Die Kunst, die Zeit und der Ort

Der Ort, an dem 1995 Eleonore Straubs und Günter Harings Installation „Vorrang” zu sehen war, ist das ehemalige Haus der russischen Offiziere in der Hegelallee 25-26 in Potsdam. Eine Recherche in Potsdamer Archiven zeigt, daß dieses Gebäude seit seiner Erbauung im 19. Jahrhundert von kaum einer historischen oder politischen Entwicklung unberührt blieb, daß es gebraucht und mißbraucht wurde, und daß es damit selbst als geschichtsträchtiger Rahmen erst die Voraussetzung dafür schafft, daß die Arbeit der beiden Künstler in ihrer ganzen Vielstimmigkeit zum Klingen kommt. Diese Ortsspezifik des Werkes von Eleonore Straub bringt mehrere Epochen der Geschichte auf frappierende Weise in Verbindung.

Die Wagnermusik, die aus dem Orchestergraben vom Band erklingt und deren musikalische Dynamik die Vorfahrt-Leuchtboxen steuert, ist das eingefrorene Echo eines historischen Konzerts des Berliner Philharmonischen Orchesters unter Wilhelm Furtwängler, das am 30. Juni 1942 aus Anlaß der „Festlichen Musiktage Potsdam” erklang. Dieses Konzert war kein Einzelereignis. Es stand ganz in der Tradition des Hauses, das von Anfang an als Theater und Konzerthaus konzipiert war. 1865 wurde auf der Grundlage der seit dem frühen 19. Jahrhundert in der Vorstadt vorhandenen Gartenhäuser ein Saalbau errichtet, der bald zur Stätte einer sich damals rege entfaltenden Vereinstätigkeit wurde.

Seit 1869 trug das Gebäude den Namen „Thalia-Theater” und diente als Bühne des gleichnamigen Vereins, einer von bürgerlich-emanzipatorischen Idealen inspirierten Kulturbewegung. Später wird das Gebäude als Konzertsaal bezeichnet, 1903 liest man „Concerthaus”. Die direkte Nähe zum Park von Sanssouci begünstigte hier jede Art von Restaurationsgeschäft. Allmählich erweitert sich das Angebot, wird auch im Garten ein Ausschank eingerichtet. Auch in der Weimarer Zeit blieb das Gebäude ein beliebter Tagungs- und Veranstaltungsort. So feierte hier der Verein der Rheinländer seine rauschenden Faschingsbälle. Die Vielfalt der Nutzung veranschaulichen folgende drei willkürlich gewählte Daten: 26. Mai 1925: „Theaterabend” der Ruderriege am Rechgymnasium. 23. September 1928: Tagung der Brandenburgischen Betriebskrankenkasse; 9. März 1931: „Schinkelfeier” des Potsdamer Kunstvereins, des Vereins für die Geschichte Potsdams und des Museumsvereins der Stadt Potsdam. Schauspieler wie Grete Weiser und Hans Albers fuhren hier mit der Kutsche vor, schon erwartet von Dienern im weißen Livrée und mit Schiffermannsmützen. 1924 war die Decke des großen Saales aufwendig verschalt worden. Am 31. Oktober 1929 wurde das Konzerthaus nach einem Um- und Neubau nach Plänen des Architekten Gustaw Kattwinkel aus Berlin-Grunewald wiedereröffnet.

Die bedrohliche politische Entwicklung warf ihre Schatten voraus: Tagte am 13. Februar 1933 im Haus noch eine SPD- Versammlung, so trifft sich hier danach schon die NSDAP. Am 11. Oktober 1935 feiert die 1. Kompanie J.R.S. ihren Abschied. Am 10. Februar 1940 gibt es ein „Abschieds-Tanzfest” von S. Loebenstein. 1943 findet man in den Bauakten bereits den Zusatz „Konzerthaus Potsdam – Kraft durch Freu-de”. Die Zwänge des Krieges lassen auch den Plan aufkommen, das Konzerthaus als Lazarett zu nutzen. Dieser Plan wird aber bald wieder aufgegeben, die schon auf dem Grundstück gelagerten farbigen Mauersteine für das Rotkreuz-Symbol werden wieder abtransportiert. Der Besitzer Rudolf Kutsch betreibt in seinem Haus inzwischen einen Werkküchenbetrieb für 1200 Rüstungsarbeiter und beantragt wegen des steigenden Lagerbedarfs die Genehmigung für bauliche Veränderungen.

Nach dem II. Weltkrieg werden die Konzerte eine Zeitlang weitergeführt. Am 26. Mai 1945 findet hier ein „Populäres Opernkonzert” statt. Kurz darauf wird das Haus von der Roten Armee beschlagnahmt und zum „Haus der sowjetischen Offiziere” gemacht.

Von nun an bleibt der deutschen Bevölkerung das Innenleben des Gebäudes mehr oder weniger verschlossen. Wie der unter sowjetischer Vorherrschaft stehende deutsche Teilstaat, schottet sich nun das Haus nach außen ab. Als einziges sichtbares und wenig spontanes Zeichen der „unzerstörbaren deutsch-sowjetischen  Freundschaft" (so eine Potsdamer Zeitungsmeldung) wird am 20. April 1970 eine lebensgroße Lenin-Bronzestatue enthüllt, die, inzwischen unter Denkmalschutz stehend, bis heute vor dem Haus wacht. Es handelt sich um eine Kopie des Lenin-Denkmals des Bildhauers Matwej G. Maniser in Uljanowsk. Aus Anlaß der Enthüllung sprechen der sowjetische Generaloberst E. E. Malzew und der 1. Sekretär der Bezirksleitung Potsdam, Werner Wittig.

Es klingt wie eine Ironie der Geschichte, daß die erste Adresse des Hauses im 19. Jahrhundert „An der Mauer” lautete. Namensgeber war nicht das Bauwerk, das die DDR-Propaganda in goebbelsch-stalinistischer Verdrehung der Wahrheit als „Schutzwall” bezeichnete, sondern die im 19. Jahrhundert errichtete Stadtmauer um Potsdam. Als architektonische Reste sind von dieser Mauer heute noch drei Tore erhalten. In der Nähe der Hegelallee steht das Jägertor.

Seit der Wende wirkt das Gebäude von außen verwaist, die umgebende Anlage verwahrlost zusehends. Wer das Haus aber betritt, der kommt aus dem eher tristen Potsdamer Straßenalltag in eine andere Welt. Er erkennt, daß Eleonore Straub und Günter Haring mit ihrer Kunst das Gedächtnis dieses Ortes aufwecken. Ihre Arbeit evoziert die unterschiedlichen Aspekte der Nutzung des Hauses als Tagungsort, als Spiel- und Vergnügungsstätte, als Konzerthaus — mit einem Wort: als Ort der Kommunikation. Vor allem aber ist die Arbeit der Künstler mit der und über die Geschichte des Hauses inzwischen selbst zu einem Teil seiner Geschichte geworden. Und dieser Teil läßt auf die Zukunft hoffen.

Olaf Kühl