Olga Tokarczuk
Stalins Finger
Ich hatte mir
ein paar Grußworte zurechtlegen wollen, als Mitte Mai die alten
Vorkriegsbewohner
- die Deutschen - meinem Dorf im Glatzer Kessel (polnisch Kotlina
Kłodzka)
einen Besuch abstatten sollten. Dieser Gedanke war von dem
spärlichen
Briefwechsel inspiriert, den ich mit Herrn J. führte - ich hatte
ihn vor
einigen Jahren auf meiner Wiese getroffen und zum Kaffee nach Hause
eingeladen.
Ältere schweigende Menschen, die bis zur Hüfte durchs Gras
waten und nach
geheimnisvollen, nur ihnen bekannten Orientierungspunkten an den
Feldwegen
suchen, sind wir nämlich gewöhnt. Der blitzblanke Bus wartet
diskret am Randstreifen
auf sie. Meist gehen sie erst in die Kirche, danach auf den Friedhof.
Manchmal
haben sie einen Bekannten im Dorf, der ihre Gräber pflegt. Doch
die Menschen im
Dorf mustern sie zurückhaltend. So ist es mehrmals im Jahr. Zwei
fremde Stämme,
die ihre Sprachen nicht verstehen, deren Erinnerung sich Mitte der
vierziger
Jahre kurz trifft und dann auseinander läuft, jede in ihre
Richtung. Anlässlich
seiner Weihnachtsgrüße schrieb Herr J., sie wollten mit
einer ganzen Gruppe
kommen, und diesmal werde es vermutlich der letzte Besuch sein - sie
fühlten
sich schon alt, und die Reise vom Rhein sei weit.
Einige Tage lang überlegte
ich
mir, was ich ihnen sagen, wie ich sie begrüßen sollte. Bald
wurde die
Notwendigkeit, einige einfache Sätze zu formulieren,
überwuchert von Bildern,
Erinnerungen, Fetzen aufgeschnappter Berichte, sodass dieses
»Wir«- die
Gemeinschaft des kleinen Sudetendorfes, in dessen Namen ich auftreten
sollte -
sich unmerklich in ein »Ich« verwandelte - das kindliche,
dem viele Dinge noch
nicht bewusst sind, aber auch das erwachsene, mit Tatsachen,
Zahlen und der
Aussagekraft von Landkarten bewehrte.
Es ist eine seltsame
psychologische Gesetzmäßigkeit, dass das Allgemeinste und
gar das Abstrakteste
sich am besten in einer privaten Sprache sagen lässt. Dass der
Schlüssel zu
allen Bedeutungen, die die Wirklichkeit vor uns ausbreitet, immer im
Privaten,
Einzelnen, Besonderen liegt. Es gibt nämlich, meine ich, zwei
Arten von
Geschichte. Die eine ist die offizielle, auf Landkarten markierte, in
Dokumenten festgehaltene, unpersönliche und verallgemeinerte.
Diese Geschichte
nehmen wir oft wahr wie eine Maschine, wie eine dämonische Kraft,
die uns ewig
Vereinzelte um ihren großen Finger wickelt. Die andere
Geschichte, das sind die
individuellen Erinnerungen, die - ineinander verzahnt und miteinander
verwoben
- langsam und stückweise ein großes Bild ergeben. Sie halten
nicht stand und
verfallen, da sie nicht aufgeschrieben sind, mit der Zeit. Die erste
ist immer
dieselbe, höchstens, dass man sie einmal neu bewertet. Die zweite
ist vielfältig, es gibt ihrer
mehrere, sie klingt aus der
Ferne wie ein gemischter Chor. Der ersten traue ich nicht - ich habe
erfahren,
wie sehr man sie manipulieren kann. Ich nehme sie allenfalls als
Annäherung,
als Knochengerüst, auf das die Menschenschicksale aufgespannt
werden. Ich
behaupte nicht, dass die zweite vollständiger wäre -
individuelle Erinnerungen
ergänzen sich nur selten, sie bilden häufig eine
widersprüchliche
Vielstimmigkeit, aus der unendlich schwer eindeutige Schlüsse zu
ziehen sind,
besonders wenn sie dramatische Umstände betrifft.
