Olga Tokarczuk

Forelle in Mandel

1.

Einige Monate, nachdem mein neuester Erzählungsband erschienen war, wurde ich zu einem von dem schlesischen Städtchen Bardo veranstalteten Weihnachtskrippen-Festival eingeladen. Man schickte mir ein Faltblatt mit einem verschwommenen Foto des alten Bardo (Wartha) aus der Vorkriegszeit. In dem Begleittext erkannte ich nach wenigen Worten meine eigenen Sätze wieder; es war ein Ausschnitt aus der Erzählung "Bardo. Krippe". Er handelte von der mythischen Krippe, die seit Generationen von vieler Schöpfer Hand erbaut wurde, einem sakralen Objekt des Volkes, zu dem jede Generation etwas Eigenes beitrug, im nervösen Dialog mit der Zeit, mit der Vergänglichkeit, und der Geschichte.

Ich mag diese Erzählung. Ich habe sie sorgfältig, Schritt für Schritt, erdacht, habe zur Sicherheit wissenschaftliche Arbeiten über die Volkskrippen in Niederschlesien herangezogen und mich zusätzlich darauf gestützt, was ich aus eigener Anschauung durch meine Reisen in dieser Gegend kannte. Dazu kamen Ahnungen, unklare Eindrücke aus der Kindheit, als mir diese mit Holzfiguren bevölkerten Miniaturkosmen wie in sich geschlossene Gegenwelten vorkamen, die ihr eigenes Leben und ihren eigenen Rhythmus lebten.

Ich habe diese Erzählung erdacht; habe mir die Krippe erdacht und die Leben der Menschen, die sich in meiner Erzählung mit ihr beschäftigten. Ich habe beim Schreiben nicht historisch gedacht, nicht einmal konkret. Tatsachen brauchte ich nicht, sie dienten mir nur zur Inspiration. Ich mischte sie nach Belieben, wie es der Text gerade verlangte. Ich dachte metaphorisch. Bardo wählte ich wegen seines Namens – er wirkte exotisch und bedeutungsschwer auf mich. Meine Absicht war es, eine Erzählung über das uralte menschliche Bedürfnis nach Kommunikation mit einer Ordnung zu schreiben, die der menschlichen übergeordnet und größer wäre als sie. Dieses Bedürfnis verwirklicht sich am besten in der Kunst, in jener elementaren, naiven Kunst, die dem Leben ganz nah steht (wenn man denn das Leben von der Kunst trennen kann) und sich in der Welt engagiert. In meiner Erzählung ist die Krippe eine Menschen-Epistel an Gott, ein Kommentar zu seinem Werk, ein Versuch, ihm metaphorisch zu sagen, wer wir sind, wie wir hier unten die Welt sehen, die er für uns konstruiert hat. Die Absender dieses Briefes warten bis heute auf Antwort, ein Telegramm wenigstens oder eine ganz kurze SMS, irgend eine Reaktion. Die Krippe verschwindet am Ende in einem Hochwasser. Nur die Erinnerung an sie bleibt. Und das Fehlen einer Antwort.

Doch manchmal ist dem Autor selbst nicht klar, was er schreibt.

Als ich an diesem Winternachmittag nach Bardo kam, hatten die Eröffnungsfeierlichkeiten des kleinen Festivals schon begonnen. Der Saal war voll. Während ich den einzelnen Reden lauschte, wurde mir ein schrecklicher Irrtum klar: meine harmlose Erzählung wurde hier als wahre Geschichte genommen, sie verwandelte sich vor meinen Augen in ein Geflecht harter Tatsachen. Meine imaginierte, aus vielen Quellen stammende, metaphorische Krippe wurde als Tatsache verstanden, ihre Existenz für bare Münze genommen.

