Russland: Die große
Depression
Interview mit Andrzej
Stasiuk. Das Gespräch führte Ireneusz Dańko
(Aus der Zeitschrift „Nowa Europa Wschodnia”, Nr. 3-4 / 2009)
Ireneusz Dańko: In dem Verlag CZARNE, den du mit deiner Frau betreibst, ist
kürzlich Daniel Kalders Buch Der verlorene Kosmonaut erschienen. Dieser
„Anti-Reise-Führer”, wie der schottische Autor sein Werk bewirbt, dokumentiert
eine Reise durch die russische Provinz. Die Lektüre ist für die Russen nicht
erbaulich. Du selbst gehst in deinem Kommentar zu dem Buch noch weiter, wenn du
Russland als „Symbol des menschlichen Versagertums” bezeichnest: „Kein Land
wollte je so hoch hinaus und ist dabei so kläglich gescheitert. Russland, kann man sagen, ist die Allegorie der
Menschheit, die mit ihren kurzen Ärmchen nach den Sternen greift“. Siehst du
unseren östlichen Nachbarn wirklich so negativ?
Andrzej Stasiuk: Jeder von
uns hat irgendein Russlandbild. Für mich ist Russland ein Beispiel für das
Scheitern der menschlichen Materie. Kalder hat zehn Jahre dort gewohnt und die
russische Wirklichkeit sehr gut kennen gelernt. Er ist kein Idiot. Russland
sieht einfach so aus, wie er es beschreibt. Du fährst fünftausend Kilometer und
siehst immer dieselbe formlose, sinnlose Landschaft. Zero Sexappeal.
Dańko: Übertreibst du
damit nicht ein bisschen? Für viele Russen ist Kalders Buch nichts anderes als
ein Zerrspiegel, eine Art literarischer Slum Tour, bei der wir die
ärmsten, heruntergekommensten Winkel eines Landes besichtigen. Nicht alle in
Russland leben in Armut, fahren mit der Plackarta (Schlafwagen ohne
getrennte Abteile), betrinken sich bis zur Bewusstlosigkeit oder essen fette Tscheburaki
auf den Bahnhöfen.
Stasiuk: Kalder gibt offen
zu, dass er ein Apokalyptiker ist und ihn nur solche Länder anmachen. Deshalb
ist er jetzt in Austin in Texas. Auch mich interessieren die ausgefahrenen
Touristenrouten nicht. Aber Kalder hält Russland keinen Zerrspiegel vor. Die
Welt, und dieses Land ganz besonders, besteht nicht nur aus reichen Metropolen
und zufriedenen Menschen. Die Proportionen sind meist umgekehrt. Die tiefste
russische Lektüre der letzten Jahre waren für mich die Bücher von Andrej
Platonow. Sein Blick auf Russland ist grausam, aber gleichzeitig mitreißend
ästhetisch. Diese Ästhetik berührt den Kern der Wirklichkeit. Natürlich
meldeten sich bei Kalders Lesungen, die ich in Polen miterlebt habe, manchmal
auch empörte Russinnen zu Wort: „Was ist das für ein Bild von Russland? Ich
protestiere!“, sagten sie. Das wirkte wie ein verzweifelter Versuch, die
riesigen nationalen Komplexe zu verbergen. Ich selbst würde, wenn ich ein
kluger Russe wäre, Kalders Buch als eine der schönsten und empfindsamsten
anerkennen, das je über mein Land geschrieben wurde.
Dańko: Was macht Kalders Vorzug gegenüber den Büchern anderer Autoren über Russland aus?
Stasiuk: Dieser Schotte hat
es wie wenige geschafft, die Schicht von Public Relations zu durchdringen, in
der die Russen Meister sind. Er tut das mit großem Charme und viel Humor.