Eigentlich wollte ich ihnen
alles, was ich hier schreibe, persönlich sagen. Aber es war keine
Zeit. Die
Begegnung in unserem Dorfsaal verging mit dem Anschauen alter
Fotografien und
dem tastenden, von Dolmetschern vermittelten Gespräch
darüber, wie es früher
war, mit dem gegenseitigen Mustern und dem Kosten polnischer Gerichte.
Es blieb
wenig Zeit. Quälend die Gewissheit, dass es für viele Dinge
schon zu spät ist.
Vielleicht hätte ich mein
Grußwort mit mir beginnen sollen - wie ich hierher kam, wer ich
bin. Bestimmen
denn der Ort, an dem man lebt, und die Wanderungsrichtung der Vorfahren
nicht
schon die Dimensionen der Identität im Weitesten und
Grundsätzlichsten? Geboren
bin ich im Land Lebus (auf Polnisch Ziemia Lubuska) bzw. in Neumark.
Wie immer
dieser Ort heißen mag, mein Orientierungspunkt in der Welt ist
die Oder. Die
längste Zeit meines Lebens habe ich im Einzugsgebiet dieses
Flusses verbracht,
er bildet die Hauptlinie auf meiner inneren Landkarte. Sowohl die
breite,
faule, aber auch gefährliche Oder, die die Ebene von Lebus
durchfloss, als auch
die durch Brücken und Stufen zivilisierte in Breslau. Seit einigen
Jahren wohne
ich auf dem Dorf in den Sudeten - ich kann also sagen, ich sei an den
Quellen
der Oder angekommen. Ich erkenne die Oder auf Fotos, selbst wenn sie
nicht
betitelt sind. Ich kann sie von jedem anderen Fluss unterscheiden. Ich
spüre
deutlich, wenn ich mich ihr nähere. Ihr auf der Welt einzigartiger
Geruch -
nach jagendem Raum, nach Sonnenstrahlen, die sich im Wasser
auflösen, nach
nassem Holz, das von Barken gezogen wird, nach Diesel. Das
Überqueren ihres
Bettes rührt mich jedes Mal. Kürzlich erst, beim
Hochwasser im Glatzer Kessel
(schließlich mündet auch der Bach unter meinem Haus am Ende
in der Oder) wurde
mir klar, dass mein Leben mit Ausnahme der Studienjahre immer mit dem
Flussgebiet
der Oder verbunden ist - als wäre ich ihr unbewusster Satellit,
als erläge ich,
wie eine Pflanze, ihren geheimnisvollen wässrigen, feuchten
Anziehungsgesetzen.
Meine Großeltern
gehörten zu
jener Generation, bei der man mit Staatsangehörigkeiten nicht
geizte. Geboren
als österreichische Untertanen, sind sie im jungen polnischen
Staat
aufgewachsen. Als Erwachsene wurden sie zu sowjetischen
Staatsbürgern, danach
zu zweitklassigen Bewohnern des Reiches. Bei Kriegsende mussten
sie sich
selbst definieren - denn sie waren ein polnisch-ukrainisches Ehepaar.
Schließlich gelangten sie als »Heimkehrer von östlich
des Bugs« nach
Niederschlesien. Mein Großvater starb ein Jahr nach seiner
Ankunft. Meine
Großmutter hat nie Polnisch gelernt.
So viel also
von mir. Deshalb bin ich hier.
Ich hätte unseren
Gästen noch
sagen sollen, dass ich als Kind überzeugt war, auf allen
Friedhöfen der Welt
gebe es nur deutsche Grabinschriften. Denn ich kannte nur solche. Ich
glaubte,
die gotische Schrift werde nach einem geheimnisvollen, unbegreiflichen
Gesetz
überall auf jene angewandt, die von uns gegangen waren. Auch auf
meinem Grab
würde das so sein. Ich weiß noch, wie erstaunt ich war, als
ich mit etwa zehn
Jahren zum ersten Mal auf einen polnischen Friedhof in Zentralpolen kam.
