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Die Ukraine,

mit Gombrowicz durchsetzt

Ukraine Lesereise Olaf Kühl

von Olaf Kühl

Welche Form ziehe ich mir an, wenn ich zu einer Lesereise durch fünf ukrainische Städte aufbreche? Welche „Fresse“ setze ich mir auf? Die eines deutschen Schriftstellers, natürlich. Lieber wäre ich Spion, Detektiv, oder einfach nur ein kleiner Junge.

Ich werde in vorzüglichen Hotels umhegt, Sofia begleitet mich auf vielen der langen Eisenbahnreisen (man glaubt nicht, wie groß die Ukraine ist und wie langsam die Züge dort rollen), der Tourneeplan ist ausgefeilt.

Doch alles Interessante passierte ungeplant.

Nach Vorbesprechungen in Kiew geht es an die Front. So fühlt sich das an. Das Stampfen des Nachtzugs nach Charkiw, aus dem ICE-Zeitalter längst verklungen, nur noch als Nachhall aus russischen Liedern präsent: „Со стука вагонных колёс“. Das reimt sich in dem Lied «С чего начинается родина“ (Womit beginnt die Heimat?) auf den Eid, den man der Heimat gebracht hat („принёс...). Rumpelnd steppen die Schienennähte die Dunkelheit unter dir zusammen. Eben noch hat die Schaffnerin von einem Ende des Waggons zum anderen geschrieen, weil du das Fenster öffnen wolltest. Als sie mir Tee macht, sehe ich, dass dieser Sowjetfunktionärston nicht böse gemeint war.

Ich nähere mich tatsächlich einem Kriegsgebiet. Wieder ist die Front im Osten. Diese grausige Trenn- und Verbindungslinie zwischen zwei Welten, an der sich Raum für etwas Drittes öffnet, das keinen moralischen und rechtlichen Maßstäben mehr genügt, wo keine Menschlichkeit mehr gilt. Wo das Töten legal wird. Noch wenige Kilometer davor muss man nicht unbedingt etwas merken. Ein dumpfes Grollen am Horizont, vielleicht. Der Übergang ist abrupt.

Charkiw

Als ich in Charkiw aussteige, ist heller Tag. Von Grollen keine Spur. Dabei liegt die Stadt etwa 150 km von Städten wie Slawjansk oder Kramatorsk entfernt, in denen bereits Kämpfe tobten. Die große, weiträumige, sowjetisch geplante und bebaute Stadt empfängt mich freundlich. Von dem Lenin in der Nähe meines Hotels stehen nur noch die gusseisernen Schuhe. Hoch auf dem Steinsockel hat jemand blaugelbe Flaggen in sie hineingepflanzt, wie in Blumenvasen. Auf den Sockel prangt der Name des umstrittenen ukrainischen Nationalhelden und russischen Propagandaschrecks „Bandera“ und: „Es lebe die Ukraine!“. Am nächsten Tag will ich ins oberste Stockwerk des anliegenden Hochhauses steigen und die leeren Schuhe von oben fotografieren.

Die Lesung in der Korolenko-Bibliothek wird von Sofia und der Leiterin des deutschen Lesesaals moderiert, einer blonden, knochigen Russin, die mit ihrem Mann vor dem Zerfall der Sowjetunion nach Charkiw gekommen ist. Sie hätte Lenin lieber nicht bei Nacht und Nebel stürzen sehen, ansonsten findet sie die Aktion in Ordnung. Sie ist loyal zum ukrainischen Staat. Der Konflikt hat sie mit ihren Verwandten in Petersburg entzweit. Sie ruft dort gar nicht mehr an. Als ich nach der Lesung in lockerer Runde das dritte Schaumherzchen mit den Worten ablehne: „Danke, ich hatte schon zwei“, hält sie mir in rauem, slawischem Deutsch entgegen: „Na und?! Zählen Sie immer alles, was Sie essen?“ Ich bin gerührt. Dieser Ton ruft mir spontan den Charme jener Leningrader Russisch-Dozentin in Erinnerung, deretwegen ich vor Jahrzehnten von der Psychologie zur Slawistik gewechselt bin.