Dańko: Kalders Beschreibungen von Russland und Serhij
Zhadans, dessen Bücher ebenfalls im Verlag CZARNE erscheinen, Beschreibungen
der Ukraine unterscheiden sich wenig im Klima. Beide nehmen vor allem die
groteske Hoffnungslosigkeit des Lebens wahr.
Stasiuk: Ich kenne diese
Länder nicht so gut wie Daniel und Serhij. Bestimmt unterscheiden sie sich
nicht, wenn sie das so geschrieben haben. Die postsowjetische Materie ähnelt
sich überall. Ganz gleich, ob ein Schotte oder ein Ukrainer sie beschreibt.
Dańko: Im letzten Jahr bist du das erste Mal nach Russland gefahren. Hat es dich früher nicht gereizt, dir das mit eigenen Augen anzusehen?
Stasiuk: Ich hatte keine
Lust. Russland hat mich nie fasziniert. Seit ich denken kann, war Russland in
meinem Leben nur als große Peinlichkeit präsent, als etwas schrecklich
Langweiliges. Aber dann ergab sich eine Gelegenheit, weil mein guter Bekannter
Piotr Marciniak polnischer Konsul in Irkutsk geworden ist, und ich bin
gefahren. Durch ihn hatten wir einen Ausgangspunkt für unsere Reise in die
Tiefe Sibiriens.
Dańko: Warst du lange in
Russland?
Stasiuk: Drei Wochen. Es war
Sommer, gnadenlose Hitze, und ich hatte in Erwartung des sibirischen Frostes
einen warmen Pullover eingepackt. Wir flogen mit meiner Frau und unseren
Freunden nach Moskau, und von dort gleich weiter nach Irkutsk.
Dańko: Wolltest du dir
Moskau nicht ansehen?
Stasiuk: Das menschliche
Leben ist begrenzt. Wenn man dreißig, vierzig Jahre ist, muss man sich
entscheiden lernen. Moskau ist nur eine Visitenkarte, absolut nicht
repräsentativ für das wahre Gesicht des Landes. Wiktor Jerofejew, der Russland
in und auswendig kennt, riet: „Fahr nicht dorthin, dort findest du nichts
Interessantes. Fahr gleich weiter.“ Und das habe ich gemacht. Es hat mich nie
gereizt, so einen Städte-Moloch zu erleben. Ich besichtige
nicht gern Visitenkarten. Städte wie Moskau oder Petersburg sind quasi für
unsereins gebaut. Sie sollen die Russen so zeigen, wie sie sich gern selbst
sehen. Aus der Perspektive von Ulan-Ude und Tschita in Sibirien sieht man viel
mehr als vom Roten Platz. Ich sehe gern, wie dort das Russische allmählich zur
Neige geht, wie die russische Butter nicht reicht, um sie über die ganze Fläche
des Landes zu verstreichen.
Dańko: Ich war mehrmals in Moskau und Petersburg und habe jedes Mal bereut, dass ich keine Zeit hatte, diese Städte näher kennen zu lernen...
Stasiuk: Daniel Kalder hat
in Moskau auch viel Zeit verbraucht und findet auch, dass das eine
faszinierende Stadt ist. Mir haben die zehn Stunden auf dem Flughafen
Scheremetjewo gereicht, wo ich in die Maschine nach Irkutsk umgestiegen bin.
Gleich nach der Ankunft in der Haupthalle von Scheremetjewo fiel mir ein
Wachmann in schwarzer Uniform auf, der mit Weibern in Kopftüchern an der Bar
saß und auf den Boden spuckte. Er sah genauso aus wie dieser schwachköpfige
Russe aus den Witzen, die wir uns als Kinder erzählten. Ganz Scheremetjewo
wirkte wie der Autobusbahnhof in Lublin in der Hauptverkehrszeit. Eng wie sau,
überall Gedränge und diese Reisebündel. „Skorej, skorej!“ wurde man
von den Angestlelten herumgescheucht. Im Laufschritt mussten wir Stiefel
und Taschen ablegen, um durch die elektronischen Schranken ins Flugzeug zu
kommen. Ein Albtraum.