Ich hätte ihnen sagen
sollen,
dass sie hier immer noch zugegen sind, auch wenn sie vielleicht
gar nicht
wissen, wie sehr. Sie sind noch hier in den Gegenständen, in den
Haufen von
Steinen am Rain, die sorgfältig vom Feld gesammelt wurden. Die
Ziegel meines
Hauses, die behauenen Balken der Scheune, die wir in ein Zimmer
verwandelt
haben (ihre Wuchtigkeit erstaunt mich immer noch und ich stelle mir
gern vor,
dass sie einmal große Fichten waren, von Menschenhand
gefällt), der
geheimnisvolle Feldweg, der heute ins Nichts führt, die verrostete
Pumpe, die
das Wasseraus dem Bach nach oben ins Haus stemmte. Die Kapelle,
errichtet zum
Dank für eine wundersame Errettung, von der heute niemand mehr
etwas weiß,
dabei sollten doch eigentlich gerade Wunder gegen das Vergessen gefeit
sein.
Am meisten aber rühren mich
die
kleinsten Zeichen von Anwesenheit, denn sie sind wie
Glockengeläut, das das
Geschehene immer wieder bewusst macht. Wir alle hier sind ein bisschen
Zufallsarchäologen - bei den banalsten Gartenarbeiten grabe ich
immer wieder
altersmorsche Stahlnägel aus oder die schwarz gewordene, halb
verfaulte Sohle
eines Damenschuhs, exotische Medikamenten- oder
Parfümfläschchen, eine seltsam
große Gabel oder Porzellan- und Keramikscherben. Manchmal erkennt
man darauf
noch Fragmente rätselhafter Muster, einige wenige Buchstaben, aber
sie ergeben
kein ganzes Wort mehr.
Manchmal habe ich den Eindruck,
wir lebten hier auf den Hinterlassenschaften einer uralten, weit
zurückliegenden Zivilisation. Und auch wenn wir in ihren
Häusern wohnen,
scheint es oft, als wären sie so fern wie die Azteken oder Inkas.
Die
Aussiedlung, die lange Irrfahrt in Güterzügen, die Erfahrung,
ein fremdes Haus in Besitz zu nehmen (wie oft erinnern sich Polen an
die in ihrer
Kindheit vielfach gehörten Erzählungen von der »Glut im
Herd«, von der »noch
warmen Suppe im Topf«), und nun all diese Fundstücke, diese
ganze private
Heimarchäologie, mussten in jener Generation der polnischen
Ankömmlinge ein
spezifisches Verhältnis zu dem Raum erzeugen, den man bewohnte.
Ein Verhältnis,
das sich kurz folgendermaßen definieren ließe: »Wir
sind hier zu Gast, vor uns
waren andere hier, und nach uns kommen wieder andere.« Und ein
Verhältnis zur
Zeit: »Die Vergangenheit ist ebenso nebelhaft wie die Zukunft.
Unser Haus ist
das 'Hier und Jetzt'.« Aus dieser Sicht ist der Begriff des
Grundbesitzes
die absurdeste Idee, die Menschen sich haben ausdenken können.
Ich hätte ihnen das sagen
sollen,
um mich für die verwahrlosten Felder, die zusehends verfallenden
Häuser zu rechtfertigen.
Die zwei Generationen von Polen, die in den nach dem Krieg an Polen
gefallenen
Gebieten lebten, haben hier im psychologischen Sinne keine Wurzeln
schlagen
können. Die Generation meiner Großeltern und Eltern lebte
hier mit der
schmerzlichen, immer stärker mythologisierten Erinnerung an jene
»andere«
Heimat. Noch heute wird bei uns im Dorf das Wort »Zentrale«
gebraucht. Die
Zentrale, das ist Warschau, aber auch Krakau Lind Nowy Targ. Dort
konzentrierte
sich das eigentlich polnische Polen. Hier dagegen ist unbestimmtes
Grenzland,
zufällig unter die Lineale der Weltenteiler geraten, dem Schwung
der Politiker
gezollter Schnipsel.