Abends fahren wir zum 50. Geburtstag von Sofias Vater in einem georgischen Restaurant. Ein bulliger Mann mit eher rundlichem Gesicht und kleinen Augen, die vor Zuneigung aufgehen oder aber vor Misstrauen noch kleiner werden können. Es ist nicht nur seine Intelligenz, die ihn vor der Verfestigung in der Eindeutigkeit, einer dieser zwei Formen bewahrt: Sondern auch seine lebhafte intelligente Frau, körperlich sein Gegenteil, mädchenhaft zierlich, schwarzhaarig, bezaubernd quirlig. Am langen Tisch aufgereiht Mitarbeiter der Fischkonservenfabrik, deren Direktor er ist. Gorbatschow habe „seinen Traum zerstört“, sagt Sofias Vater zu mir. Er findet das „Projekt“ Neu-Russland sehr sinnvoll. Was solle sonst aus dem Donbass werden? Jede derartige Äußerung stößt auf den Widerspruch seiner Frau, die ihm am Podium zur Seite sitzt, mehr noch aber seiner Tochter. Leicht belustig und mit ungläubig schiefgelegtem Kopf hört er sich deren Einwände an. Er muss dieses Familien-Spiel kennen und hat einen ordentlichen Vorrat an Gegengift, nämlich sanfte, leicht machoeske Ironie. Richtigen Respekt vor ihm bekomme ich, als er aus seinem früheren Leben erzählt. Bis zum 31. Lebensjahr war er Atom-U-Boot-Kommandant. Bis an die Küste der USA sei er im Tieftauchgang gekommen, unentdeckt. Als nach dem Zerfall der Sowjetunion viele U-Boote auf der Reparaturwerft zerfielen, quittierte er den Dienst. Als Geburtstagsgast will ich höflich bleiben. Andererseits muss ich provozieren, wenn ich Reaktionen sehen, etwas erfahren will. Russlands Schicksal liege mir am Herzen, sage ich also, gerade deshalb verabscheue ich Putin und seine Politik – sie schwächt das Land und führt es geradewegs in den Abgrund. Er mustert mich mit dem gleichen nachsichtigen Hundeblick wie Frau und Tochter, dann schenkt er mir noch einen Cognac ein. Am Ende scheiden wir in Frieden, leicht berauscht, mit einer Umarmung.

Ist dieser Mann nun Russe oder Ukrainer? frage ich mich später.

Ein aus Russland stammender Fabrikdirektor und sowjetischer U-Boot-Kommandeur, in Charkiw. Was macht seine Identität aus?

Und die Bibliothekarin? Was ist ihr authentisches Wesen? Für wen, vor wem spielen sie welche Rolle?

Was definiert sie?

Wann und woran wird sich entscheiden, wer sie wirklich sind?

Es ist nicht die Sprache. Ukrainer sprechen auch Russisch, niemand hat diese Sprache in der Ukraine je diskriminiert. Ich habe auf all meinen Reisen immer Russisch gesprochen, auch 2012 in Kiew.

Es ist auch nicht die Herkunft.

Es ist etwas Drittes.

All meine Befürchtungen in Bezug auf Charkiw erweisen sich als überflüssig. Kugelsichere Weste (die guten tragen so sehr auf, dass man sich damit zum Affen macht), sogar die Bitte an Arkadi Babtschenko, er als alter Tschetschenienkämpfer möge mich die zwei Tage in der Stadt begleiten. Zum Glück hat die Mail ihn nie erreicht. Wenn man nichts von den Spannungen, Sprengstoffanschlägen, Konflikten einzelner Gruppen hier weiß, erlebt man eine sonnige Stadt mit sozialistisch breiten Boulevards und hilfsbereiten Menschen.

Am nächsten Tag ist das Lenin-Denkmal in grüne Gaze gehüllt. Ich hatte die Ehre, die Schuhe des Weltproletariatführers im Moment ihrer peinlichsten Leere gesehen zu haben.