Dagegen protestierte ich. Ich tat das behutsam, indem ich auf die Rolle der literarischen Fiktion, die licentia poetica verwies. Mir schien sogar, für einen Augenblick setze ein kurzes, rundes Schweigen ein, der Punkt gleichsam, der die Sätze voneinander trennt. Dann stand ein junger Mann auf und sprach voller Stolz über die Stadt und die Krippe und, jawohl, in der Tat, seine Großmutter könne sich tatsächlich noch an diese Krippe erinnern und es sei wirklich genau DIESE Krippe gewesen. Jemand anders fügte hinzu, die kleine Krippe im Heimatmuseum des Ortes sei ein Überbleibsel von jener anderen. Und meine Stimme wirkte plötzlich schwach und unangebracht, weil sie nichts Wertvolles zu den Feierlichkeiten beitrug. Sie war zu nichts nutze, sie lenkte unnötig ab. Jemand räusperte sich peinlich berührt. Das Festival wurde für eröffnet erklärt.

In der Erzählung "Krippe. Bardo" habe ich die Stadt in recht allgemeinen Zügen beschrieben; dennoch war mir an kleinen, überzeugenden Details gelegen. Auf diese Weise ist dort eine kulinarische Spezialität von Bardo hineingeraten: Forelle in Mandel. Dieses Gericht hatte ich von einem Ausflug ins nahegelegene Böhmen mitgebracht. Dort trägt es den klangvollen Namen "pstruha w mandelach".

Als wir nach Abschluß der Feierlichkeit zum gemeinsamen Mittag in das vermutlich einzige Restaurant der Stadt gingen, servierte man dort ausgerechnet dieses Forellengericht. Während der Fisch aufgetragen wurde, hatte ich das Gefühl, die Mittagsgäste schauten mich amüsiert und vielsagend an, wie Kinder nach einem gelungen Streich. Schmunzelnd. Auf der reich verzierten Menükarte stand deutlich an erster Stelle: "Spezialität des Hauses: Forelle in Mandel". Und so – essend - schufen wir Wirklichkeit.

 

2.

Wirklichkeit – dieses Wort beunruhigt mich schon seit langem. Was wäre denn diese Wirklichkeit? Ist sie etwas, das außerhalb unser und unabhängig von uns geschieht, und wir "nehmen nur daran teil"? Oder erinnert sie vielleicht an einen Chor: Aus vielen Kehlen einzelne Stimmen, die irgendwo an der Zimmerdecke zusammenströmen und einen Akkord bilden? Oder ist sie vielleicht schwere und bewußte Arbeit – von Medien, Journalisten, Historikern, Künstlern und Politikern, deren Wirkung niemals "hier und jetzt" greifbar ist, immer nur "dort und später", einen Augenblick weiter in der Zeit, als Interpretation, nie als Tatsache? In meiner zweibändigen Enzyklopädie der Philosophie taucht dieses mächtige Wort nicht auf. Zwischen "Wahrheit" und "Wissenschaft" steht da keine "Wirklichkeit". Offenbar ist dieser Begriff so selbstverständlich, daß man ihn nicht mehr erklären muß. Was Wirklichkeit ist, sieht doch jeder.

Einem Schriftsteller, der Geschichten erzählt, kann nichts Besseres passieren als so ein Festival, so eine Forelle in Mandel. Keine Rezension, kein Prestige in den Couloirs großer Säle, in denen man Preise verliehen bekommt, keine hohen Auflagen, keine Übersetzungen in fremde Sprachen.

Schließlich schreibt man nicht in den leeren Raum, nicht für irgendwelche "alle". Man wirft seine Bücher nicht in den Wind. Man schreibt für die Landsleute im Geiste. Und bei Forelle in Mandel, beim vielsagenden Blick meiner Wirklichkeitskomplizen begriff ich plötzlich, wie berauschend diese Art von Schöpferkraft sein kann. Wie eine reale Macht. Und sie ist ja tatsächlich eine Art Herrschaft über die Welt.

Schriftstellern sollte man zwangsweise einen Ort zuweisen. Schriftsteller sind die vollkommene Verkörperung des antiken Antäus, der seine Kraft aus der Berührung von Mutter Erde bezog. Sie dürfen unendlich viel von ihr nehmen, aber doch nicht ungestraft. Die Rechnung ist gepfeffert: man wird quasi versklavt, wird zur Stimme der Gemeinschaft, verliert seine Identität, bekommt ein Etikett auf die Stirn, eine Sprache, die man nicht mehr ändern kann.

 

3.