Dańko: Irkutsk hat einen
besseren Eindruck gemacht?
Stasiuk: Es hat mich
überhaupt nicht überrascht. Es war genauso, wie ich es mir vorgestellt hatte.
Das Paradox war, dass ich mehrere tausend Kilometer flog und den Eindruck
hatte, ich wäre in einer Art Sokołów Podlaskis hoch zehn gelandet, wo meine Eltern
herkommen. Von Moskau aus machten wir noch ein Bratsk Zwischenstation. Keine
Ahnung, warum. Der Flughafen dort wirkt wie eine verlassene Fabrikhalle
irgendwo im Wald, wo die Arbeiter im Morgengrauen zur Schicht kommen. Grau,
schmutzig, unwirtlich. Ich hatte Platonows <Wykop> bei mir. Alles
passte wie angegossen zu diesem Buch.
Dańko: Hast du nicht daran gedacht, mit der transsibirischen Bahn durch
Russland zu fahren? Cedrars, Kapuscinski und viele andere Schriftsteller sind
mit dem Zug durch Sibirien gereist. Vor ein paar Jahren erklärte sogar der Brasilianer Paulo
Coelho, er wolle sich diesen Traum erfüllen.
Stasiuk: Diesen Traum hatte ich nicht. Als Teenager faszinierte mich Blaise
Cendrars Poem über die Transsib, später verging mir diese Faszination. Mir
reichte der Anblick der Züge, die aus Moskau im Warschauer Ostbahnhof ankamen,
und das Volk, das darin unterwegs war. Als ich schließlich in Sibirien gelandet
war, musste ich mich natürlich mit der Bahn zwischen den Städten bewegen, die
hunderte Kilometer voneinander entfernt sind. Ein Auto zu mieten, war zu teuer,
und ich wäre auch nicht überall hingekommen. Aber ich fuhr nie länger als zwölf
Stunden mit dem Zug. Die längste Strecke war die mit der Transsib von Tschita
nach Zabajkalsk an der chinesischen Grenze. Wir fuhren am Nachmittag los und
waren am frühen Morgen dort. Länger hätte ich auch nicht im Zug ausgehalten.
Natürlich, die Russen sind Meister der PR und verkaufen die Legende der
Transsib in alle Welt. Alle reden ihnen nach, das sei eine mystische Erfahrung,
man müsse unbedingt die ganze Strecke zurücklegen. Dabei ist es eine zum Kotzen
monotone Sache, eine Woche lang immer die gleichen Hügel, Sümpfe und mickrigen
Birken anzugucken. Null Attraktion.
Dańko: Bist du mit Plackarta gefahren?
Stasiuk: Mach keine Witze. Das hätte noch gefehlt, dass ich mich in einem
Schlafwagen ohne Abteile durch Sibirien schlage. In der Ukraine bin ich mit Plackarta
gefahren, das reicht mir: Gestank, Lärm, da kann man sich nur möglichst schnell
zudröhnen und einschlafen, um irgendwie ans Ziel zu gelangen. In Russland
fuhren mit dem Kupejny (Liegewagen), in gesonderten Abteilen. Kein
Luxus, aber wir konnten uns ausruhen, wenn wir erschöpft aus der Taiga kamen.
Dańko: Hast du unterwegs Menschen kennen gelernt?
Stasiuk: Unterschiedlich. Es musste irgendeinen Funken geben, damit wir ins
Gespräch kamen. Im Abteil ist man von den anderen Reisenden isoliert. Auf der
Suche nach einer Unterkunft haben wir mehr Menschen kennen gelernt. Und gut so.
Ich persönlich mag nicht ständig neue Kontakte knüpfen. Ich bin ein
Einzelgänger, es reichte mir, dass ich sieben oder acht Russen und Russinnen
kennen gelernt habe.