Gute Seismographen auf solchen Reisen sind immer die Taxifahrer. Und phantastische Verschwörungstheoretiker dazu. Der mich zum Südbahnhof in Charkiw bringt, hält den ganzen Krieg im Osten für ein abgekartetes Spiel zwischen der ukrainischen Regierung und den Terroristen (so nennt er die sogenannten „Aufständischen“). Beweis? Ukrainische Truppen durften nicht auf die Russen schießen. Die Separatisten seien in langer Kolonne aus Slawjansk abgezogen, man habe sie nicht vernichten dürfen. Der Grund für diesen Klüngel? Geheim. Kennt er nicht.

Erst auf den Bahnhöfen spürt man, dass Krieg im Land ist. An Ständen mit Hinweistafeln versorgen freiwillige Helfer die Flüchtlinge. Ihre Zahl geht weit über die Million. Der Staat ist überfordert, die Hauptlast trägt die Zivilgesellschaft. Als ich mit Eierkuchen und Mohrrüben in Knoblauchessig am Buffet sitze, setzt sich ein älterer, unrasierter Mann, der nach mehrtägiger Reise riecht, an meinen Tisch, bei ihm eine jüngere Frau, eher kaukasisch, offenbar eine Bekanntschaft jüngeren Datums. Er schwankt, mehr psychisch als körperlich. Etwas Feuchtes, Kaltes, Dunkles geht von ihm aus. Er respektiert die Grenzen nicht. Ich tue so, als verstünde ich ihn nicht, wende den Blick ab, um nicht in seine innere Welt hineingezogen zu werden. Vom Buffet kommt er an den falschen Tisch zurück und sagt entschuldigend: „Ich verwechsele alle Schwarzhaarigen. Ist wohl eine Flüchtlingskrankheit.“

Die Flüchtlinge sind Boten der Kriegsgreuel, von dem man sonst nichts wahrnimmt. Sie tragen ihr Unglück hierher - zerstörte Häuser, tote Angehörige. In Kiew höre ich später, dass es auch ganz andere Donbass-Flüchtlinge gibt, smarte Typen in Luxusautos, die sich als kleine Oligarchen aufspielen und gar nicht gern gesehen sind.

Zwischen Charkiw und Nikolajew legt sich die nächste Nacht. Die weiten Räume der Ukraine verwandeln sich in meine Träume. Diesmal ohne Begleiterin.

Mykolaiw

In Mykolaiw ist Lenin ebenfalls gestürzt. Kristina, die blonde Moderatorin in der Kropivnickij-Bibliothek, will über Symbole im Wahren Sohn diskutieren. Das Gespenst meiner Vergangenheit, die Literaturwissenschaft, holt mich ein. Der große Lesesaal ist voll. Zettel mit Stichworten werden verlost. Ausgewählte treten nach vorn und dürfen über ihre Assoziationen sprechen. Erstaunlich, was ich da alles niedergeschrieben habe, ohne es zu wissen. Kristinas Mann, Arzt, ist im August traumatisiert aus der Kampfzone nach Hause zurückgekehrt. Dreifache Kopfverletzung.

Zwischen Mykolaiw und Odessa liegt nur ein halber Tag, diesmal ein heller. Mein neuer Begleiter Jakob und ich nehmen den Bus.

Odessa

Von der Potemkinschen Treppe geht jetzt der Blick auf ein potthässliches Hotel, das die Aussicht aufs Meer verstellt. Da setze ich mich lieber in ein Café in der Altstadt. Mediterraner Flair, liebenswürdige Kellnerin. Im Park ein Blasorchester, nach den T-Shirts der Musiker zu urteilen, von einem lokalen Politiker engagiert.

Die Veranstalter im im Bayrischen Haus sind überaus freundlich und unvorbereitet. Keine Moderatorin; niemand, der die ukrainische Übersetzung meiner Texte vorträgt. Aber das macht nichts. Ein Schuss Adrenalin, schon schwadroniere ich drauflos. Jakob macht mir aus der letzten Reihe Mut. Es wird doch noch ein sehr lebhafter, interaktiver Abend.

