taz Bremen vom 28.4.2005, S. IV, 119 Z. (Interview), Friederike Gräff

Frische Augen

Ein Gespräch mit dem "Karl-Dedecius"-Preisträger und Übersetzer Olaf Kühl über deutsch-polnische Klischees und die junge polnische Literatur

taz: Warum ist das Polen-Bild der Deutschen so schlicht - so dass die Leute nach wie vor ausschließlich an Putzfrauen und Spargelstecher denken?

Olaf Kühl: Das liegt daran, dass Polen zu kompliziert ist. Polen ist viel komplexer als das, was wir hier rezipieren. Andrej Stasiuk hat das in seinem Theaterstück "Nacht" wunderbar aufgearbeitet. Er hat versucht, die gegenseitigen Stereotypen durch Lachen zu entlarven: die Deutschen als Nazis und reiche Juweliere und die Polen als Autodiebe. Da ist noch viel aufzuholen und gegenseitig zu lernen.

Und was würden Sie den Deutschen zuerst beibringen?

Polen ist zwischen den Kulturen hin und her gerissen. Es ist ein latinisiertes, katholisches Land, liegt aber mehr im Osten und hat beide Kulturerfahrungen gemacht. Und wenn man von Autodieben spricht: Die Polen klauen zwar die Autos, aber sie tun das für Auftraggeber aus Russland, der Ukraine und Kasachstan, nur steht das nicht im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit.

Eine gewisse Bekanntheit haben die "polnischen Versager" erreicht, die die deutschen Klischees über Polen zum Markenzeichen erkoren haben.

Ich finde, was dort passiert, gehört mit zum Interessantesten, was sich hier an polnischem Kulturleben zeigt. Das ist viel mehr und spontaner als das, was in der offiziellen Kulturarbeit stattfindet. Es ist Graswurzelarbeit, wo jeder auftreten und sich zeigen kann. Das finde ich ungeheuer spannend.

Aber andernorts setzt sich die politische Übermacht Russlands in der Literatur fort. In Deutschland scheinen russische Autoren wie Vladimir Sorokin oder auch Wladimir Kaminer deutlich bekannter als die Polen Andrzej Stasiuk und Wislawa Symborska.

Ich glaube, dass die Polen in letzter Zeit viel wett machen. Was mich am meisten freut, ist, dass die ganz jungen Autoren in Polen, die den so genannten Sozialismus gar nicht mehr miterlebt haben, die Vor- und Nachteile der neuen Ordnung mit ganz jungen, frischen Augen sehen. Als ich eines Tages Dorota Maslowskas "Schneeweiß und Russenrot" übersetzt habe, fand ich darin viel von Gudrun Ensslin. Das heißt, wir bekommen eine Gesellschaftskritik, die hier schon völlig eingeebnet ist, weil alle in Konsum-Lethargie hindämmern. Ich hoffe, dass das mit der Zeit hier deutlicher wahrgenommer wird - und diese Literatur hat es mindestens so sehr verdient wie Jerofejew und Sorokin.

Da benutzen Sie ein Bild, das es schon um die Jahrhundertwende gab: Der korrumpiert-materialistische Westen gegenüber dem unverdorben-vitalen Osten.

Ich meine das nicht im Sinne der alten Kulturkritik am erschlafften Westen. Sondern es gibt bestimmte Auf-und Ab-Bewegungen in der gesellschaftlichen Entwicklung. Und in Deutschland haben wir nun mal im Vergleich zu den 60er/70er Jahren ein ziemlich dumpfes Allgemeingefühl.

Man klagt hier oft, dass die junge Gegenwartsliteratur kaum über den Horizont der ewig-gleichen Stehparty-Szene hinausschaue. Ist die polnische Gegenwarts-Literatur welthaltiger?

Sie wird es. Wojciech Kuzcok, Piotr Siemon oder Mariusz Sieniewicz oder die vielen Frauen, die es da gibt, Olja Tokarczuk. Ich sehe da nicht den großen Unterschied zur neueren deutschen Literatur, aber es gibt da schon sehr genaue Diagnosen der polnischen Wirklichkeit.

Interview: Friederike Gräff