinter dem Onega-See.

Man braucht aber nur das deutsche Wort für Wirklichkeit zu benutzen, schon sieht die Sache anders aus. Da hat man nämlich gleich die Aktivität, die Bewegung – die Einwirkung in der Bedeutung.

Tatsächlich ist das Sehen keine Aktivität, die ohne Auswirkungen auf ihren Gegenstand bliebe. „Sehen ist der aktive Aufbau einer symbolischen Beschreibung der Außenwelt“, solche und ähnliche Formulierungen findet man in der Fachliteratur über digitale Bildverarbeitung – also keine passive Aufnahme irgendeiner Realität. Kaum kommt ein Reporter in eine Stadt, verändert er sie schon, so wie Gogols Tschitschikow oder sein Revisor mit ihrem Eintreffen das russische Dorf in Aufruhr und Hoffnung versetzte. Auch in der Reportage gibt es eine Heisenberg’sche Unschärferelation. Man sieht immer auch das, was man schon weiß. Manchmal sogar nur das, was man weiß. Bisweilen auch, was man sehen will. Deshalb das Wissen des Reporters mitentscheidend dafür, was er sehen will und kann. Vergangenes zum Beispiel kann man nicht mehr sehen. Ein Fotograf, der heute auf das Inselarchipel Solowjetzkie fahren würde, um die malerischen Reste der Klosteranlagen am Weißmeer zu fotografieren, würde keine sichtbaren Spuren mehr von der Grausamkeit in den Sowjet-Lagern finden, in denen einst Tausende von Menschen gefoltert und zu Tode gebracht wurden. Wilk hat diese Gegend in großartigen Texten beschrieben („Briefe aus Solowki“), aber natürlich im Wissen um die Vergangenheit. Von ihm selbst wissen wir, dass er – je länger, desto mehr – mit vorbereitender Lektüre arbeitet. Auf seinem Schreibtisch stapeln sich russische Bücher und Lexika. Im Schwarzen Eis nimmt er Bezug auf La Neuvilles Notizen über Moskowien (Paris 1698), das im Verlag der russischen Akademie der Wissenschaften neu aufgelegt wurde. Der Franzose klagt darin über den allgegenwärtigen Wodkakonsum, Auftragsmorde und die Bestechlichkeit der Beamten. So gewinnt das auf den ersten Blick Sichtbare des Ortes eine zeitliche Tiefe. Die Solowjetzki-Inseln enthalten unsichtbar eine Geschichte, die ohne Lektüre und ohne Vorwissen nicht sichtbar würde: Die Belagerung während der Kirchenspaltung durch Anhänger des Patriarchen Nikon, dann die grausame Hinrichtung der Abtrünnigen.

Außer der Vergangenheit gibt es weitere Dinge, die man nicht sehen kann. Kommt man heute nach Tschernobyl, so wird man dort die Radioaktivität nicht sehen. Nicht einmal ihre Folgen erkennt man auf den ersten Blick. Man sieht idyllische Natur, Pilze, Beeren und alte Leute, die trotz des Verbots in ihre Dörfer zurückgekehrt sind und sich einen Teufel um die Strahlung scheren. Man weiß von der Radioaktivität, muß Forschungsergebnisse darüber studieren, welche Schäden sie anrichtet. Allenfalls das Fotopapier wird gesprenkelt, wenn es zu hoher Strahlung aussetzt wird.

So leicht es aber erkenntnistheoretisch problematisiert werden kann, so wichtig ist das Mit-eigenen-Augen-gesehen-haben als Voraussetzung der Reportage. Der Leser hat nun einmal diesen emphatischen Begriff von Wirklichkeit, er verlangt sie von der Reportage, vielleicht gerade unter dem Eindruck des öden, gleichmacherischen Ansturms von Virtualität, der Reality Shows, die er in den Medien erlebt. Was nicht auf eigener Anschauung beruht, soll wenigstens als solches gekennzeichnet sein.