Ich hätte ihnen von Stalins
Finger erzählen können - damit wir uns beim Anschauen der
Fotos und im hastigen
Gespräch klar darüber gewesen wären, welch absurde
Entscheidungen das Leben von
Millionen Menschen beeinflussen konnten, selbst wenn diese
Erzählung nur die
gängige amüsante Legende war. Wißt ihr, wie das Glatzer
Land zu Polen kam?,
hätte ich sie fragen können. Nun, als in Jalta Europa auf der
Landkarte
aufgeteilt wurde, stützte Stalin seinen Daumen auf dieses bergige
und schöne
Gebiet. Der Kartograph wagte es nicht, den Finger des Führers
wegzuschieben,
und zeichnete um ihn herum. Der entstandene Zipfel (man erkennt ihn auf
jeder
Karte) verletzte jedoch die Idealvorstellung gerader und
durchgehender
Grenzen. »Was ist das für ein Land?«, soll Stalin
verärgert gefragt haben.
»Ach, das ist eine arme Gebirgsregion, ohne
Reichtümer«, habe man ihm
geantwortet. »Dann gebt es den Polen«, entschied Stalin.
Und nun haben wir es.
Denke ich an diesen am weitesten
nach Süden vorgeschobenen Teil Niederschlesiens, an diese
heruntergekommenen,
halb verlassenen Dörfer, die grasbewachsenen Straßen, die
morschen Brücken über
Gebirgsbäche, so habe ich oft den Eindruck, dieses Land sei etwas
Lebendiges,
ein großes, altes, verwundetes Tier. Ein unbestimmtes Gefühl
der Wehmut, ein
rührendes Mitleid, das mir selbst unverständlich bleibt. Wie
kann man Mitleid
mit einem geographischen Gebiet haben, mit Bergen oder Straßen?
Das Gefühl des Provisoriums
und
der Fremdheit hat ebenso wie die bewusste Politik der kommunistischen
Regierungen zu der Verwüstung dessen beigetragen, was die
Deutschen
zurückgelassen hatten. Ich kann mir vorstellen, wie so eine
provisorische Welt
aussieht: Sie ist wie aus Papier, sie kommt von nirgendwo und
zerfällt in
nichts, es ist zwecklos, die Dächer zu reparieren oder die Brunnen
zu reinigen.
Die Häuser bieten nur vorübergehende Unterkunft, irgendwo auf
den Bahngleisen
warten schon die Güterzüge. Man besitzt nur das Notwendigste,
das im Falle
eines Falles in einen Koffer passt. Man pflanzt keine Bäume und
düngt nicht den
Boden.
Ich erinnere mich, als meine
Mutter in der zweiten
Hälfte der sechziger Jahre ein Kind verlor, war es etwas
Unschickliches und
fast Beschämendes, dieses Kind auf dem deutschen Friedhof zu
bestatten, auf
dem erst wenige neue Gräber polnische Inschriften trugen. Das
bedeutete
gleichsam, »das Kind unter Fremden zu lassen«. Hieß
das, dass auch meine Eltern
immer auf dem Sprung waren, dass auch für sie dieses Land, selbst
zwanzig Jahre
nach Kriegsende, noch immer fremd und unvertraut war?
Jene apokalyptische
Überzeugung
vom kommenden dritten Weltkrieg, der die Grenzordnung vor 1939
wiederherstellen würde, hat erfolgreich jede Initiative
untergraben. Lohnte es,
seine Liebe und Arbeit in ein Land zu investieren, das niemandem
gehörte?
