Andrzej Stasiuk
(Laudatio zur Verleihung des Karl-Dedecius-Preises am 3.
Juni 2005 in Krakau)
Wenn die Erinnerung mich nicht trügt, traf ich Olaf
Kühl zum ersten Mal in Frankfurt am Main am Bahnhof Frankfurt-Flughafen. Ich kam
gerade aus Polen, stand einsam am Bahnsteig und gewärtigte das Schlimmste, denn
wir sollten zu einer Lesereise mit der deutschen Übersetzung meines „Weißen
Raben“ aufbrechen. Der Übersetzer war natürlich Olaf. Nicht auszuschließen, daß
ich damals zum ersten Mal im Leben geflogen bin. Ich hatte finstere Gedanken
und wartete auf Gott weiß wen. Denn so wie ich bisher nie geflogen war, hatte
ich auch noch nie einen Übersetzer zu Gesicht bekommen, geschweige denn den
Übersetzer meiner eigenen Bücher.
Dann tauchte er plötzlich auf, wie Phönix aus der Asche,
sagte „Guten Tag, ich bin Olaf Kühl“, und reichte mir die Hand.
Ich hatte nichts, womit ich auftrumpfen könnte. Ich war das
erste Mal in Deutschland, das erste Mal in Frankfurt, ich konnte kein Deutsch,
ich hatte keine Ahnung, wohin ich fahren und was ich machen sollte, und dieser
Typ da im schwarzen Sakko war mir völlig unbekannt. Er wiederum hatte alle
Trümpfe in der Hand: er konnte Deutsch und Polnisch, er war in seinem eigenen
Land, er sollte mein Reiseleiter und mein Babysitter sein, und zudem kannte er
mich in- und auswendig, denn er hatte ja mein Buch übersetzt.
Was sollte ich tun... Ich griff nach meinem Rucksack, zog
die angebrochene Flasche Jim Beam heraus und schlug vor, erst einmal einen zu
trinken. Olaf erwiderte mit steinernem Gesicht: „Nein, danke.“ Also trank ich
allein. So fing es an.
***
Die meiste Zeit verbrachten wir in Zügen. Wir reisten
kreuz und quer durch Deutschland. Sogar einen Schlenker über Frankreich und die
Schweiz haben wir gemacht. Eine Lesereise mit mehreren Stationen und
Autorenabenden ist der reinste Surrealismus. Man fährt hunderte, sogar tausende
von Kilometern, nur damit einem hinterher alles wie ein langer Traum vorkommt:
Soviele Ereignisse, aber im Grunde ist nichts wirklich passiert. Bahnhöfe,
Züge, von der Fahrgeschwindigkeit verwischte Landschaften, Literaturhäuser,
Buchhandlungen, dann ein Abendessen in der Gesellschaft der Veranstalter,
danach Hotel und Schlaf. Am Morgen riefen wir uns an, um auszumachen, wann wir
uns zum Frühstück treffen. Danach wieder Bahnhof, Zug, Hotel und so immer
weiter...
***
Wenn ich trotzdem etwas über Deutschland und die
Deutschen weiß, dann verdanke ich das in erster Linie Olaf. Er übersetzte meine
Bücher ins Deutsche, aber er übersetzte mir zu meinem Privatgebrauch
gleichzeitig auch die deutsche Art des Seins. Er tat dies unangestrengt, mit
leichter Hand, bei passender Gelegenheit, indem er während eines gewöhnlichen
Gesprächs plötzlich ernsthafte Dinge sagte. Es kommt mir so vor, als hätten wir
ganz einfach stundenlang geredet, um uns die Reisezeit zu verkürzen, doch auf
diese Weise habe ich Lektionen in deutscher Geschichte, Psychologie,
Geographie, Kultur, den Sitten und sonst was erhalten. Außer dem heutigen Preis
sollte Olaf eine Medaille des Auswärtigen Amtes bekommen, so etwas wie den
Titel eines Ehrenbotschafters, denn ich kenne niemanden, der besser das
polnische Wesen ins deutsche und umgekehrt übersetzen könnte. Außerdem bedenken
Sie bitte, daß es polnische Schriftsteller sind, denen Olaf das deutsche Wesen
erklärt, und Schriftsteller – besonders die polnischen – haben bekanntlich
einen ungeheuren Einfluß auf ihre Leser, im Grunde also auf die gesamte Nation.
Und so wie Olaf ihnen das Deutsche darstellt, so geben sie es an das polnische
Volk weiter.
***
Während einer unserer literarischen Reisen
unterhielten wir uns über Stereotype, verbreitete Vorurteile und ähnliches. Ich
fragte Olaf, welcher Menschenschlag als der dümmste in Deutschland gilt, über
welche Region, welches Land die meisten Witze gemacht werden. „Über uns
Friesen“, antwortete er mit seiner berühmten stoischen Ruhe.
Eines Morgens kam Olaf zum Frühstück und sagte: „Ich hatte
einen Traum.“ „Was hast du geträumt, Olaf?“ „Ich träumte von Präsident Putin,
der sagte: Ihr Deutschen solltet nur an den Holocaust denken.“
Eines Tages brachen Olaf und seine Frau Elzbieta von unserem
Haus in Polen zu einer Reise auf. Olaf bestand darauf, daß man bedeutend früher
am Bahnhof sein sollte, Ela jedoch hielt es für ausreichend, wenn man wenige
Minuten vor der Abfahrt am Bahnhof wäre. „Du bist nicht einmal Polin, du bist
eine Zigeunerin“, meinte Olaf resignierend.
***
Ja, ich mag sein steinernes Gesicht und seinen Witz.
Niemals konnte ich erraten, was er denkt, aber immer war ich sicher, daß seine
Gedanken intuitiv das Banale meiden. Ich hatte auch niemals eine Ahnung, wie er
meine Bücher übersetzt. Womöglich hat er sie neu geschrieben, damit sie im
Deutschen halbwegs sinnvoll klingen. Darin besteht doch im Grunde die Aufgabe
des Übersetzers: im Neuschreiben. Im Schreiben eines eigenen Buches. Das
Übersetzen von Literatur ist das Übersetzen einer Kultur in die andere. Nur der
Übersetzer weiß, wie viele Bedeutungen ein Wort wirklich in sich trägt und wie
schwierig es ist, die passende Bedeutung zu wählen. Der Schriftsteller kann ein
Idiot sein, der seinem Instinkt folgt. Der Übersetzer niemals. Eigentlich
sollte jeder Schriftsteller eine Heidenangst vor seinem Übersetzer haben. Denn
einen scharfsinnigeren Leser als den Übersetzer gibt es nicht. Der Gang über
das brüchige Eis der Übersetzung, die Wanderung durch das wilde Grenzland zwischen zwei Sprachen ist eine
gnadenlose Schule der Wachsamkeit und der Bedeutung, es ist die härteste
Prüfung der Intelligenz, des musikalischen Gehörs und der menschlichen
Empfindsamkeit.
Olaf, ich freue mich sehr, daß du diesen Preis bekommst, und
ich bin stolz, daß du unter anderem auch meine Bücher übersetzt.
Ende