Picknick am Ende der Nacht
Mächtige Sprünge nach vorn und Signale an den westlichen Nachbarn:
Polen ist Gastland der Frankfurter Buchmesse
von Olaf Kühl

Östlich von Stettin gerät man in eine Welt von faszinierender Unwirtlichkeit. Riesige Reklametafeln verstellen die Sicht, Supermärkte, Lagerhallen und einladend bläulich-rosa erleuchtete Imbißbuden säumen die Ausfallstraße - man meint sich auf einem Highway in Amerika, in einem Roadmovie. Könnten die zwei hübschen Ukrainerinnen an der Theke dort nicht einem Gemälde von Edward Hopper entstiegen sein?

Hier läßt man sich nicht verführen, sondern folgt der Richtung Bromberg und ist nach 100 Kilometern wirklich auf dem Land. Dort bellen zwar nicht, wie in Gombrowicz´ Ferdydurke, die Bauern wie Hunde, aber dennoch ist nichts mehr so wie früher. Der Urwald nördlich von Kalisz Pomorski wird von der NATO genutzt, britische Panzer zerfurchen den Asphalt der einsamen Waldstraßen. Hier in der Provinz, wo der rasante polnische Wirtschaftsaufschwung machtlos gegen die Arbeitslosigkeit in den aufgelösten LPGs bleibt, richten sich Tankstellenbesitzer und Fabrikanten alte Gutshöfe wieder her und züchten Pferde. Stadtflüchtige Künstler betreiben Ferienpensionen und geben sich, bis sie bankrott sind, der Illusion hin, sie könnten die Traditionen des polnischen Landadels zu neuem Leben erwecken. Wer zu Geld gekommen ist, sucht den Ruch des nouveau riche rasch loszuwerden, indem er sich selbst, noch nach frischer Farbe riechend, als Ahnenporträt über den Kamin hängt.

Dieses Zurückschaudern vor der neuen, als profan und unromantisch empfundenen Wirklichkeit findet seinen Widerhall auch in der neuesten polnischen Literatur. Nicht nur der Lyriker Adam Zagajewski wünscht sich nach der ersten Befreiung (vom „bleiernen Breschnew-Monster“) eine weitere – die Befreiung von der ironisch feixenden Grimasse der Massenkultur.

Es ist ja sympathisch, daß Polen nicht ganz im westlichen Werte- und Wohlstandssystem aufgeht. Völliger Identifikation hat sich dieses Volk seit jeher verweigert. Diese Widerständigkeit, aus leidvoller Geschichte und nach wie vor wirkenden Quellen der Romantik verständlich, kann durchaus als nachahmenswertes existentielles Muster dienen. Man stelle sich nur vor, die Fremdheit in unserem Osten würde von westlichen Bündnissen und Marktwirtschaft restlos aufgesaugt. Nicht nur die Welt würde ärmer, auch wir selbst würden, unerträglich vereindeutigt und unseres Anderen beraubt, am Ende an uns selbst ersticken.

Die Hinwendung zur Geschichte scheint aber mehr als eine Flucht zu sein. Sie entspringt auch dem Bedürfnis nach dem Brückenschlag in die eigene Vergangenheit, nach Heilung des Risses, den das gescheiterte sowjetische Brachial-Experiment in der Kontinuität der Nation hinterlassen hat. Vielleicht stehen deshalb Memoirenliteratur und Erinnerungen so in Blüte, werden Kindheit und Jugend literarisch verklärt, besonders wenn sie sich in den ehemals polnischen Ostgebieten, aber auch an den Orten polnisch-deutscher Berührung abgespielt haben. Die hohe Gewichtung dieser Art Literatur bei der Rezeption in Deutschland läßt sich gewiß zum Teil aus der Suche nach Anknüpfungspunkten, zum Teil aber auch aus Vermarktungsstrategien, gar vorauseilender Erwartungserfüllung beim Schriftsteller erklären. Wenn es schon reicht, die Lebensgeschichte einer Ratte in die Kanalisation unter Danzig zu verlegen, um auch einen mäßigen Text in die Nähe der Grass´schen Trilogie zu rücken und verkäuflich zu machen, braucht man sich darüber nicht zu wundern.

