Andrzej Stasiuk
Ich habe Glück gehabt im Leben.
Ich habe zwei Revolutionen aus nächster Nähe erlebt, und
beide waren erfolgreich. Beide brachen in meinem Land aus, und beide
haben Europa und die Welt verändert.
Die erste ereignete sich in den
Jahren 80/81 des vergangenen Jahrhunderts. Sie wurde zwar von den
Kommunisten niedergeschlagen und unterdrückt, doch setzten sie den
Zerfallsprozeß des Ostblocks in Gang. Ich saß damals im
Gefängnis, aber sogar dort, hinter den Mauern herrschte eine
Atmosphäre von Karneval. Freiheit lag in der Luft. Das Volk hatte
sich erhoben und rief: Jetzt sind wir dran, das ist unser Land, wir
wollen es regieren! Raus mit den Kommunisten, Iwan go home, Solidarność
über alles! Mein Gott. Was für Idioten wir waren. Mein Volk
war durchgedreht. Es hatte kollektiv den Verstand verloren. Vor der
Nase der Sowjets, die am liebsten immer gleich Panzer schickten - so
wie 1953 in Berlin, 1956 in Budapest und 1968 in Prag - veranstaltete
mein Volk eine Art mitteleuropäischen Karneval von Rio, eine
Fiesta der Freiheit, ein Fest von Freiheit und Lebensgefühl. Ja,
wir waren Idioten, niemand stand hinter uns. Außer Amerika
natürlich. Europa hatte Rußland im Auge, es sorgte sich, was
Rußland davon halten würde, und wie wir so etwas tun
könnten: Die Russen ärgern. Das war schlimmer, als wenn wir
Faschisten oder Maoisten geworden wären. „Haben noch nicht
arbeiten gelernt und streiken schon, polnische Wirtschaft!“ Wenn wir
darauf gehört hätten, wären wir heute ganz schon am
Arsch. Wir wären dort, wo heute Kasachstan ist. Zum Glück
waren wir Idioten. Dumme kleine Polen, denen immer irgendwas nicht
paßt. Im Westen unterstützten uns Leute, die genauso
verrückt waren wie wir. Sie schickten oder schmuggelten Papier,
Farben und Druckmaschinen statt Dynamit, Heckler und Koch-MGs und
schwarze Kapuzen mit Augenöffnungen. Eine ganz erstaunliche Utopie
wurde wahr. Die Russen trauten ihren eigenen Augen nicht. Der Westen
schon, aber er hatte Angst vor den Russen. Amerika traute seinen Augen
und hatte trotzdem keine Angst. Und mittendrin ging ein
Arbeiter-Intellektuellen- und Bauern-Karneval ab, wie in einem
anarchosyndikalistischen Traum. Ein Narrenschiff, ein Kinderkreuzzug,
die slawische Neigung zur Selbsttäuschung und zur
Selbstvernichtung. Ja, wir waren die Dummen Europas, wir waren die
heiligen Narren des Kontinents. Was wir taten, war unkalkuliert.
Niemand berechnete Gewinn oder Verlust. Nur eine Regel galt: Diesmal
kein Blutvergießen. Wałęsa, der Mahatma Ghandi mit Schnurrbart.
Natürlich ist das nicht
gelungen. Es konnte nicht gelingen. Panzer fuhren auf die
Straßen. Aber es waren unsere, polnische Panzer. Gut zehntausend
Menschen wurden eingesperrt, aber niemand sah oder hörte auch nur
einen einzigen Russen. Also ein Sieg in der Niederlage. 1981 hatte die
Freiheit wie ein dreister Vertreter den Fuß in die Tür
gesetzt und sollte ihn nie mehr zurückziehen. Die Menschen
wußten jetzt, daß etwas möglich war, aber sie
spürten, daß man noch warten mußte. Daß man
einen alternativen Staat im Untergrund aufbauen mußte, der in der
Stunde Null zur Stelle wäre. Völlig absurd: Eine
Alternativwirklichkeit mitten in Europa, am Ende des 20. Jahrhunderts.
Kompletter Schwachsinn, wie billige Science Fiction. Ein
Untergrundstaat wie unter deutscher Besatzung. Schizophrenie.
Fieberwahn. Aber es funktionierte. Ich selbst machte mit. Mir war wie
in einem Film. Irgendwo zwischen Monthy Python und Brave Heart Gibson.
Ohne diesen Film wären wir heute Tadschikistan.
Die zweite Revolution begann 1988.
Sie dauert bis heute an, im Grunde hat sie schon gesiegt. In jenem Jahr
1988 lebte ich in einem Dorf am Ende der Welt. In dem Sommer besuchte
mich ein Haufen alter Freunde. Anarchisten, Alternative, Mariuhana,
Natur, seliges Dämmern, Schläfrigkeit, Ferienzeit, make
peace, not war, Ironie und Kontemplation in einer idyllischen
Gebirgslandschaft. Und plötzlich hört jemand im
Transistorradio auf Radio Free Europa die Meldung, an der Ostsee
hätten Streiks begonnen. In wenigen Stunden waren alle wie vom
Erdboden gefegt. Sie wollten unbedingt dort hin. Sechshundert
Kilometer, schwarz oder per Anhalter. „Denn es geht los.“ Ich blieb
allein zurück. Ich konnte ja schließlich meine Schafe und
Ziegen nicht mitnehmen. Ein Jahr darauf fiel die Berliner Mauer.