Am Gewerkschaftshaus in Odessa, in dem im Mai 2014 viele Jugendliche nach Zusammenstößen verbrannt oder erstickt sind, mit Blumen geschmückte Stellwände mit Fotos der Getöteten. Aufschriften wie: „Gefallen im Kampf mit den Faschisten“. Mit den Faschisten sind die proukrainischen Kräfte gemeint. Wenige Schritte entfernt lauert ein Aufnahmeteam des russischen Staatsfernsehens. Die Frau kommt mit dem Mikrofon heran und will ein Statement. Ich lehne ab. Selbst wenn ich ihr meine Meinung unzensiert gesagt hätte, hätten sie das nach ihrer Art zurechtschnippeln und das Gegenteil daraus basteln können. Odessiten bestätigen mir, dass die Schlägereien gezielt provoziert worden sind. Die hiesige Vertreterin des Amts für Auslandsschulen, eine aus der DDR stammende Deutsche, berichtet, dass kurz vor den tragischen Vorfällen Busladungen von Hooligans aus dem 30 km entfernten Transnistrien herangekarrt worden seien. Für mich ist wichtig, dass gerade sie das sagt. Nicht nur als Augenzeugin, sondern auch weil sie aus der DDR kommt und eigentlich reflexhaft zu mehr Verständnis für die Russen neigen sollte. Ihr Vater sagt immer zu ihr, wenn sie von Berlin zurück nach Odessa fährt: Na, geht’s wieder zu den Faschisten?

Einen solchen bekomme ich dann am nächsten Vormittag an den sonnenüberfluteten, offenen Gleisen des Bahnhofs Odessa zu Gesicht. Ein großgewachsener, hagerer Mann in Flecktarnuniform. Auf seinem Schulteraufnäher - „Rechter Sektor“. Er verabschiedet sich von Frau und Kind. Nach langem Zögern – denn ich fürchte seine Reaktion - frage ich, ob ich ihn fotografieren darf. Ja. Eine halbe Stunde später betritt er an dem langen Zug mit einem guten Dutzend Schlafwagen ausgerechnet mein Abteil. Reporterglück? Wir reden fünf Stunden. Wir sind zu dritt, er hat Fronturlaub und will seinem Sohn Lemberg zeigen. Der ist neunzehn, will auch unbedingt kämpfen, muß aber abwarten, bis der Vater heil von dort zurück ist. Am Ende gibt mir der Mann eine Nummer in Odessa, falls ich mal in Schwierigkeiten gerate. Für alle Fälle. Seinen Namen will er mir nicht sagen. Bei ihnen gibt es nur Decknamen.

Wissen Sie, was die Zeitungen im Westen über Sie schreiben? frage ich. Dass Sie Faschisten sind. Er lächelt. „Sehe ich aus wie ein Faschist?“ Intelligent und wortgewandt, traut er mir bis zum Ende nicht ganz, ebenso wenig wie ich ihm. Dennoch versuche ich, an seiner Ausdrucksweise, seiner Körpersprache zu erkennen, was er für einer ist. Und habe bald das Gefühl, mit einem Menschen zu reden. Ob er jemanden getötet habe, frage ich. Er nickt wortlos. Am Flughafen von Donetzk lag er im Graben Kadyrow-Tschetschenen gegenüber, 300 m entfernt. Sie haben sich gegenseitig beschimpft. „Wo ist der Rechte Sektor?“ brüllten die Tschetschenen. Die konnten wenigstens noch kämpfen. Völlig unerfahrene russische Rekruten, weinende 18-jährige, habe er mit dem bloßen Knüppel vertrieben. Erst als ich zu detailliert nachfrage, nach der Kampfstärke des Rechten Sektors, und ob er sich dem Kommando der ukrainischen Armee füge, wird er wortkarg. Auf einmal trage ich die Fresse des Spions. (Übrigens kein abwegiger Gedanke, denn der ukrainische Staat ist durchlöchert von russischen Agenten wie ein Schweizer Käse). Um mich rasch wieder zum Schriftsteller zu machen, ziehe ich meinen Wahren Sohn aus dem Rucksack. Er nimmt das Buch und bittet um eine Widmung. Ich gebe hiermit zu, dass ich einem Kämpfer des Rechten Sektors meinen Roman gewidmet habe. „Für Duschman. O. Kühl, 5.10.2014“.