Da hatte Stefan Chwins Tod in Danzig schon anderes Niveau. Auch in seinem neuen Roman Die Gouvernante (Rowohlt Berlin) läßt er ein atmosphärisch dichtes Bild der Vergangenheit entstehen. Mit der Geschichte der geheimnisvollen Esther Simmel, die am Ende spurlos verschwindet, zeichnet er zugleich ein geistiges Porträt der Jahrhundertwende. Schauplätze sind Warschau und Danzig, und Esther hat Nietzsche in Basel gehört. Wie im Tod in Danzig, geraten dem Autor auch hier das Ambiente, die Welt der Dinge, eindrücklicher als seine Personen, die seltsam marionettenhaft bleiben, eher porte-parole ideengeschichtlich identifizierbarer Meinungen denn Menschen aus Fleisch und Blut.

Esther ist das weibliche Gegenstück des jüdischen Jungen Dawidek Weiser, des Titelhelden des Debüt-Romans von Pawe³ Huelle. Von letzterem erscheinen jetzt bei Rowohlt Berlin neue Danziger Erzählungen unter dem Titel Silberregen, bei Rospo eine Sammlung von Feuilletons, in gewohnter erzählerischer Qualität.

Unübersehbar stark ist das jüdische Thema in der neueren Prosa vertreten. Es ist nicht nur der Phantomschmerz der entsetzlichen Leerstelle, die das deutsche Verbrechen hinterlassen hat. Auch das Trauma der antisemitischen Hetzkampagne von 1968 wirkt nach, als die Mehrzahl der jüdischen Intellektuellen aus Polen vertrieben wurde. Eines der Opfer war als Jugendlicher Wilhelm Dichter. Der Autor, seither in den USA, legt jetzt den zweiten Band seiner Erinnerungen vor, Rosenthals Vermächtnis (Rowohlt Berlin). Eine lesenswerte, gut geschriebene Lektüre.

Belletristisch nimmt Marek Bieñczyk das Thema des Holocausts in Tworki auf. Die Liebesgeschichte eines jungen Polen in einer Irrenanstalt, in der sich – ohne daß dies eindeutig ausgesprochen und dem Erzähler bewußt würde - junge Juden vor der Verfolgung verstecken, die am Ende doch verschwinden. Bieñczyks erster Roman Terminal erscheint demnächst in deutscher Übersetzung (Verlag Tibor Schäfer). Bei dem Autor hat man sich an eine verspielte, von zahlreichen poetischen Zitaten durchwobene Sprache zu gewöhnen, die den Ton Grass´schen Geplauders gelegentlich ins Geschwätzige überdehnt.

Anna Bolecka hatte in ihrem deutschen Debüt Der weiße Stein eine archaisierend-mythenhafte Schilderung jüdischen Lebens in den verlorenen polnischen Ostgebieten gegeben.In Lieber Franz (Suhrkamp) setzt sie nun das Leben Franz Kafkas in eine Art Briefroman um. Dabei reproduziert sie – aus lauter Ehrfurcht? – die Biografie eher illustrierend und vergibt so die Chance, die Unschärfestellen in dem weitgehend von Max Brod geprägten Bild dieses Lebens schöpferisch auszufüllen.

Danzig, Nietzsche, Kafka - man kann diese Namen als Signale, als den tastenden Versuch eines Gesprächsangebots an den westlichen Nachbarn deuten. Nichts wäre wünschenswerter. Die Zeit, da die Rezeption polnischer Literatur mehr von politisch korrekter Völkerverständigung als von literarischer Qualität bestimmt und fast jede Kulturveranstaltung von wandelnden Gewissensträgern beherrscht war, hatte womöglich ihre historische Berechtigung, ist aber passé. Notwendig für einen Dialog wären, trotz Poetendampfer und Literaturexpreß, mehr Offenheit und Gehör von deutscher Seite.