Dańko: Russland
aus dem Fenster der Transsib – das sind Sümpfe, Hügel, mickrige Birken und sonst nichts?
Stasiuk: In erster Linie. Das ist eine mit einem ganzen dünnen Firnis
Zivilisation und Menschlichkeit überzogene Endlosigkeit. Anfangs weiß man nicht,
was man davon halten soll. Erst nach einer Weile kommst du darauf, was dieses
Land wirklich ist, das du da durchmisst, worauf dieses Phänomen beruht.
Dańko: Und worauf beruht es?
Stasiuk: Ganz kurz gesagt, auf Formlosigkeit und Grenzenlosigkeit. In Sibirien
herrscht die absolute Melancholie. Man muss viel psychische Widerstandskraft
besitzen, um das Tag für Tag auszuhalten.
Dańko: Hattet ihr einen Reiseplan? Wusstest du, was du sehen willst?
Stasiuk: Außer dem Flug nach Irkutsk gab es keinen Plan. Wir entschieden
immer vor Ort, wohin wir fahren wollten. Manchmal genügte die Magie eines
Namens, damit wir Fahrkarten kauften und in den Zug stiegen. Dieses Tschita zum
Beispiel. Aus meiner Jugend war es mit Revolutionsfilmen assoziiert, so eine
Art sowjetischer Western.
Dańko:
Krasnokamensk, der Verbannungsort von Michail Chodorkowskij, den ihr auch
besucht habt, wird nicht mit der Oktoberrevolution assoziiert.
Stasiuk: Die Fahrt dorthin war eine Idee von Olaf, meinem deutschen
Übersetzer, der ein großer Anhänger von Chodorkowskij ist.
Dańko: Was habt ihr dort vorgefunden?
Stasiuk: Das Nichts. Dort gibt es ein Uranbergwerk und das Lager, in dem
Chodorkowskij festgehalten wird. Ein Taxifahrer brachte uns bis zweihundert
Meter an die Zone heran, damit wir Fotos machen konnten. Weiter neljzja.
Wir waren vermutlich die ersten Touristen dort, denn die ganze Stadt hat uns
angeguckt. Fremde fallen dort sofort auf.
Dańko: Haben sie mit euch gesprochen?
Stasiuk: Klar. Der Taxifahrer, mit dem wir fast einen ganzen Tag unterwegs waren,
erwies sich als sehr offener und umgänglicher Mensch. In Sibirien gibt es quasi
zwei Ebenen der menschlichen Kontakte. Die erste ist die amtliche und zeichnet
sich durch große Abneigung, sogar Angst vor Fremden aus. Dafür gibt es bei den
normalen Kontakten, auf der Straße oder auf dem Basar, keine Barrieren. In
Zabajkalsk an der russisch-chinesischen Grenze erklärte man sich unter großem
Widerwillen bereit, uns für eine Nacht im Hotel anzumelden. Aber als uns
unterwegs ein Rad am Auto abriss, lief das halbe Dorf zusammen, um uns zu
helfen. Diese „Offenheit” ist manchmal geradezu deprimierend. Ich bin kein
Mensch, der sich gern auf die Schulter klopfen lässt, ich freunde mich nicht
mit jedem auf der Straße an. Aber dort ist das so. Man bekommt den Verdacht,
dass dort beide Arten von Kontakt wahr sind, aber gleichzeitig, und die eine
ebenso wenig bedeutet wie der andere, dass sie zerbrechlich sind, dass diese
Überschwenglichkeit im persönlichen Kontakt jederzeit enden kann und jeder
seiner Wege geht.
Dańko: Ryszard Kapuscinski zitiert in seinem Imperium die Worte:
„Wot, takaja žizn’”, die er oft von Russen gehört habe, als er ihr Land Ende der 80er,
Anfang der 90er Jahre bereiste. Er verstand diesen Satz als resignatives
Sichabfinden mit der Realität. Er sollte die Lebenseinstellung der Russen am
treffendsten wiedergeben. Hat sich seit damals etwas geändert?