Die Forderung nach "Beschreibung der Wirklichkeit" finde ich in ihrer Naivität immer entwaffnend. In ihr schwingt die solipsistische Haltung desjenigen mit, der sie äußert. Im Grunde müßte man sie verstehen als: "Beschreibe meine Wirklichkeit". Das aber ist nicht möglich. Man braucht nur die Tagebücher von Menschen zu lesen, die an einem Ort und zur selben Zeit gelebt haben. Die Menschen unterscheiden sich dramatisch voneinander. Sollte jemals eine neue Religion mit ihrem Heiligen Buch entstehen, sein erster Satz müßte lauten: Die Menschen sind verschieden.

Ich lese gerade die Erinnerungen der Bewohner eines Kleinstädtchens gegen Ende des Krieges. Einer schreibt da über die drastische Nahrungsmittelnot und die unglaublich hohen Preise. Ein anderer analysiert die Sendungen der BBC und beklagt, daß die Großen Drei zu keiner dauerhaften Einigung kommen können. Ein Dritter notiert die Wetterdaten; von ihm erfahren wir, daß es am 4. Mai 1945 geschneit hat und die Temperatur schon am 9. Mai auf 36 Grad gestiegen ist. Ein Vierter – daß ihm eine bestimmte Frau gefallen hat. Ein Fünfter schreibt ein Gebet auf, in dem er Gott darum bittet, diese chaotischen Zeiten zu überleben. Ein Sechster bringt einen apokalyptischen Traum zu Papier. Und genau das ist Wirklichkeit. Tausendfältig. Ohne Ende. Immer Vereinbarungssache. Gemeinsame Sache nur bis zu einem gewissen Grad. Psychologen bringen es auf die kurze Formel: Wirklichkeit ist immer nur psychisch. Sie ist die Gesamtheit menschlicher Erfahrung, alles, was sich in der menschlichen Psyche niederschlägt, ungeachtet dessen, wie fremd und wie "unwirklich" es anderen erscheinen mag.

 

4.

Es gibt Orte in Polen, die sind kaum erzählt, unzureichend zum Ausdruck gebracht, Orte mit zerrissenen Erzählsträngen, ohne Präsenz auf der geistigen Landkarte, periphere Orte ohne sinnvolle Geschichte, halbherzig adoptierte und letztlich auch "unpolnische" Orte, die nur ansatzweise in die gemeinsame Erinnerung und Tradition integriert wurden. Bastard-Orte. Entlegenste Provinz im geografischen und historischen Sinne, das polnische Gegenstück von Stasiuks mitteleuropäischem Babadag.

An solchen Orten kann man nicht einfach so schreiben. Jede noch so unschuldige Erzählung, jedes bescheidene Histörchen wird sofort abgefangen und wie der Propfreis einer selten Pflanzenart ins Wasser gelegt, damit es Wurzeln treibe. Rare Orte sind das, wo Bewohner und Leser die Literatur todernst nehmen. Da ist dann kein Sprachgeklingel mehr, sind keine Ismen und keine Worthülsen. An solchen Randorten erfüllt die Literatur noch die Funktion, die das Zentrum schon vergessen hat: Sie stimmt Wirklichkeit zwischen den Menschen ab und verbindet sie auf diese Weise. Sie erschafft Zeit, erschafft Zukunft, zieht die Grenzen der Identität, legt die Fundamente unter die kulturelle Gemeinschaft, baut Straßen in den Rest der Welt. Verirrt sich der ahnungslose Autor, Lebemann und Luftikus, hierher, so geht er alsbald der Geografie ins Netz, wird mit Beschlag belegt. Ganz Ohr ist man für seine Worte und benutzt sie dann als eine Art Gemeingut. Als Gegenleistung erhält er das Privileg des Kreativen. Ein gefährlich verlockender Tausch. Er führt uns zurück zu den ursprünglichen Wurzeln der Literatur – zumindest glaube ich, daß sie genau darin bestanden haben müssen: Benennen und Aneignen, das alte Spiel, aus dem die Sprache geboren wurde.

Ich lade also ein zu Forelle in Mandel im Restaurant von Bardo. Und zur Besichtigung der Krippe, die es nicht gegeben hat, die es gab, die es gibt, die es erst noch geben wird – doch wir wollen nicht spitzfindig sein.

© Deutsch von Olaf Kühl