Das zeigte sich vor einigen Jahren deutlich, als René Fristek der Henri-Nannen-Preis aberkannt wurde. Fristek hatte nichts Falsches behauptet, hatte alles richtig beschrieben, er hatte nur eine Sache nicht gesehen: Die Modelleisenbahn des CSU-Politikers Horst Seehofer. In einem Porträt des populistischen Politikers für den SPIEGEL2 hatte er diese Bahn als Metapher für dessen Idealvorstellung von Politik beschrieben. An keiner Stelle hat er behauptet oder suggeriert, selbst in dem Hobbykeller gewesen zu sein. Bei der Preisverleihung wurde er gefragt, wie er es denn geschafft habe, dorthin zu gelangen. Und er gab arglos zu, nie dort gewesen zu sein. Er habe mit Seehofer selbst und Journalistenkollegen viel darüber gesprochen. Die Jury erkannte ihm daraufhin den Preis ab, eine heftige Diskussion des Für und Wider in der Presse folgte. Dem Text, dem ansonsten hohe Qualität bescheinigt wurde, ging nur dies ab: ein Detail selbst gesehen zu haben.

Ein Interview mit Zbigniew Brzeziński, in dem jede Äußerung von ihm verifiziert und authentisch, aber nicht als Antwort auf die Fragen geäußert wurde3, ist eben kein Interview und keine Reportage – auch wenn der Verfasser dem Politikberater am selben Tag begegnet ist und mit ihm gesprochen hat. Es ist ein anstößiges Mischgenre. Es weckt Misstrauen. Zu Recht.

Man fühlt sich ungern an die Zwiespältigkeit dessen erinnert, was Authentizität sei. Man will gerade in einem Text über die Realität nicht aufgeklärt werden darüber, wie sehr die Grenze zwischen Fiktionalität und Fakten verschwimmt. Der Impetus des wahren Berichts muss da sein, auch wenn er löchrig wäre.


Körper und Gefahr

Um aber mit eigenen Augen zu sehen, muss der Reporter sich an den Ort des Geschehens begeben, muß sich an gefährliche Schauplätze wagen. Bei Kriegsberichterstattern versteht sich das von selbst. Es gibt aber auch andere Orte, die objektiv gefährlich sind oder als solche stilisiert werden. Dazu gehört Russland, dazu gehört das heutige Afrika mit seinen Kriegen. Dazu gehört seit dem Frühjahr 2014 die Ukraine.

Diese das eigene Leben betreffende Gefahr macht einen Gutteil des Nimbus des Reporterberufs aus. Der Reporter sieht nicht nur, er erlebt auch – stellvertretend für den Leser: „Er erlebt das quasi in meinem Namen (...) man liest und spürt, dass das unser Mann dort ist. Er traut sich dorthin, wo ich mich nicht hintrauen würde“4, sagt Mariusz Szczygieł in einer Vorbemerkung zu Jacek Hugo-Baders Weißem Fieber (Biała gorączka).

Dieser Nimbus des Reporters ist ein wertvolles Kapital, er macht die Anziehungskraft seiner Texte wesentlich aus. Deshalb will er gepflegt sein. Das lässt sich mehr oder weniger dezent tun. Hugo-Bader redet auf den ersten Seiten seines Buches nicht nur viel von Geld und gibt mit Sponsoren an, er betont auch das Exzeptionelle und Gefährliche seiner Reise: „Ich war vermutlich der einzige Verrückte, der diesen schrecklichen Festlandozean unbewaffnet durchreiste, dazu ganz allein“5. Und wenige Seiten später heißt es:

„Im Jahre 2007 wählten die Internetuser der ganzen Welt auf dem Blog ‚Dark Roasted Blend’ die gefährlichsten und opferreichsten Straßen auf unserem Planeten. Von den sechs gewählten liegen drei in Russland. Eine an der kaukasischen Grenze zwischen Georgien und Russland, die zwei anderen indes hatte ich Gelegenheit zu kosten“ (S. 20). Sein Kollege Szczygieł sucht diese Präsenz der Gefahr noch aufzuwerten durch einen Vergleich mit dem Übervater Kapuściński: „Ryszard Kapuściński beschrieb das Imperium aus der Vogelperspektive; er erfasste die Denk- und Verhaltensmechanismen, die Prozesse. Hugo-Bader beschreibt das Imperium aus der Perspektive eines streunenden Hundes.“6

Nur weil er nach dem Morbiden schnüffelt, ist Hugo-Bader aber noch kein Hund. Der Reporter hat in Interviews bestätigt, dass auch er sich gründlich mit Lektüren auf seine Reisen vorbereitet. Für sein zweites Russlandbuch Reportagen aus Kolyma (Dzienniki Kołymskie) hat er alles durchgelesen, was es dazu gab.