Stasiuk: Keine Spur. Wir haben am Baikal bei so einer Frau gewohnt, deren
einer Mann sich zu Tode getrunken hatte und der andere von Gangster erschossen
worden war: „Takaja žizn‘” sagte sie, und alles war klar.
Dańko: Fiel die
Antwort auf die Frage nach der Regierung Putin auch so aus?
Stasiuk: Unterschiedlich. Wir kamen gerade zu der Zeit, als die russische
Armee in Georgien einfiel. Wir versuchten das Thema anzusprechen, fragten Leute
auf der Straße. Nichts, komplettes Desinteresse oder Ausflucht in Gemeinplätze
wie den, dass auf der Welt Frieden herrschen sollte. „Nam eto neinteresno.
Eto wojna Putina,” hieß es, und damit war das Gespräch zu Ende. Da wurde
mir erst bewusst, das Georgien sechstausend Kilometer entfernt war. Aus so
einer Perspektive wundert es nicht mehr, dass der Krieg im Kaukasus für den
Taxifahrer in Zabajkalsk schon der Kosmos ist. Fünf Kilometer weit mit der
Armee in die eine oder andere Richtung, was macht das für einen Unterschied für
Menschen, die mit Maßstäben des Globus operieren?
Dańko: Hast du
Sympathien für Putin in der Bevölkerung bemerkt? Oder hat es sie gestört, dass
er im KGB war, der für Massenverbannungen nach Sibirien zuständig war?
Stasiuk: Ich habe weder Sympathie noch Abneigung bemerkt. Der Typ, der
sagte, dass der Krieg mit Georgien Putins Kriegs sei, hatte einen Sohn, der
sich beim KGB beworben hatte. Für ihn war das so selbstverständlich wie die
Bewerbung bei jeder anderen Firma oder irgend einem Amt.
Dańko: Was beschäftigt die Menschen in Siberien denn überhaupt?
Stasiuk: Das Žizn‘, das Leben, der
alltägliche Kampf um das Benzin im Tank, um die tausend Kilometer zur Familie
zurücklegen zu können. Hungern tut man in Sibirien nicht mehr, doch die Menschen
haben immer noch keine Hoffnung auf ein besseres Leben. Hauptsache, es wird
nicht schlimmer. Moskau und der Kreml funktionieren in den Köpfen wie ein
mythisches Märchenland.
Dańko: Hast du
einen Unterschied in der Mentalität der Russen und der übrigen Völker Sibiriens
bemerkt?
Stasiuk: Klar. Wenn in Irkutsk überhaupt jemand gearbeitet hat, dann waren
es vor allem Chinesen. Die Russen saßen entweder in ihren Taxis oder
schimpften, dass die Chinesen ihnen die Arbeit wegnehmen und die Miliz nichts
dagegen tun. Ihnen fehlt das Gefühl der Verwurzelung, das die Burjaten zum
Beispiel haben. Die zeigten mehr Eifer und Optimismus. Manchmal bewiesen sie
sogar demonstrativ Geringschätzung oder gar Verachtung für die Russen, dass die
nichts zustande kriegen und sich ins Koma saufen. In den Kontakten mit uns
waren sie meist zurückhaltender. Es sei denn, sie hatten etwas getrunken, was
auch vorkam. Dann hielt man sich besser zurück.
Dańko: Darin
unterscheiden sie sich vermutlich nicht von betrunken Russen oder Polen.
Stasiuk: Du irrst dich. Die Burjaten vertragen den Alkohol schlechter und
reagieren extremer darauf. Doch wenn sie nüchtern sind, weißt du wenigstens,
woran du bist. Gewöhnlich sind sie höflich, leicht distanziert, sie
respektieren, dass du anders bist. Bei den Russen ist das nicht so. Sie wollen
sofort Freundschaft schließen. Es reichte, dass wir ein paar Tage bei jemandem
am Baikal wohnten, schon kam es beim Abschied zu herzzerreißenden Szenen.