***
Seither sind viele Jahre vergangen.
Es ist Frühling, ich sitze und denke an Europas heroische Zeit
zurück. Weil mir langweilig ist. Weil ich allmählich die
Hoffnung verliere. Die Neugier darauf, was noch kommen wird. Um sie
nicht ganz zu verlieren, gehe ich auf Reisen. In den Osten und in den
Westen. Ich versuche, mir alles zu merken, was geschieht. Versuche, die
Veränderungen wahrzunehmen. Dann versuche ich, sie aufzuschreiben.
Irgendjemand muß das tun. Aber es verändert sich wenig, und
die Beschreibung ist nicht sehr schwer. Wenn ich in den Westen fahre,
fragt man dort: Wann werdet ihr endlich so reich sein wie wir. Fahre
ich in den Osten, höre ich: Wann werden wir endlich reich genug
sein. Wenigstens so reich wie der Westen. Der Westen fragt: Wann werden
sie endlich kein Geld mehr von uns wollen, wann werden sie selbst
welches haben. Der Osten fragt: Wann werden wir endlich so viel haben,
daß der Westen uns nicht mehr verachtet. Wohin man fährt,
immer dasselbe Lied. In Kischinjow, in Berlin, in Stockholm, in
Warschau, Tirana und in Paris. Überall Lächeln und Heuchelei.
Du sitzt im Kaffeehaus in Wien, sprichst eine slawische Sprache, und am
Nebentisch prüfen sie schon unauffällig, ob ihre
Portemonnaies noch da sind. Du verständigst dich am Prager Bahnhof
auf Englisch oder Deutsch, schon nimmt das Taxi eine völlig
sinnlose Route, als wollte der Fahrer dir die ganze Stadt zeigen.
Nichts hat sich verändert. Verachtung und Gier. Angst und
Gerissenheit. Am Wochenende saufen und kotzen die Engländer in den
Straßen von Krakau. Die Polen arbeiten auf den Baustellen und in
den Kneipen von London. Die Deutschen publizieren weiterhin Fotos von
polnischen Fuhrwerken, Kühen an Ketten und zahnlosen Alten. Wenn
sie höflich sein wollen, fangen sie an, Russisch zu sprechen.
Dasselbe tun höfliche Polen bei der Begegnung mit Ukrainern. In
ihren Zeitungen veröffentlichen sie Fotos von zahnlosen
ukrainischen Alten und akkordeonspielenden Säufern. Nichts hat
sich verändert. Dafür liebe ich meinen Kontinent. Für
die Beständigkeit. Gier und Angst. Verächtlichkeit und Scham.
Zwei Rotzbengel aus Polen haben in Brüssel einen jungen Belgier
getötet, weil er seinen MP3-Player nicht rausrücken wollte.
Endlich ist alles normal. Die Engländer wollen billige Nutten in
Krakau. Die Polen MP3-Player, aber umsonst. Die Deutschen magere
Kühe an Ketten in ihren Zeitungen. Endlich haben wir alles
gemeinsam. Auch Lukaschenko gehört eigentlich zu uns. Er ist
Europäer. Er ist Teil unseres Erbes. So wie der
Marxismus-Leninismus, so wie die Denkmäler von Wladimir Iljitsch
in den endlosen Maisfeldern Moldawiens. Das wird mir immer klarer. Das
läßt sich nicht vergessen, nicht ausradieren. Das war einmal
in Europa. So wie das Gefängnis in Belene, wo die bulgarischen
Kommunisten mit ermordeten Häftlingen die Schweine fütterten.
So wie Sanssouci und die Gotik, die Renaissance und der Barock. So wie
die Kuh an der Kette. Das spüre ich immer deutlicher. Den ganzen
Rest dort, den wir am liebsten da drüben lassen würden in der
Hoffnung, er würde sich in Nichts auflösen, in Lüge und
Halluzination, in die Vergangenheit eines anderen. Zum Beispiel der
zahnlosen Alten mit der Kuh an der Kette, die einer besoffenen
ukrainischen Ziehharmonika lauscht.
Ich habe Glück gehabt im Leben.
Ich habe mehrere erfolgreiche Revolutionen gesehen. Und selbst wenn sie
scheiterten, waren sie nach Jahren doch irgendwann erfolgreich. Und
jede von ihnen hat bewirkt, daß dieser kleine Kontinent, diese
lachhafte Halbinsel an der Spitze einer gigantischen Landmasse, dieser
von endlosen Wassern umspülte Zipfel Land auf wundersame Weise ein
bißchen größer wurde, ohne seine Konturen auch nur ein
Jota zu ändern. Und dadurch hat er seine eigene Katastrophe auf
unbegreifliche Weise immer wieder ein Stück hinausgeschoben.
© Deutsch von Olaf Kühl