Manchmal scheint mir, dahinter stand mehr - eine vielleicht nicht
völlig
bewusste Revanche für den Krieg, der Wunsch nach Rache, ausgelebt
an etwas, das
seinem Wesen nach völlig wehrlos war - dem Land. Absurd die
Vorstellung der
polnischen Behörden, die Sudetendörfer in endloses Weideland
zu verwandeln. Das
Verbot des Neubaus von Häusern (noch heute, im Jahre 2001, steht
in meinem Dorf
kein einziges neues Haus). Die Idee, Breslau als wenig bedeutende Stadt
mit
höchstens sechzigtausend Einwohnern wieder aufzubauen.
Es gibt in Europa wohl keinen Ort
mit einem solchen Hunger nach historischer Kontinuität wie
Niederschlesien.
Einem solchen Hunger nach Mythos, Hunger nach einer Erzählung, die
diese
zerbrochene Welt heilen, Raum und Zeit zähmen könnte.
Vielleicht galt deshalb
die Mehrheit der Fragen, die die Polen den Deutschen auf diesem
privaten
Dorftreffen stellten, einer Art mythischer Topographie: Weshalb wurde
diese
kleine Kapelle im Wald errichtet? Was bedeutet dieses Kreuz an der
Wegscheide?
Wer hat in dem Herrenhaus gewohnt? Ist es wahr, dass auf dem Pass eine
Windmühle gestanden hat? Wohin führte der Weg, der im Wald
plötzlich endet? Was
ist aus der Figur des heiligen Georg geworden, die man auf alten Fotos
vor der
Kirche sieht?
Als ich die Antworten der
Gäste
hörte, schien mir, als hätten sie auf diese Fragen nur
gewartet, ja als wären
sie nur deshalb hergekommen - hier auf der polnischen Seite fand die
brutal
gekappte Kontinuität ihrer Existenz eine Vervollständigung.
Beide Geschichten,
die polnische wie die deutsche, waren wie Fragmente eines großen
mitteleuropäischen Epos in zwei Sprachen. Fragmente einer - da sie
beide Seiten
zu sehr schmerzte - noch immer nicht erzählten Geschichte. Die
Erinnerung jener
paar Jahre nach dem Krieg ist eine in der Mitte geborstene Erinnerung,
die an Orten wie dem Festsaal in meinem Dorf noch zueinander kommen
kann - zueinander kommen und sich ergänzen, gerade am Ankunftsort,
gerade am
Ausgangsort. Es gibt keine andere Lösung, denn unsere
Vorgänger haben ihre
Erinnerung mitgenommen, während wir in eine Welt ohne Erinnerung
geworfen sind,
die deshalb unverständlich ist, sich der Aneignung verweigert, nur
aus
Bruchstücken bestehend, die die neuen Bewohner aus vielen Gegenden
mitgebracht
haben.
Als die Frauen in meinem Dorf
einen Chor gründeten, kam gleich zu Anfang die Frage nach einer
gemeinsamen
Bühnentracht auf, einer Volkstracht möglichst. Es gab aber so
viele einander
widersprechende Entwürfe - an welche Region sollte eine solche
Tracht
anknüpfen? Am schönsten ist die Krakauer, sagten die einen.
Aber wir sind nicht
in Krakau, widersprachen andere. Also vielleicht die schlesische?
Niemand
wusste, wie die schlesische Tracht aussieht, und außerdem
wäre, so
argumentierten sie, die schlesische aus der Vorkriegszeit, also
deutsch. Jede
hatte ihre eigene Vision einer Tracht, und da sie aus vielen
unterschiedlichen
Regionen Polens stammten, konnten sie sich nicht einigen.
Schließlich, nach
langen Diskussionen, entschied man sich für eine allgemeine
Volkstracht, eine
Tracht, die Resultante sämtlicher polnischer Traditionen wäre
und dazu
gewissermaßen brav an die schlesische anknüpfte, damit alle
sich darin wieder
finden könnten, niemand obdachlos und vergessen bliebe. Das
Ergebnis war eine
eklektische Kleidung, eine synkretistische Tracht, eine
Trachtenmetapher, ein
Mutterkleid, das nicht mehr viel mit der Volkstracht zu tun hatte, eher
so
etwas wie kollektive Psychotherapie. Und genau das ist Niederschlesien.
