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Rezension

Christian Skrzyposzek. "Freie Tribüne"

Rotbuch Verlag: Berlin 1983.

"Polen, 1994. Die Regierung schenkt dem Volk zum 50. Jahrestag der Revolution ein Haus, die Freie Tribüne. In den Zimmern stehen Schreibmaschinen, an denen jeder Bürger frei und unzensiert seine Meinung aufschreiben kann."

So steht es auf dem Deckel des Buches, das wir hier zu besprechen haben, und beschreibt das äußere Gerüst eines Romans, der es dem Leser nicht leicht macht und zu Mißverständnissen geradezu einlädt. Dabei ist dies eines der ungewöhnlichsten und faszinierendsten Gebilde der neueren polnischen Literatur und hätte es nicht verdient, im Strudel der hierzulande sich abzeichnenden Polenmüdigkeit unterzugehen, verkannt womöglich und unterschätzt als ein Sammelsurium satirischer Sketche auf die Unzulänglichkeiten des polnischen Sozialismus. Was finden wir aber auch nicht alles beim ersten Durchblättern: Politische Intrigen, Bombendrohungen, einen zartbesaiteten Polizeispitzel, der von seinen homoerotischen Erlebnissen erzählt, eine ganz unverschämte Putzfrau, einen geilen Heizer, junge Arbeiterinnen, die sich für ein paar Dollar prostituieren, auch langatmige revolutionäre Prediger und sogar einen positiven Helden, der graniten im allgemeinen moralischen Verfall ausharrt - diese und ungezählte andere Menschenwesen kommen in der „Freien Tribüne" zu Wort. Da mag man versucht sein, das Buch blätternd zu nehmen, meldet sich doch alle paar Seiten ein neuer Erzähler zu Wort und scheint die Handlung, kaum daß sie spannend geworden, schon von einer neuen Episode abgelöst.

Es sei aber gleich gesagt: Episodenhaft ist in dem raffiniert durchdachten Organismus dieses Romans kaum etwas, fast alles hängt zusammen, und - Blättern ist verboten! Um in die Tiefen dieser literarischen Welt zu gelangen, gilt es, der Chronologie der Eintragungen geduldig zu folgen. Denn dann gewahrt man plötzlich ganze Romane, die sich, kaleidoskopartig zersplittert, in der Konstruktion verstecken und andere Eintragungen wie Fremdkörper in sich tragen, bis beim Weiterlesen diese Fremdkörper selbst vertraut werden und eigenes Leben entwickeln, sich zu einem Politroman, einer Liebesgeschichte oder einem Schelmenroman auswachsen. Je besser das Gedächtnis des Lesers, desto vielschichtiger wird dieses Gespinst von Äußerungen, in dem jedes Bewußtsein eigenes Sein spiegelt und der Traum des einen zur Wirklichkeit des anderen wird. Denn so ließe sich das raffinierte Prinzip der Erzählkonstruktion beschreiben; an einer Stelle finden wir es, mundus in gutta, ganz deutlich: Da beobachtet der positive Held am Weichselufer ein kleines Mädchen, wie es mit der Haarnadel wollüstig einen Frosch ersticht, der ihm zwischen die Beine drängt, und gleich nebenan träumt der Polizeispitzel, der dem Helden folgt wie sein zweites Ich und es vielleicht gar ist, seinen liebsten Traum: Er sei ein Mädchen... und läge an der Weichsel, einen eklig erregenden Frosch zwischen den Beinen. Sieht nun der eine des anderen Traum? Träumt der eine die Wirklichkeit des anderen? Dem Leser wird im Geiste leicht schwindlig bei solchem Verflimmern der Wirklichkeiten, und er, der an die Verläßlichkeit der dargestellten Welt gewohnt ist, muß den Mut finden, sich in dieses Spiegelkabinett unzähliger, weil endlos sich spiegelnder, verzerrender Wirklichkeiten, zu versteigen.


