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Olaf Kühl
Heilige Wildnis, offene Weiten
Witold Gombrowicz in Argentinien

(Schreibheft - Zeitschrift für Literatur, Nr. 33, Mai 1989)

Ich finde es auch schade, daß von jener argentinischen Zeit so wenig bleiben wird. Wo sind diejenigen, die mich erzählen, die mich beschreiben und so vermitteln können, wie ich war? Die Menschen, mit denen ich verkehrte, waren meist keine Menschen der Feder, von ihnen kann man schwerlich farbige Anekdoten, geglückte Charakterisierungen, treffende Skizzen verlangen... und außerdem war ich ja mit jedem anders, so daß niemand von ihnen weiß, wie ich war. (...) Wie zu erwarten, stilisiert man mich zum guten Onkel, zum Freund der Jugend, in diesen Erinnerungen und Artikeln figuriere ich ganz konventionell als 'unverstandener' und vom Milieu verstoßener Künstler. Je nun! Tu I'a voulu, Georges Dandin! Weshalb hast du eine Lebensweise gewählt, die zu schwer zu beschreiben ist - ein allzu kompliziertes System von Masken?" (Tagebuch 1966). Witold Gombrowicz kam im August 1939 nach Argentinien - als 35jähriger. Er blieb bis zum Mai 1963 - fast 24 Jahre lang. Er kam als Schriftsteller und Bohémien, der in Polen mit seinen Erzählungen Memoiren aus der Epoche des Reifens und dem Roman Ferdydurke einige Bekanntheit erlangt hatte und der - als Sohn eines Industriellen und einer Adligen - eine privilegierte gesellschaftliche Stellung genoß. Er lebte in Argentinien - zumindest in den ersten acht Jahren - in großer materieller Armut; anfängliche Kontakte zu etablierten "literarischen Kreisen" vernachlässigte er, machte sich unbeliebt, hielt es lieber mit der Jugend. Was bewog ihn zu diesem namenlosen, mittellosen Dasein in einem fremden Land, zum Untertauchen im "Niederen"? - Daß dieser Ausstieg ihm auch eine Lust war, eine Flucht zurück zur Jugend, ein Nachholen von Versäumtem - das hat er wiederholt geäußert. Von großer Bedeutung ist die "argentinische Periode" für sein Werk: in Südamerika schrieb Gombrowicz den größten Teil des Tagebuchs (das von 1953 an in der Pariser Exilzeitschrift Kultura veröffentlicht wurde), dort entstanden die Romane Trans-Atlantik und Pornographie, sowie das Stück Die Trauung; der Roman Kosmos wurde begonnen. Gombrowicz starb am 24. Juli 1969 in Vence/Südfrankreich - vor zwanzig Jahren. Es besteht Anlaß genug, diesem - in Deutschland weithin noch ungelesenen! - Autor ein Dossier zu widmen. Ein impressionistisches Porträt des Autors als junger Mann skizziert Der Entschluß (erschienen 1937 im Warschauer Kurier Poranny). Der Text steht beispielhaft für die publizistischen Arbeiten des jungen Gombrowicz im Vorkriegspolen; in diesem lockeren Geplauder findet man so manche Realien der Warschauer Vorkriegs-Caféhauswelt: die jüdische Bohéme, das endlose Palaver über selbstgemachte Problemchen, den "Adelstick" (oder "Stammbaumwahn", wie es im Tagebuch heißt), die gesellschaftliche Orientierungslosigkeit des landbesitzenden Adels... Der Text vermittelt einen Eindruck davon, wie Gombrowicz sich in dieser Zeit gefühlt haben muß und warum der Neubeginn, die Einsamkeit in Argentinien ihm wie eine Befreiung erschienen sein mögen. Jahrzehnte später wirft er - im Rückblick und im Blick über den Atlantik - der polnischen Literatur "Geschwätzigkeit" vor: "Ihre Bücher sind wie literarisches Feuilleton, und ihr Feuilleton wie Kaffeehaus... Ich kenne kein einziges Werk von ihnen, von dem man sagen könnte, es wurde im Schweigen geboren. (...) Vergeblich sucht man bei ihnen nach heiliger Wildnis, offenen Weiten." (Tagebuch 1960). Einsamkeit - das Stichwort der argentinischen Jahre; eine Einsamkeit aber, die nicht nur von den Umständen erzwungen, sondern auch gesucht war. Die Zeugnisse von Alejandro Rússovich und Ernesto Sábato, ausgewählt aus einer großen Anzahl von Berichten, die Rita Gombrowicz, Witwe des Autors, bei ihren Reisen nach Argentinien gesammelt hat, deuten an, wie clownesk, verschroben, verschlossen, theatralisch Gombrowicz auf seine neuen Freunde gewirkt haben muß. In den Erinnerungen des langjährigen Freundes Rússovich gewinnt der Mensch Gombrowicz wohl am deutlichsten Kontur - vielleicht mehr, als ihm lieb war. Die Äußerungen von Jorge Luis Borges sind dagegen nur literaturgeschichtliche Kuriosa. Obwohl Gombrowicz im Tagebuch vornehmlich gegen den Borgeskult polemisiert (nicht gegen Borges selbst, wie er im Gespräch mit Dominique de Roux betont), war er dennoch ein großer Kenner des Werks - während er selbst dem Nobelpreisaspiranten nur Anlaß für Anekdoten ist... Die Streifzüge durch Argentinien schrieb Gombrowicz ursprünglich ähnlich wie die Polnischen Erinnerungen) als eine Folge von Funkplaudereien für Radio Freies Europa; sie wurden nie gesendet. Der Sender unterstützte ihn für diese Arbeiten mit einem bescheidenen Stipendium, das ihm nach seiner Kündigung beim Banco Polaco eine Zeitlang über die Runden half. Die 1944/1945 veröffentlichte Aufsatzreihe unter dem Titel Unser erotisches Drama wird den einen oder andern Leser irritieren: Gombrowicz als Macho, der Spekulationen darüber anstellt, wie und von wem die "Reform der Erotik in Südamerika in Angriff" genommen werden könnte, und dabei zu dem Ergebnis kommt, daß "dieser Jemand der Mann sein" müsse. Unübersehbar sind die Ähnlichkeiten mit dem XIII. Kapitel des Tagebuchs von 1954, in dem Gombrowicz der europäischen Frau - insbesondere der Pariserin - ganz ähnliche Vorhaltungen macht wie hier der argentinischen. Die Austauschbarkeit des Angriffsziels (einmal hält er der kreolischen Frau die Offenheit und den erotischen Realismus der europäischen vor, dann kritisiert er die polnische und französische Frau mit der gleichen Argumentation), läßt vermuten, daß Gombrowicz die Frau an sich, genauer: die Frau für sich - meint. Daß viele Formulierungen so unbeholfen und gestelzt daher kommen, liegt vermutlich nicht nur daran, daß das Ganze eine Auftragsarbeit (für eine medizinische Zeitschrift!) war, sondern auch, daß es in einer fremden Sprache verfaßt worden ist (siehe den Hinweis von Rússovich auf seine "köstlichen" Fehler im Spanischen). Den Ton der "Uneigentlichkeit" stellt selbst noch die Übersetzung her. Der belehrende, pimpkohafte Stil dieser Aufsätze ist Gombrowicz' schwächstes Register. Im Tagebuch findet man ihn beispielsweise dort, wo Gombrowicz "den Polen" darüber belehrt, welche Haltung er gegenüber seinen nationalen Komplexen einehmen sollte. Diese Passagen sind es sicher nicht, die Gombrowicz zu den Großen