12.03.2009

LITERATUR: Kontrollierte Psychose

Olga Tokarczuk las in Potsdam

POTSDAM - Ein Autor habe die moralische Verpflichtung, immer anders zu sein, als das Publikum es erwarte, sagte Olga Tokarczuk mit stolz in die Luft gestrecktem Kinn. „Wir müssen dem Image entgegenwirken, das die Öffentlichkeit von uns erschaffen will.“

Dass die preisgekrönte polnische Autorin diese Mission mit Leidenschaft betreibt, wurde auf der Lesung am Dienstag im Potsdamer Literaturladen Wist auf den ersten Blick deutlich: Statt mit jungenhaft kurz geschnittenem Haar wie auf dem Autorenfoto ihres neuen Buches erschien Olga Tokarczuk mit einer an eine Palme erinnernden Frisur aus halblangen Rastalocken.

So knallig wie ihr pinkes Stirnband verlief dann auch das Gespräch mit Moderator und Übersetzer Olaf Kühl. „Ich glaube, Olga findet meine Fragen blöd“, konstatierte der promovierte Slawist nach zähen dreißig Minuten.

Dabei hatte alles so gut angefangen: Über eine Dreiviertelstunde lasen Kühl und Tokarczuk friedlich im Wechsel aus dem gestern in Deutschland erschienenen Werk der Autorin vor. In „Unrast“ geht es um das „Nomadentum des modernen Menschen“, um Reiselust, Bewegungsdrang und Entfremdung.

So dynamisch wie der Inhalt ist auch die Form: Tokarczuk verabschiedet sich von dem üblichen Romanschema einer linearen Handlung. Das Buch sei ein Puzzle, erklärte sie dem Publikum. Darin stünden alle Erzählungen gleichberechtigt nebeneinander, „wie im realen Leben auch“. Es sei deshalb aber umso schwieriger, Stücke für Lesungen herauszusuchen.

In Potsdam entschied sie sich für kleine philosophische und persönliche Skizzen über das Reisen wie „Überall und nirgends“ oder „Die Welt im Kopf“. Die sprachliche Virtuosität einzelner Fragmente konnte allerdings nicht über die Verwirrung bezüglich ihrer Verbindung untereinander hinwegtäuschen – auch weil die Autorin sich näheren Auskünften einfach verweigerte.

Erläuterungen der als Kernthema des Buches angepriesenen „Suche nach einer immateriellen Heimat“ lehnte Olga Tokarczuk nach mehrmaligen Vorstößen Olaf Kühls jedenfalls ab: „Ich habe nicht drei Jahre an diesem Buch geschrieben, um jetzt jeden Satz erklären“, sagte sie dem verblüfften Moderator.

Dem gelang es immerhin noch, der studierten Psychologin etwas über ihre literarische Arbeitsweise zu entlocken. Schreiben, sagte Tokarczuk, sei für sie „eine Art emotional kontrollierter Psychose“. Man müsse den Figuren und den Handlungen freien Lauf lassen, auch wenn sie gegen die eigenen Vorstellungen rebellierten.

Olga Tokarczuk: Unrast. Schöffling, 464 Seiten, 24,90 Euro. (Von Eva-Maria Träger)

(Märkische Allgemeine vom 12. März 2009, http://www.maerkischeallgemeine.de/cms/beitrag/11454138/63369/Olga-Tokarczuk-las-in-Potsdam-Kontrollierte-Psychose-LITERATUR.html)