Eher nach Frankreich schaut der Beckett-Übersetzer Antoni Libera, der in Madame (dtv) ein ironisches Porträt des „Künstlers als junger Mann“ zeichnet. Libera beschreibt seine Lehrjahre in der volkspolnischen Realität Ende der 60er Jahre, vor allem die faszinierend schöne Lehrerin, die ihn nicht nur Französisch, sondern auch das freie Denken lehrt. Als Literatur ist das mißraten, weil der Autor seine profunde Bildung an der falschen Stelle ausbreitet. Wer sich durch den pedantischen Stil kämpft, erhält aber ein facettenreiches Bild jener Zeit.

Aleksander Wat, Schriftsteller und Publizist jüdischer Herkunft, Schlüsselfigur der polnischen Dichtung des 20. Jahrhunderts, erzählt in Gesprächen mit Czes³aw Mi³osz, die unter dem Titel Jenseits von Wahrheit und Lüge. Mein Jahrhundert als letzter Band der „Polnischen Bibliothek“ bei Suhrkamp erscheinen, spannend von seinem Leben und Begegnungen mit großen Schriftstellern, Malern und Komponisten des 20. Jahrhunderts.

Sehr persönlich und doch gültiges Memento mori ist das Porträt, das der Lyriker Tadeusz Ró¿ewiczseiner Mutter zeichnet, eine Collage aus eigenen Gedichten, Tagebuchauszügen und Briefen (Mutter geht). Ró¿ewicz hat dafür vor kurzem den angesehenen polnischen NIKE-Preis erhalten.

Andere Autoren – darunter vor allem Frauen – fallen der Illusion einer linearen Zeit gar nicht erst anheim und verlegen ihre Erzählungen in den mythologischen Raum. Magdalena Tulli verfremdet die Wirklichkeit mit großer poetischer Kraft. In ihrem Debüt Träume und Steine war die Schilderung einer Stadt durch keine verbale Interaktion gestört. Im nunmehr vorliegenden In Rot (DVA) wird diese kunstvolle Stimmigkeit durch Handlung und Dialog etwas aufgebrochen.

Daß die Tulli eine Frau ist, scheint kaum erwähnenswert. Man hat schon vergessen, daß Mitte der 90er Jahre der plötzliche Auftritt einer ganzen Anzahl von weiblichen, dazu noch guten, Autoren in der polnischen Literatur einige Verwirrung gestiftet hat. Die sprachmächtig gewordene weibliche Sexualität, die in den Texten von Manuela Gretkowska, Izabela Filipiak, Natasza Goerke oder Olga Tokarczuk zum Ausdruck kam, irritierte männliche Kritiker so sehr, daß sie diese Texte, alle Individualitäten über einen Kamm scherend, mit dem Schmähwort „Menstruationsliteratur“ zu bannen suchten.

Derartige Klassifizierungen fallen auf ihre Urheber zurück (aufschlußreich ist allenfalls, mit welcher Genüßlichkeit sie dann selbst von seriösen Autoren – Jarzêbski, Stasiuk – doch immer wieder zitiert werden). Die eigentlich interessanten Grenzen scheren sich nicht um die Anatomie, sie mäandern quer durch die Geschlechter. Je nach dem gewählten Kriterium für „Weiblichkeit“ wäre ein Zagajewski mit der unausgesprochenen Verlusttrauer, die über all seinen Gedichten lastet, seinem empfindsamen, leisen Lamento über die Ironie unserer Zeit, harmoniebedürftiger und darin femininer als die sich unbekümmert von den Launen der Sprache und ihrer Phantasie treiben lassenden Natasza Goerke (Abschied vom Plasma, Rospo); ein Stefan Chwin mit seiner Ästhetik des Puppenhauses, des Schachtelns und Sammelns weiblicher als die phallisch-aggressive Manuela Gretkowska, die ihren Lesern eine Heldin mit zwei (oder vielleicht drei?) Kitzlern zumutet und damit sogar einen gestandenen Publizisten wie Adam Krzemiñski aus der Fassung brachte. Was immer man von der literarischen Bedeutung der Gretkowska halten mag, Provokation langweilt wenigstens nicht. Und ihr neuester Erzählungsband Leidenschaftsbuch (im Polnischen ein schöner Neologismus) hat durchaus Qualitäten.