des Jahrhunderts zählen lassen. Die Begriffe spreizen sich, sie wölben sich wie Blasen über den Dingen: Literatur degeneriert zum Leitartikel. Als Dokument ist dieses Beispiel gombrowicz'scher Publizistik dennoch aufschlußreich, und wenn man die "Predigt", wie Mi³osz treffend schreibt, als misogynes Klamaukstück nimmt und ein bißchen zwischen den Zeilen liest (Thema: Homosexualität), ist auch sie ein wichtiger Baustein zur Biographie  der argentinischen Jahre. Der Essay des Nobelpreisträgers Czes³aw Mi³osz, 1969 (nach einem ersten Nekrolog aus Mi³osz' Feder) in der Pariser Kultura veröffentlicht, ist ein prägnantes Beispiel für den klassisch rationalen Verstand des Autors von Verführtes Denken, der ihm die hellsichtige Analyse einiger Aspekte des Werks erlaubt, ihm den Zugang zu anderen aber verwehrt. Gombrowicz als erklärter "Anti-Poet" war demgegenüber völlig blind für Mi³osz' lyrisches Werk ("Abgesehen von den Gedichten..." schreibt er im Tagebuch). Die beiden Autoren, wesensverwandt im universalen Denken, hatten sich zu Gombrowicz' Lebzeiten einen "Schlagabtausch" in der Kultura geliefert; ihre Beziehung war bei aller Polemik von hoher gegenseitiger Wertschätzung geprägt. Mi³osz versucht, Thesen des Werks herauszuarbeiten und sie diskursiv zu formulieren. Gombrowicz selbst war immer gern zur Stelle, wenn es darum ging, sein Werk auf diese Art und Weise zu erklären. Den Kritikern hat er schon sehr früh seine eigenen Interpretationen aufgeprägt. Wir sollten ihm so wenig glauben wie ihnen. Denn sein Werk wäre langweilig, wenn es nicht mehr böte als die Illustration der von Mi³osz (und ihm selbst) aufgestellten Thesen. Aufregend ist es, weil man unter (oder hinter) den Thesen etwas spürt, das sich jeder diskursiven Formulierung entzieht. "Meine Quellen sprudeln in einem Garten, an dessen Pforte ein Engel mit Flammenschwert steht. Ich kann dort nicht hinein. Niemals werde ich dorthin gelangen und bin dazu verdammt, diesen Ort, an dem der Zauber meiner tiefsten Wahrheit leuchtet, ewig nur zu umkreisen. Es ist mir verwehrt, weil... diese Quellen sich in Scham ergießen, gleich Fontänen!" (Tagebuch 1958). Worin besteht dieser "Zauber"? Haben wir mit unseren Indizien  (Rússovich's Andeutung über die gemeinsam verbrachte Nacht, Sábato über das von Gombrowicz in Vence geäußerte Bedauern, nie etwas über die "poetischen Erfahrungen" der ersten argentinischen Jahre geschrieben zu haben) nun einen Schlüssel zur "Erklärung" des Werkes? - Zum Glück nichtl Zu Recht hat Gombrowicz dem polnischen Kritiker Artur Sandauer vorgeworfen, sich mit seinen "erotischen Verirrungen" zu befassen, statt zu untersuchen, was er in der Literatur (es ging um den Roman Pornographie) Neues geschaffen habe. Alle hier versammelten Texte werfen uns - und das wäre ihr geringster Nutzen nicht - auf Gombrowicz' Werk zurück. Sie zeigen, wie wenig direkte Verbindungen es von der Biographie zum Werk gibt. Es ist ein Trugschluß anzunehmen, die Intimitäten und Anekdoten der Bekannten und Freunde ließen die Realität in crudo durchscheinen - auch sie sind zuerst und vor allem Texte. Und die vermeintlichen Einblicke in den "wirklichen" Gombrowicz - sie helfen kein bißchen gegenüber dem Werk, diesem großen Brocken Wirklichkeit.