Als wir schon im Dunklen lagen, rief er an der Front an. Das geht heutzutage. Er fragte einen Kameraden, ob noch alle am Leben seien. Ja. Sie hätten gerade eine russische Haubitze erobert. Nur ein Verwundeter. Gruselig war dieses Gespräch, weil dort am anderen Ende in Echtzeit gekämpft wurde. Noch später in der Nacht ratterten im Dunkeln gedämpfte Gewehrsalven aus seinem Telefon und ich fragte mich, ob das ein Handyspiel war oder O-Ton von der Front. Ob er ohne diesen Kick nicht mehr leben konnte. Als ich aufwachte, war mein Abteil leer.

Iwano-Frankiwsk

In Iwano-Frankiwsk merkt man, dass man schon weit im Westen ist. Karpatische, schmale Gesichter mit langen Nasen, die kugelförmig auslaufen, schmalgliedrige, ätherisch lächelnde Mädchen, Marktbuden, alles sehr galizisch, sehr polnisch, Kirchen am alten Marktplatz. Fußgängerzone. Buchläden. Studenten.

Schlagartig vermisse ich den Osten. Charkiw. Das Schwankende, wie an Deck eines großen Schiffes. Das Windige. Das Uneindeutige, die erregende Nähe des Krieges. Die Diesseitigkeit eines sonnigen Oktobertages in Galizien kann da nicht mithalten. Da hätte ich auch gleich nach Krakau fahren können.

Im eleganten Frühstückssaal des Hotels Nadíja, in Sesseln, die mit seidenglänzendem Stoff bezogen sind, kommt mir der Gedanke, ich säße hier wie in Warschau wenige Tage vor dem 1. September. Man will es nur nicht wahrhaben. Die Atmosphäre auf den Straßen erinnert an die letzten Augusttage 1939 in Kazimierz Brandys‘ Miasto niepokonane. Die Verdrängung wirkt im Rückblick geradezu unfassbar. Genauso ist es in der heutigen Ukraine. Wie wäre es in Deutschland, wenn – sagen wir - Bayern militärisch angegriffen würde. Oder Frankreich annektierte in einer gefakten Volksabstimmung das Saarland, es gäbe Hunderte von Toten, die gesamte Infrastruktur würde zusammenbrechen, Fabriken kaputtgehen, Hunderttausende Flüchtlinge ins Land strömen – könnte man dann am Savignyplatz in Berlin einfach ruhig in einem Straßencafé sitzen? Vielleicht könnte man ja.

Das Besondere an diesem Krieg war vielleicht von Anfang an, dass die Ukrainer den Angreifer nicht als etwas Fremdes, sondern als Teil ihrer selbst empfanden. Sie wollten es nicht glauben. So wie der Körper eines Krebskranken die entarteten Zellen nicht erkennt. Das Bild hinkt wegen des Größenverhältnisses. Aber auf dem anderen Fuß steht es ganz solide. Von Soldaten hört man immer wieder das Unbehagen, dass sie auf Leute schießen sollten, die ihnen zum Verwechseln ähnlich waren, die auch Russisch sprachen. Unmöglich, dass ein Teil von uns selbst unsere eigenen Leute umbringt!

Die Folge der Gewalt war, dass Ukrainer und Russen sich unähnlich wurden.

Und das ist die größte strategische Niederlage Putins.