Ryszard Kapuściński war allerdings vorsichtiger darin, sein eigenes Image aufzubauen, wie er überhaupt ein subtilerer Mensch und Autor war als viele seiner Adepten. Auch er war sich der Bedeutung des eigenen Bildes bewusst. Wiktor Osiatyński berichtet in Domosławskis Biografie darüber. Mit dem Werk musste er auch sich selbst erschaffen, sein eigenes Bild. Was für ein Bild war das? Das eines unerschrockenen Kriegsreporters, der vorgab, alle wichtigen Leute in der neuesten Geschichte der Länder, über die er schrieb, kennen gelernt zu haben: Che Guevara, Lumumba, Idi Amin. Ohne diese Legende, so glaubte auch Kapuściński, werde niemand sich dafür interessieren, was ein Reporter, ein Autor aus dem fernen Polen zu sagen habe.7

Für einen polnischen Autor wiegt das Imago, das Bild des Autors, doppelt schwer, weil er fürchtet, als Vertreter einer „kleinen“ Kultur im großen Gespräch der Welt nicht ernst genommen zu werden. Das ist kein koloniales westliches Vorurteil, die Polen sprechen das selbst aus. Kapuściński sei eine „celebrity“, hat Andrzej Stasiuk in einer öffentlichen Diskussion bekannt – eine Größe dank seiner Bekanntheit im Westen; ohne diese Bekanntheit wäre er „nur ein polnischer Reporter“. Nicht einmal die genaueste Recherche, die mutigsten Fahrten in Krisengebiete garantieren einem polnischen Autor die Rezeption in anderen Sprachbereichen. Ein mutiger Berichterstatter wie Wojciech Jagielski wird – nach einem Buch über Afrika – erst einmal nicht weiter ins Deutsche übersetzt. Dabei liegen von ihm mitreißende und präzise Reportagen aus dem Kaukasus vor, einer Krisenregion der ehemaligen Sowjetunion, aus der er berichtete, während alle anderen ins zerfallene Jugoslawien schauten8.

Eine Autorin wie Kurczab-Redlich wird erst gar nicht in Deutschland verlegt, weil man ihr als Polin die nötige Unvoreingenommenheit gegenüber Russland nicht abnimmt. Und wenn dann noch ein Pole eine Biographie über den polnischen Starreporter Kapuściński schreibt, findet dieses lesenswerte Buch nur einen kleineren Verlag (Rotbuch) – der für seinen Mut umso mehr zu bewundern ist. All dies spricht dafür, dass Kapuściński mit seiner Befürchtung Recht hatte.


Russland als Sehnsuchtsort der Reportage

Nicht jeder hat den genauen und poetischen Blick einer Hanna Krall, um auch das Unscheinbare, das vor der Haustür Liegende so zu beschreiben, dass ein neuer Blick auf die Wirklichkeit ermöglicht wird. Einfacher scheint es manchmal, sich von seinem Gegenstand emportragen zu lassen. Russland ist dafür perfekt: Es erfüllt als Sehnsuchtsort fast alle Wünsche und taucht zugleich den Autor, der sich dorthin wagt, in eine Aura des Abenteuers. Exotisch ist es schon durch seine bloße Ausdehnung; es gilt als gefährlich, auch wenn der Nimbus der Gefahr die tatsächlichen Risiken um ein Hundertfaches übersteigt; es ist ein Gegenentwurf gegen westlichen Materialismus, Liberalität, Spießertum. In den letzten Jahren scheint es unter einem wahnsinnig gewordenen, korrupten Regime auch tatsächlich zum Abgrund zu drängen. Der gewaltsame Anschluss der Krim wirkt fast wie das Fressfieber eines Krebskranken, der innerlich zerfällt und desto mehr wie wild alles in sich hineinstopft. In welcher Form Russland diesen von langer Hand geplanten psychopathischen Ausbruch von Nationalfaschismus und Hurrapatriotismus überleben wird, kann heute niemand sagen.