Es war wohl Olga Tokarczuk, die mit ihren ersten Romanen Anlaß zu besagter Etikettierung gegeben hat. In ihrem Debüt Reise der Buchmenschen erfährt man erstaunt, daß der Hausfrau in ihren Tagen die selbstgemachte Mayonnaise nie gelingen kann. Und wo sollte sich das geheimnisvolle Buch der Weisen sonst befinden als im Uterus Mundi, einer tiefen Erdspalte in den Pyrrenäen?

Diese Mischung aus unreflektiertem Mystizismus, historisierendem Ambiente und erdigem Weiblichkeitskult mußte aufs höchste mißtrauisch machen. Wer wollte glauben, daß diese Autorin, die auch noch Psychologie studiert hatte, in ihrem jungen Alter schon die ewigen Wahrheiten hinter der eitlen Fassade der Wirklichkeit ausgemacht hätte? Manches im Lacan- oder Jung-Seminar Aufgeschnappte wanderte ihr unverarbeitet in die Feder und wurde mit Zahlen- und Naturelementen-Kult zu einer Poetik der ewigen Wiederkehr verrührt – die Idee der Archetypen hat bei Tokarczuk einiges Unheil angerichtet. Erschwerend kam hinzu, daß die Autorin, kaum daß sie den esoterisch entrückten Leser wehrlos meinte, immer mal neckisch ihren Rock lüpfte.

Tokarczuk hat einmal verraten, jedes ihrer Bücher sei ihr, kaum geschrieben, schon suspekt. Das sprach bisher für sie. Aber erzählen konnte die Autorin schon von Anfang an. Und mit ihrem neuesten Buch Taghaus, Nachthaus (nächstes Jahr bei DVA) hat sie einen qualitativen Sprung getan, der mich hier fast zu einer kleinen Liebeserklärung hinreißt. Tokarczuk sieht mit eigenen Augen, sie hat Witz und Ironie. Sie wagt es, sich von den „großen Erzählungen“ von Mythos und Wissenschaft, auch ihrer geliebten Esoterik, zu emanzipieren und damit zu spielen. Plötzlich hört man ihre Stimme. Tokarczuk fürchtet die Fragmentarisierung nicht mehr, sie läßt sich nicht mehr zur traditionellen, großen Erzählform zwingen. Taghaus, Nachthaus besteht aus mehreren Strängen – einige Teile sind in ihrem Erzählungsband Der Schrank (DVA) abgedruckt - und entwirft doch ein großes Bild. Der kleine Grenzort Nowa Ruda an der polnisch-tschechischen Grenze (in den Sudeten) ist keine „kleine Heimat“, kein heimeliger Weltersatz – er ist die ganze Welt.

Auch dem suggestiven Sog ihrer Erzählung in Ur und andere Zeiten (Berlin Verlag), in dem sie gleichsam aus der Küchenperspektive ein Jahrhundert polnischer Geschichte vorbeiziehen läßt, kann man sich schwer entziehen. Man lese nur, wie dort das Mädchen Ähre ihr totes Kind gebärt, oder die Beschreibung des Hörens (sic!) in Taghaus, Nachthaus – das gehört mit zum Besten, was mir im Polnischen seit langem begegnet ist.

Wie Tokarczuk Nowa Ruda, so macht Andrzej Stasiuk einen unscheinbaren Ort an der slowakischen Grenze zum Nabel der Welt. Mit lyrischer Intensität komponiert er aus der scheinbar ewigen Trägheit des Lebens eine Hymne auf die Wirklichkeit, die gerade dort, wo sie am sinnlichsten wird, in Transzendenz umschlägt. Für Poesie unempfängliche Unternehmensberater haben den Autor von Rowohlt Berlin zu Suhrkamp vertrieben. Dort ist in diesem Herbst sein schönes Buch Die Welt hinter Dukla erschienen.