Viele, die sich vorher nie als solche bezeichnet hätten, sind innerlich zu Ukrainern geworden. Mein Gott, wie dumm, diese russische Nicht-Politik! Es gibt doch soviel, das man an Russland mögen kann. Warum nutzt das Land nicht seine soft-power, um andere Nationen mental an sich zu binden? Warum verschreckt es mit den Ukrainern ein Volk, das ihm sprachlich und historisch so nahe stand, auf Jahrzehnte? Die ganze Welt hört amerikanische Rockmusik, guckt Hollywoodfilme, kauft – mangels Konkurrenz - die weltweit führenden Produkte aus Silicon Valley – aber von den Anrainern Russlands will niemand mehr etwas mit diesem Land zu tun haben. Höchstens unter wirtschaftlicher Erpressung oder militärischem Zwang. Russland vereinsamt. Und die zunehmende Einsamkeit macht es paranoid.

Solche Gedanken gehen mir durch den Kopf, während eine weitere steppendunkle Nacht sich zwischen Iwano-Frankiwsk und Kiew bettet.

Kiew

Der dickschädlige Taxifahrer, dem ich vom Alter her beste Stadtkenntnis zugetraut hätte, stupst am Kiewer Hauptbahnhof lange mit Wurstfingern auf seinem Navi-Gerät herum, um mein Hotel zu finden. Es wird eine mühselige Fahrt, mit ständigen Blicken hinunter auf seine zweite Wünschelrute, das i-Phone. Weil ich vor Ärger kein Wort sage, wurde er auch seine Verschwörungstheorien nicht los.

Nach mehreren Radiointerviews naht der letzte Abend.

Eine Stunde vor meiner Lesung sitze ich mit dem Psychiater Volodymyr P. in einem Café. Er hat mir vor zweieinhalb Jahren den Zutritt zur psychiatrischen Klinik Pawlowka in Kiew verschafft, mir die geschlossenen Stationen geöffnet und meine Fragen zur Traumatisierung von Hungeropfern beantwortet. Inzwischen ist er selbst mit seinen Kräften am Ende. Bei der psychologischen Betreuung von Maidan-Kämpfern und Frontheimkehrern hat er sich total verausgabt. Musste sich selbst zur Behandlung einliefern, mit Depressionen. Er erzählt von Splitterverletzungen durch Granaten der Berkut. Von Frontsoldaten, die auf das Angebot psychologischer Hilfe verächtlich antworten: „Du willst mir helfen? Was weißt du denn davon, wie es dort ist?“

Nach der Lesung führt Andrii Bondar uns in eine Absinth-Bar, den Hinterraum einer Kneipe. Eine Frau mit langem Hexenhaar erhitzt das Gesöff über einer blauen Flamme und füllt es in kleine Gläser. An den Wänden antirussische Graffiti, obszöne Putinbeschimpfungen in schwer übersetzbaren Abkürzungen, die hier jeder versteht. Erst in Berlin finde ich heraus, dass der bärtige Fotograf Aleksandr Zakleckij mit uns zusammensaß. Fotos im Internet zeigen die Verletzungen, die er auf dem Maidan abbekommen hat. Der Rücken übersät von blauen Flecken, nein, tiefen Seen unter der Haut. Ein Kämpfer.

Wie immer ist mein Orientierungssinn nach einer Dosis Alkohohl ausgezeichnet. Mit der Sicherheit eines Kindes finde ich in mein Hotel zurück.

Berlin

Bei der Landung in Tegel das Gefühl, ich komme in ein leichtes, aber beliebiges Leben zurück, ein belangloses Leben. Ich begehe Verrat an der Wirklichkeit. Müsste eigentlich sofort wieder dorthin zurück, wo jetzt Geschichte gemacht wird.

Das Gesicht von Nadja Savčenko geht mir nicht aus dem Sinn – der ukrainischen Hubschrauberpilotin, die seit einem Jahr widerrechtlich in Moskau gefangengehalten wird. Sie war auf den Wahlplakaten der Partei Batkiwschtschina allgegenwärtig. Mit traurigen blauen Augen, ernstem Mund. „Gebt nicht auf“, heißt es auf dem Plakat. „Die Ukraine wird siegen“.