Herr J.
sagte auch ein
paar Worte und hätte gewiss noch viel mehr zu sagen gehabt. Ob wir
denn
wüssten, wie die Vertreibung ausgesehen hat, der Zwang, Hab und
Gut und Haus
innerhalb einer Stunde zu verlassen, die dramatische Reise nach Westen,
ins
Unbekannte, die Schutzlosigkeit in einer kriegerischen Welt, die aller
Zivilisationsstandards beraubt war, im Chaos des letzten
Kampfgeschehens?
Vielleicht versucht er, so wie ich, gerade in diesem Augenblick in
Worte zu
fassen, was er uns nicht gesagt hat. Vielleicht bedrückt es ihn,
dass unser
Treffen wirklich die letzte Gelegenheit gewesen sein könnte, den
in seinem Haus
wohnenden Menschen zu sagen, was er fühlt. Vielleicht hatte er
sagen wollen,
dass heute nur noch die Kindheitserinnerung an jene Zeit lebendig ist,
während
die Erwachsenenerinnerung nur selten überdauert hat. Und da
das Gedächtnis des
Kindes viel sinnlicher als intellektuell ist, verleihe es den
Erinnerungen eine
märchenhafte, heilende Wärme. Dass es schwierig ist, ohne
diese Erinnerungen zu
leben, auch wenn es seltsam scheinen mag, dass der Verlust jener
Geschmäcker
und Gerüche mehr schmerzt als das Bewusstsein des erlittenen
Unrechts.
Herr J. schloss mit einem Satz
über die Europäische Union, und ich war ihm dankbar, dass er
auf diese Weise
jener ungewissen Hoffnung Ausdruck verlieh, die wieder in die
große Politik
gesetzt wird. Vielleicht muss man ihr am Ende doch einmal trauen. Aber
bestimmt
dachte er im Grunde das Gleiche wie ich: dass dieses kleine Dorf im
Glatzer
Kessel, ebenso wie ganz Schlesien und Pommern, im kulturellen und
psychologischen Sinne unser gemeinsames Land ist. Denn was
hätten die Polen
von einem Land, das weder Vergangenheit noch zeitliche Kontinuität
besitzt? Was
hätten die Deutschen von einem Land, das nur in ihren
Kindheitserinnerungen
lebt? Was soll ein Land, das für die einen jahrelang nur im
»Hier und Jetzt«,
für die anderen dagegen nur in den Träumen existierte?
Noch immer trifft man auf die
Überzeugung, dass eine Gruppe Menschen, deren Mitglieder
einander durch
Blutsbande verbunden sind, ein gewisses Gebiet als ihr ewiges und
absolutes
Eigentum besitze. Auf dieses Denken bauten früher einmal gewaltige
Zivilisationen, denn eine derartige Ordnung galt als göttlich. Man
konnte im
Vertrauen auf Gott und die Welt leben. Andererseits hat diese Idee den
blutigsten Wahn in die Geschichte getragen. Für manche Teile der
Welt gilt dies
weiterhin.
<>Doch die Welt ist
komplizierter
geworden. Es gibt Regionen, die zum Dasein als ewiges Grenzland
zwischen
unterschiedlichen Kulturen, ja Zivilisationen verdammt sind und deren
Bewohner
zu beiden Seiten sich sehr fern und sehr nah zugleich sind. Ich lebe
seit
meiner Geburt in einem solchen Grenzland, ich blicke auf kein
verlorenes Vaterland
zurück und kann vermutlich deshalb die einfache Wahrheit leichter
verstehen:
Nicht wir besitzen das Land, das Land besitzt uns.
©
Aus dem Polnischen von Olaf Kühl>