Die Hauptfiguren dieses Romankaleidoskops treffen sich in und außerhalb der „Freien Tribüne“, sie kennen sich, und mancher, der uns eben noch seinen geheimsten Kummer gebeichtet, seine unanständigsten Sehnsüchte verraten oder ganz einfach ordinäre Frechheit bewiesen hat, taucht bald darauf in den Äußerungen eines anderen wieder auf - von außen besehen. In diesem Wechselspiel von Innen- und Außensicht liegt der Reiz der ganz revolutionären Konstruktion des Romans, und es macht zugleich die Schwierigkeit für den Leser aus, der in diesem Falle der wichtigste Erzähler ist. Von seiner Kunst nämlich hängt es ab, wie weit sich der Reichtum des Werkes ihm öffnet. Gefordert wird er zudem von einer weiteren grandiosen Schwierigkeit dieses Romans: Seiner expliziten Polyphonie. Jeder spricht hier, wie ihm der Schnabel gewachsen ist; man erkennt bald, daß da mündliche Rede auf dem Papier gerinnt - so falsch, so unbeholfen kann man einfach nicht schreiben. Durch das faselige Gerede der Tunte etwa scheint nackter Wahnsinn hindurch, wenn sie sich in der eigenen Syntax verliert, Halbsätze und Halbgedanken noch mitrafft im dystonischen Gehetztsein - ein haltloses, gequältes Bewußtsein, das da in der Sprache zappelt. Die Putzfrau Hinterhaupt, die als einzige in diesem realsozialistischen Alptraum Karriere macht - sie grunzt ihre Sätze, die in grammatikalischer Unbekümmertheit ganz eigenen Rhythmus gewinnen, mit der Energie einer Wildsau heraus; dem Leser bleibt der Atem weg, bis sie endlich ihren Wischlappen nimmt und verschwindet. Der Heizer, der seine konjunktivfreien Sätze einen auf den anderen lädt, als stapelte er Koks, und der im Alkoholrausch doch zu ganz ergreifenden Elegien fähig ist. Oder anonyme Theoretiker, die sich seitenlang im Stil der Frankfurter Schule verbreiten, als hinge alles Heil dieser Welt davon ab. Oder...

An ihrer Sprache sollt ihr sie erkennen, und tatsächlich ist es dem genialen Stilisten Skrzyposzek gelungen, jedes Bewußtsein in unverwechselbarer Zunge sich äußern zu lassen. Ein Genuß für das innere Ohr, sich auf den Wildwuchs dieser ungeglätteten, oftmals widerborstig sich lesenden Selbstdarstellungen einzulassen und der inneren Logik ihrer sprachlichen Verkrüppelung zu folgen. Fast jeder spricht da so aufrichtig und rücksichtslos, als schriebe er Tagebuch, und nicht selten sind wir vom existentiellen Leid, das uns offenbart wird, wahrhaft betroffen: Bei all seiner weibischen Häßlichkeit nehmen wir dem homosexuellen Spitzel doch ab, daß die übermächtige Frau in ihm nach Liebe sucht, und so wird ausgerechnet diese Gestalt, wohl eine der ungewöhnlichsten Liebenden der Weltliteratur, zur lebendigsten und menschlichsten des Buches. Aber wie alle, die hier sprechen, sich in ihrer Hoffnung auf Gehör schließlich enttäuscht sehen, so zerschellt auch die Tunte an der Unnachgiebigkeit des positiven Helden, der wohl vor allem als Karikatur jeglichen Positivismus' in der Landschaft steht. Liebe will nicht sein, und das Gespräch findet nicht statt.

Die hypertrophe Erotik dieses Autors, der vor keiner physischen Nahaufnahme zurückschreckt, mag gerade für diesen existentiellen Mangel einer Gesellschaft stehen, in der die staatlich inszenierte Sprechbühne den freien Austausch der Meinungen ersetzt. Aber des einen Traum wird des anderen Wirklichkeit, sagten wir, und tatsächlich - das staatlich observierte Bewußtsein wächst bald aus der ihm zugedachten Projektionsebene heraus, es wird dreidimensional, es wird zum handelnden Sein, und der Volkszorn, der lange auf kleiner Flamme kochte, macht sich endlich auf der Straße Luft. Da greift dann ein Über-Erzähler ein, der unsere ganze märchenhaft, traumhaft zerbrechliche Spiegelwelt nur von außen kennt, und der die nach innen sich erstreckende Weite der Seelen, die sich uns offenbart haben, nie erfahren hat: Er schreibt kyrillisch und erwartet als einziger Erzähler keine Antwort...

Ja, natürlich ist dies auch ein Buch über Polen.

L. Settembrini (vel Olaf Kühl)