Schreckliche Bilder bietet Russland oft – langweilige selten. Die Berichte über dieses Land haben eine jahrhundertelange Geschichte. Von den Teilnehmern des Napoleonischen Feldzugs liegen ganz phantastische Schilderungen vor, die schon alle Qualitäten einer literarischen Reportage besitzen. Graf Philippe-Paul de Ségur hat den Kaiser begleitet und das, was er beschreibt, mit eigenen Augen gesehen. Dies und die präzise, geistreiche Sprache machen „Napoleon und die Große Armee in Russland“ zu einem Vorläufer der literarischen Reportage9: „auch rollen in demselben Augenblick einige matt gewordene Kugeln zum erstenmal bis zu den Füßen Napoleons“10. Das ist von Fakten unterfütterte Poesie.

Entwertet das Kriegsziel die Texte? Keineswegs. Kapuściński selbst hat in Afrika zur Waffe gegriffen, hat mit seiner Kalaschnikow geschossen, und Roman Kurkiewicz, als Priesterschüler ebenso fanatisch wie als Kommunist, hat ihn öffentlich dafür gelobt.

Kurz nach der Oktoberrevolution wurde die Sowjetunion von vielen gerade als Vorreiter einer neuen Zivilisation wahrgenommen, die gewaltsam von einer Morgenröte der Menschheit kündete, und auch hier zeigt sich, wie wenig auf das Sehen Verlass ist, wie sehr Berichterstatter sich von der Linse blenden lassen, die sie aufgesetzt haben: Einen „sozialistischen Märchenonkel“ nennt Claudius Seidl, Feuilletonchef der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung, Egon Erwin Kisch, der oft als Begründer der literarischen Reportage bezeichnet wird. „Ein Mann mit einem durch und durch ideologischen Weltbild. Der wusste schon, was er von den Leuten zu halten hat, lange bevor er mit ihnen gesprochen hatte.“11 Man kann Kischs Reportagen aus der Sowjetunion trotzdem auch heute mit großem Vergnügen lesen, weil die Vielzahl genauer Beobachtungen den Leser entschädigt. Auch sprachlich sind seine Berichte ein Genuss.

Sein Zeitgenosse Joseph Roth war ein Melancholiker mit weit weniger gefestigtem linkem Weltbild. Ihn haben die Reisen durch die frühe Sowjetunion eher desillusioniert. Während Kisch sich von roten Funktionären die vorbildlichen Betriebe und Brigaden vorführen ließ, weil ihm selbst der Ruf eines Sympathisanten der Revolution vorauseilte, drückte Roth sich in Zügen und Hotels herum und fand den Kontakt zu den einfachen Menschen12. Man erfährt fast ebenso viel über seine persönlichen Stimmungen (Einsamkeit. Lebensangst) wie über das Land. Bald sprach er enttäuscht von „Spieß-Proleten“13. Ein über den vermeintlichen Kleinkram des Konkreten erhabener Theoretiker wie Walter Benjamin schalt ihn dafür: „Wie üblich, muss das Land [ie Sowjetunion, Anm. d. Verf.] die Kosten für die Umfärbung der Gesinnung bei denen tragen, die als rötlich-rosa schillernde Politiker (im Zeichen einer ‚linken’ Opposition und eines dummen Optimismus) hier einreisen“14.

Nicht minder subjektiv nahm Oskar Maria Graf die Sowjetunion der 30er Jahre wahr. Zwischen offiziellen Terminen fällt ihm ein obdachloser Junge ins Auge, ein bezprizornik, und als er bei Maxim Gorki sitzt, überwältigt ihn die Zuneigung für diesen: „Ich schaute wieder auf Gorki, und seltsamerweise verfing sich dabei mein Blick im Gesicht der gespenstischen Engländerin. Irgendetwas wie ein mit Ekel vermischter Schauder stieg in mir auf. Leibhaftig, da saß der Dichter – und neben ihm wackelte ein Totenkopf! Ich biß die Zähne verstohlen aufeinander. Der Junge im Wald, dieser von einem wilden Leben kühn und hart gewordene, verschmitzte, nicht umbringbare Bursch sollte da gesessen sein, ja, ja!“15

Aus Grafs Bericht ist ebenso viel über die Sowjetunion wie über ihn selbst zu erfahren, und diese zwei Dinge müssen zusammenkommen, damit eine bedeutende literarische Reportage entsteht: das große Ereignis, die aufregende Wirklichkeit, und die Person des Autors. Seine lebensgeschichtliche Tiefe, seine innere Weite müssen der äußeren, beschriebenen Welt ebenbürtig sein, müssen ihr einen Hallraum bieten können.

