Aus der Sicht der Transcodierung entspricht die Namenlosigkeit der Unübersetzbarkeit. Manche Autoren erheben die Unübersetzbarkeit sogar zum Vorzug und erstrebenswerten Merkmal, gerade der Lyrik. Stanisław Lem zitierte eine Zeile aus einem russischen Gedicht: „Мне помнилось чудное мгновение...» und mokierte sich darüber, wie banal dieser Satz in englischer Übersetzung klinge. Der Übersetzer und Theatermacher Peter Lachmann sagte neulich, ihm sei die Lyrik gerade dort am liebsten, wo sie unübersetzbar ist. Gegen diese Wertsetzung wäre viel einwenden. Was für einen Gehalt hätte eine Äußerung, die nur in einer Nationalsprache Ausdruck finden könnte? Solchem selbstverliebten Rückzugsbedürfnis steht der Wunsch nach Universalität entgegen. Kein Wunder, dass der neben Miłosz weltoffenste polnische Schriftsteller des zwanzigsten Jahrhunderts, Witold Gombrowicz, der Meinung war, man müsse auch die schwierigsten Gedanken so ausdrücken können, dass jeder einfache Mensch sie versteht. Lems Auffassung liegt vermutlich der Irrtum zugrunde, Lyrik ließe sich wörtlich übersetzen. Tatsächlich muss die Übersetzung, je komplexer und vielschichtiger der Text ist, sich zu einer Operation immer höheren Grades entwickeln. Die Abbildung funktioniert bei der Lyrik nicht linear, nicht im Maßstab eins zu eins. Diese Schwierigkeit der Übersetzung bedeutet aber nicht, dass sich ein Gedanke in einer natürlichen Sprache einschließen ließe. Dagegen wirkt eine Globalisierungsbewegung geistiger Art, die das Singuläre, Einzigartige zwar nicht beseitigen will, aber doch eine höhere Einheit anstrebt. Schon die Sprachenvielfalt beim Turmbau zu Babel galt als etwas Sündiges. Lachmans Wunsch scheint der Ausdruck eines weit verbreiteten Bedürfnisses nach Einmaligkeit, Einzigartigkeit und Unübersetzbarkeit zu sein. Mit zunehmender Globalisierung nimmt dieses Bedürfnis, die ein sehr starker Impuls gegen die Massenkultur ist, noch an Stärke zu. Daher rühren die scheinbar anachronistischen Widerstände kleiner Völker und Sprachen gegen die Unifizierung und Europäisierung oder Amerikanisierung der Welt. Je kleiner die Sprache, desto bedrohlicher wird die Vereinheitlichung wahrgenommen. „Ohne die ukrainische Sprache verliert die Ukraine ihr Geheimnis und ihre Unwiederholbarkeit“, schreibt Andrij Okara. Weil das Geld das Werkzeug par excellence zur Übersetzung von allem und jedem in alles ist, ist die Anti-Globalisierungsbewegung tendenziell auch antikapitalistisch.

 Polenplus Heft 7 P+

            Weil eben kein Wort allein steht, beißen wir, wenn wir ein polnisches (oder französisches, russisches, ... n ) Wort erlernen, auf den Köder einer Angel an, die unsichtbar für uns am Ufer ausgelegt ist – das Gedanken- und Gefühlsgebäude einer ganzen Nationalsprache mit ihrer jahrhundertlangen Geschichte. Und jede Sprache begünstigt bestimmte geistige, mentale, psychologische Einstellungen. Kein Geringerer als Czesław Miłosz hat beobachtet, dass das Polnische für den Ausdruck geistiger Nuancen und scharfen Denkens prädestiniert sei; das Russische dagegen als Sprache der Lyrik, als Ausdruck des Gefühls. Ein Kant oder Hegel wären vermutlich gar nicht erst auf ihre Gedanken gekommen, wenn sie Polnisch geschrieben hätten; Nietzsche dagegen vermutlich schon. Bei der Lektüre deutscher Philosophen in polnischer Übersetzung hat man oft den Eindruck, dass ihre Gedanken nicht für die polnische Sprache gemacht sind. Sie lassen sich zwar darin ausdrücken, aber eben nur mit Mühe. Es kommt da zu einer Art Überdehnung, zu einer Überbeanspruchung der polnischen Möglichkeiten. Umgekehrt gibt es vieles, was die polnische Sprache mit viel größerer Leichtigkeit bewerkstelligt als die deutsche. Unnachahmlich in der deutschen Syntax ist z.B. der slawische fünfte Fall, der Instrumentalis  – ein semantisch schillernder und nuancenreicher Kasus, dessen Schönheit und Unbestimmtheit im Deutschen immer vereindeutigt werden muss, z.B. durch die Präposition „mit“. Er ermöglicht dichterische Veränderungen der normalen Wirklichkeitswahrnehmung. Besonders gern hat sich seiner der große polnische Autor Bruno Schulz bedient. Er schrieb zum Beispiel: "Każda szczelina mógła wystrzelić z nagla karakonem". Hier ist ein Akzidentium des Vorgangs, die Ritze (szczelina), zum grammatischen Subjekt erhoben, während der „natürliche“ Aktant, die Kakerlake (karakon) zum Objekt degradiert wird. Das Deutsche drängt dazu, diese Verschiebung von Lebendigkeit wieder rückgängig zu machen. Folgerichtig heißt es in Doreen Daumes Neu-Übersetzung: „aus jeder Ritze konnte plötzlich eine Kakerlake hervorschießen“ (Hanser Verlag 2008). Die Übersetzung klingt elegant, sie verfälscht allerdings das Original. Näher bei Schulz ist der erste Übersetzer Josef Hahn. Bei ihm ist die Ritze so aktiv wie beim Autor: „jede Ritze konnte plötzlich Küchenschaben ausspeien“ (Die Zimtläden, Carl Hanser Verlag 1961, S. 108).

Den vollen Text von Olaf Kühl lesen Sie in dem Magazin P+ - früher Polenplus - (im guten Bahnhofsbuchhandel. Bestellung und Abonnement auf www.polenplus.eu):
"Was macht die Zunge mit uns?"
Magazin  Polenplus Nr. 3 / 2008 (August 2008)., S. 50 - 53.