Aber wer ist das, die Ukraine?

Wer soll hier siegen?

Die Ukraine in diesem Krieg – das kann nur eine Metapher sein.

Das Dritte

Gombrowicz hat das ihn eigentlich Interessierende gern indirekt aufs Korn genommen. Von den (ihn nicht interessierenden) heterosexuellen Paaren geht immer eine Linie, ein Strahl ab in eine andere Richtung, auf etwas Drittes. Am Ende von Ferdydurke ruft er sehnsüchtig nach diesem „Dritten“, nach den „fremden und unbekannten Visagen fremder und unbekannter Kerle“. Dieses Dritte rettet ihn vor der Banalität. Und da es immer nur ein Vektor ist, nie erreichtes Ziel, nie gelebte Liebe, hat diese Nichtverwirklichung im diesseitigen Leben zwangsläufig etwas Religiöses.

Es geht am Ende darum, wie wir uns den Menschen wünschen. Das Menschenbild ist eine Funktion der Gottesähnlichkeit. Man kann sich auch, weniger transzendental, auf die Werte der französischen Revolution beziehen.

Soll der Mensch ein ständig misshandelter, klein gehaltener, wutgeladener und rachsüchtiger Wurm sein, der seine Erniedrigung umso effektiver als Handlanger des Regimes ausagiert? Der seine Unterdrücker hündisch liebt, mehr als sich selbst? Als Milizionär, als Bürokrat, als wutgeifernde alte Frau? Oder wollen wir ihn als einen freien Menschen, der seine Freiheit von allem Menschlichen, Irdischem unabhängig weiß? Als Naturrecht? Der sein Schicksal in die eigene Hand nimmt?

Der Begriff der Freiheit ist so leicht zu zerpflücken. Ist ja alles nur westliche Propaganda. In Wahrheit zählt nur Geopolitik, Einfluss der NATO. Um hier wieder einen klaren Blick zu bekommen, dafür ist so eine Reise nützlich. Auf dem Maidan haben konkrete, einzelne – besonders junge - Menschen genau diese ihre Freiheit verteidigt. Gegen ihre existentielle Entscheidung, ihren Mut sehen alle Entwertungsversuche blass aus. Es ging gar nicht so sehr um das Assoziierungsabkommen, sagten mir viele. Es war die Empörung darüber, dass Miliz und Berkut demonstrierende Studenten zusammenschlugen. Das löste eine Solidarisierungswelle aus. Das nahegelegene Kloster öffnete die Tore für die verfolgten Demonstranten. Frauen brachten Essen. Auf dem Maidan haben sich die besten, gottähnlichsten Qualitäten des Menschen realisiert. Man kann es auch „Würde“ nennen. Genau so steht es auf einem großen Gedenkstein vor der Karpaten-Universität in Iwano-Frankiwsk. Er erinnert an den Studenten Roman Guryk, der am 20. Februar 2014 während der „Revolution der Würde“ in Kiew getötet worden ist.

Der Ausgang dieses Krieges wird in mehr als nur militärischer oder ökonomischer Hinsicht über das Schicksal Europas entscheiden. Alle Berichte erinnern sofort an die kritischen Jahre der Solidarność in Polen. Was haben wir aus der Geschichte gelernt, wenn wir die Jahrestage der Wende in Ostmitteleuropa feierlich begehen, den Freiheitskampf in der Ukraine aber als geopolitisches Geschacher disqualifizieren? Diese Sichtweise, dieses Wegsehen macht auf Dauer zynisch und unempfindlich. Bald werden wir gar nichts mehr spüren. Europa wird innerlich hohl werden, tönern trotz seiner ökonomischer Stärke, wenn es diesen geistigen Kampf verliert.

In diesem Krieg kann und sollte jeder – gerade auch die Russen - zum Ukrainer werden.

(Erschienen in der Zeitschrift Gombrowicz-Blätter 4/2015, S. 46 - 57. Das Heft ist zu erwerben beim Verlag: www.gombrowicz-blaetter.eu).