Wenn man dies als „Entdeckung der engeren Heimat“, als „neue Regionalisierung“ bezeichnet, verkennt man, daß zumindest die beiden genannten Autoren durch die Fokussierung ihres Blicks gerade das Gegenteil einer regionalen Verengung, nämlich Welthaltigkeit erreichen, im Konkreten wieder allgemein werden, darin vielleicht authentischer als die professoral-alleswissenden Epochenmaler.

Stasiuk gilt vielen als das stärkste Talent der 60er Generation. Für die Medien gibt er gern den Mr. Hyde, den Deserteur, Drogenfreak und reizbaren Einsiedler, dessen Ruf die Presseabteilungen um den zivilisierten Verlauf ihrer Leseabende fürchten läßt. Als Dr. Jekyll wird Stasiuk, übrigens auch ein hervorragender Lyriker, zum scharfsichtigen und zärtlichen Sänger der Wirklichkeit. In dem großartigen Roman Der Weiße Rabe, der ihn in Deutschland bekannt machte, gelang es dem Autor, beide Seelen glücklich zu vereinen – die rauh-herzliche Solidarität einer Jungen-Clique im spätkommunistischen Warschau, und nach der Wende die so rauschhaft schöne wie lebensgefährliche Schneelandschaft der Beskiden, in der alle Frustrationen körperlich ausagiert werden: die geistige Leere nach dem Verlust des eindeutig identifizierbaren Feindes; der Ekel vor dem Älterwerden; die Reue über den von kleinbürgerlichem Wohlstand versüßten Verrat an romantischen Träumen.

In seinem jüngsten Buch Mein Europa - Zwei Essays über ´Mitteleuropa´ beweist Stasiuk seine Beschreibungskraft erneut, Seite an Seite mit einem Text des ukrainischen Autors Juri Andruchowycz. Diese Kooperation ist ein interessantes Symptom für die Ostverlagerung der Mitte, oder sollte man sagen – die Emanzipierung der Peripherie?

Während das subtil Poetische (in Dukla) auch ohne das wüst Instinkthafte funktioniert, schleudert ein Mr. Hyde ohne Alter ego seine Flüche - und Stasiuk kennt die zeitgenössische Gossensprache wie kein anderer - ins Leere. Daran krankt Stasiuks Roman Neun, der Warschau aus der Sicht eines von Gläubigern gehetzten Dealers ablichtet, übrigens mit ebenso großartiger Atemlosigkeit wie im Weißen Raben. Vielleicht ist es die Nähe zum Drehbuch, die diesen Text so leer macht, daß man sich am Ende schauernd selbst vom Autor verlassen fühlt.

Diese anachronistische Größe – die Person des Autors, die auf tausenderlei Umwegen, erkennbar oder verkleidet, doch immer ins Buch gelangt und dort jene Wärme abstrahlt, von der Benjamin einst sprach – sie ist es wohl, die Schriftsteller wie Huelle, Stasiuk oder Tokarczuk aus der Masse anderer Prosaautoren heraushebt. Auf ganz eigene Weise gehört auch Jerzy Pilch mit seiner Groteske hierher (Andere Lüste, Volk & Welt). Mangel an guten Federn besteht in Polen nicht. Einige davon erfüllen sogar die Forderung Stanis?aw Lems, die zeitgenössische Prosa möge sich mehr der aktuellen Wirklichkeit zuwenden.

So hat sich der Drehbuchautor Witold Horwath mit seinem Roman Séance (Hoffmann und Campe) einen großen Wurf vorgenommen. Die Geschichte einer erotischen Obsession, die zerstörerische Liebe zu der jungen Milena mit ihrer aus Verzweiflung geborenen Nymphomanie, erzählt vor einem fast nostalgisch verklärten Panorama der 70er Jahre Polens, in zügiger Prosa. Leider gestattet sich der Autor zu oft die Regression in erotische Allmachtsphantasien mit dem Ergebnis, daß Momente wirklicher Einfühlung in besagte femme fatale schlicht zunichtegemacht werden. Schade.