Ein sanfter, leiser, poetischer und dennoch unbestechlich beobachtender Reporter wie Kapuściński wird nicht alle Tage geboren. Schlägt man nach Hugo-Bader hektisch-schrillen Jagden das Imperium wieder auf, so fühlt man sich in eine Zone der stillen Kontemplation versetzt, wie hinter einen Samtvorhang. Man muss das Wahrnehmungstempo drosseln, sich an eine fast kindgerecht verständliche Sprache gewöhnen. Wo Hugo-Bader das sozial Randständige, Abnorme fokussiert, erfasst Kapuściński die ganze Gesellschaft.

Oft genug leuchtet auch Kapuściński sich selbst ins Gesicht: Wie er in Workuta einen Strauß roter Nelken kauft, den er niederlegen will aus Respekt und im Gedenken an die toten Gulag-Häftlinge und erst keinen Platz findet, weil ihm überall zu viele Menschen sind, bis der Strauß schließlich vom Frost erschlafft und mürbe ist – da geht die Reportage unmerklich in Literatur über, trifft sich die Bedeutung des Gegenstandes mit der Größe dessen, der ihn sieht und beschreibt.

Während Mariusz Wilk sich in seiner nordrussischen Abgeschiedenheit der Illusion hingeben mag, die Welt unverspiegelt zu sehen, erleben wir an den westlichen Rändern des russischen Imperiums, wie die Propaganda – eine ganz und gar literaturferne Art der Darstellung und Verfälschung von Wirklichkeit – mörderische Kräfte ins Leben ruft, die die Realität ihrerseits verändern werden. So wie in Lewis Carrolls Through the Looking-Glass ist hinter dem Spiegel nicht die nackte Realität zu entdecken, sondern ein Wunderland: Grausamer und gewaltsamer als alles, was wir seit langem aus den dortigen Bloodlands gewohnt waren. Es braucht Mut, um sich als Reporter heute in diese Gegenden zu wagen. Den tschetschenien-gestählten Arkadij Babtschenko zieht dieses Risiko an. Viele andere werden es im Interesse ihrer leiblichen Unversehrtheit vorziehen, ihr Image als unerschrockene Reporter auf ungefährlichere Art zu pflegen.

1 Nowa Europa Wschodnia Nr. 1/2014, S. 168. Patrząc na Wschód. Przestrzeń. Człowiek. Mistycyzm“ (Fundacja Sąsiedzi, Białystok 2013).

2 SPIEGEL, 16. August 2010.

3 Vgl. polenplus, Heft 4, MännerMachtSpiele, S. 56-61.

4 Mariusz Szczygieł in seiner Vorbemerkung zu Biała gorączka von Jacek Hugo-Bader, S. 5.

5 Ebd., S. 11.

6 Ebd., S. 5.

7 Artur Domosławski: Kapuściński Non-Fiction, Warszawa 2010, S. 522.

8 Wojciech Jagielski: Wieże z kamienia (über Tschetschenien, 2004); Dobre miejsce do umierania (über den Kaukasus, 1994 und erneuert 2005)

9 Philippe-Paul de Ségur: Napoleon und die Große Armee in Russland, aus dem Französischen von Joseph Appollinaris Honoratius von Theobald. Birsfild-Basel 1965.

10 Ebd., S. 163.

11 Der Journalist, 30. Mai 2011.

12 Joseph Roth: Reise nach Russland. Feuilletons Reportagen Tagebuchnotizen 1919-1930. Hg. Klaus Westermann, Köln: Kiepenheuer & Witsch 1995.

13 Ebd. S. 290.

14 Tagebuch, zit. im Nachwort von Klaus Westermann, S. 291-292.

15 Oskar Maria Graf: Reise nach Sowjetrußland 1934, Berlin: Verlag der Nation 1977, S. 84.