Piotr Siemion erzählt in Picknick am Ende der Nacht (Volk & Welt) die Geschichte von Breslauer Jugendlichen, Außenseitern mit ihrer eigenen alternativen Kultur, die aus dem erstickenden Realsozialismus in die USA emigrieren und Ende der 80er Jahre nach Polen zurückkehren, um dort einen unabhängigen Radiosender aufzubauen. Siemion tut genau das, was so viele Kritiker anmahnen – er registriert – durch die Sicht eines Engländers interessant verfremdet - die gesellschaftlichen Veränderungen, rekapituliert die spannenden Umwälzungen der letzten Jahre.

Es gibt auch ganz unentdeckte Autoren, die lakonisch und anregend den genau beobachteten Alltag schildern, ohne gleich Historiengemälde schaffen zu wollen. Eine davon ist Maria Kolendamit ihrem Roman Der zweite Sommer (Oberbaum).

Ach ja, die Poesie. Fast hätte ich sie vergessen. Dabei ist sie die eigentliche Stärke der polnischen Literatur. Das letzte Jahrzehnt des XX. Jahrhunderts bildete darin keine Ausnahme. Aber die Spreu vom Weizen zu scheiden, braucht Zeit, gerade bei den jüngeren Autoren. Zagajewski polemisiert in seinem feinsinnigen Band Ich schwebe über Krakau (Hanser) mit Gombrowicz´ Essay Gegen die Poeten. Aber Gombrowicz sagte zu Recht: „Jeder Rotzlümmel kann ein hohes und tiefes Gedicht schreiben, erst in der Prosa kommt der Rotzlümmel aus ihm heraus.“ Auffällig viele Autoren, die gute Gedichte schreiben, scheitern in der Prosa (trauriges Beispiel ist die früh verstorbene Halina Poœwiatowska, deren Erzählung für einen Freund nun bei Piper erschienen ist). Wer die polnischen Äquivalente eines Enzensberger oder Durs Grünbein sucht, der lese z.B. Barañczak oder Podsiad³o, Szlosarek oder Swietlicki.

Gombrowicz und Mi³osz - diese beiden Namen standen für die universalistische Strömung der polnischen Literatur, die sich nicht hinter der „polnischen Besonderheit“ verschanzte, sondern mit gleichberechtigter Stimme am Gespräch der Welt teilnehmen wollte – gleich nah an Gott wie alle anderen Stimmen dieser Welt. Altmeister Mi³osz, in bewundernswerter Vitalität, hat noch immer ein gewichtiges Wort mitzureden. Sein Verdikt genügt, um Eintagsfliegen in den Rang eines chef-d´oeuvre zu erheben und zu Bestsellern zu machen (man denke an Tomasz Tryznas Fräulein Niemand).

Einen neuen Gombrowicz sehe ich nicht am Horizont. Dessen Mut zur Einsamkeit sowohl im existentiellen Sinne (Exil), als auch im Sinne einer literarischen Rede, die ihre Koordinaten nicht vom Warschauer Kaffeehaus abstecken ließ, gedeiht nicht alle Jahre. Einsamkeit braucht Zeit. Die zehn Jahre, die seit der polnischen Wende vergangen sind, sind für literarische Zeitläufte nur ein Augenblick. Womöglich siedeln sich manche jüngeren Autoren deshalb auf dem Lande an, um die Geschwätzigkeit der Metropolen zu fliehen? Das wäre ein Anlaß zum Optimismus.

Die Präsentation in Frankfurt wird die ganze Fülle der Autoren und Verlage zeigen, die hier nur in wenigen Leuchtpunkten angedeutet werden konnte. Immer wieder verblüffen die Kreativität und geistige Lebendigkeit dieser Nation. Erfreulich, wie intensiv diese Literatur in Deutschland beobachtet und aufgenommen, wie rasch jeder neue Name übersetzt wird. Mit der Rückkehr nach Europa wird das exotisch Aufgeplusterte abgebrannt werden bis auf jenes Substrat, das auch ohne künstliche Grenzen bestehen kann. Was diesen Prozeß nicht überlebt, darum ist es nicht schade. Ich bin sicher, Fremdheit wird genug bleiben.

(Ursprüngliche Fassung des Artikels aus der FAZ vom 14. Oktober 2000)