Tränen, Getatsche, wozu ich überhaupt keine Lust hatte. Wir hatten schließlich
nur eine Unterkunft gemietet und dafür bezahlt. Klar, wir haben viel geredet
und hatten eine angenehme Zeit, aber dass man beim Abschied gleich losschluchzt
und sich der Freundschaft versichert?
Stasiuk: Im Süden und Osten Europas herrscht tatsächlich eine ungewöhnliche
Gastfreundschaft. Aber in Russland und auf dem Balkan wird das geradezu
übergriffig. Du existierst nicht mehr als gesonderte Person. Du hast die
Vorstellungen deines Gastgebers von Gastfreundschaft zu erfüllen und basta. Das
macht keinen Spaß. Aber du weißt, dass ich ein asozialer Sonderling bin und es
nicht mag, wenn man mich zum Trinken und Essen zwingt.
Dańko: Vielleicht ist das ein Symptom der berühmten russischen Seele?
Stasiuk: Ich scheiß auf die russische Seele. In Ulan-Ude auf dem glavnaja
ploščad’ steht ein großer
Leninkopf. Angeblich der größte der Welt. Alle, die wir trafen, waren furchtbar
stolz draauf. Jedesmal wurden wir gefragt, ob wir den Lenin gesehen hätten. Ja,
antworteten wir, aber er hat keinen besonderen Eindruck auf uns gemacht. Ein
andermal sprach uns ein angeheiterter Russe an und wollte sich anfreunden: „A
takie gory u Was jest? Takoj les u was jest?” Wir wussten nicht, was wir sagen
sollten. Normale Berge eben, und ein bißchen Gestrüpp. Dieser Nationalstolz
verdeckt nur den totalen Saustall dort und riesige Komplexe. Meine Frau Monika
hatte nach drei Wochen genug von Russland. Als wir im Auto von Warschau
zurückfuhren, sagte sie: „Weißt du, ich wäre glücklich, wenn uns jetzt die
polnische Polizei anhalten würde.”
Dańko: Habt ihr schlechte Erfahrungen mit der russischen Miliz gemacht?
Stasiuk: Nein, aber uns reichten diese prüfenden Blick unter den breiten
Mützen. In Tschita oder Zabajkalsk wurden wir sofort als Fremde enttarnt. Sogar
in Irkutsk, das ja viele Nationalität hat, reagierten die Menschen auf dem
Basar sehr lebhaft auf uns. Besonders wenn sie Olaf sahen, der rotblond ist.
Dańko: Kapuściński beschreibt im Imperium seine Reise mit der Transsibirischen Eisenbahn und erwähnt die Überlegungen des russischen Philosophen Nikolaj Berdjajew über den Einfluss der weiten russischen Räume auf die russische Seele. Er stellt im Einklang mit dem Russen fest, dass seine Landsleute die meiste Energie auf die Erhaltung des riesigen Landes verwenden müssen, statt eine dynamische, intensive Kultur zu schaffen. Stimmst du dem zu?
Stasiuk: Wenn du dort
bist und diese Landschaften siehst, kannst du nur auf solche Gedanken kommen.
Die menschliche Erfahrung zählt nicht viel, sie existiert nicht, ist sekundär
gegenüber der Erfahrung des monotonen Raumes. Russland ist ein schrecklich
depressives, langweiliges Land.
Dańko: Die Landschaften oder die Menschen?
Stasiuk: Alles. Die
Zivilisation, die Kultur und die Landschaften. Uns ist dort nichts Schlimmes
zugestoßen, uns hat nur die furchtbare Melancholie und Traurigkeit erdrückt.
Die meisten Orte ähnelten einander. Sogar die russische Natur ist – wie Viktor
Jerofejew treffend schrieb – einfach jammervoll. Nehmen wir nur den Mythos der
Taiga am Baikal. Es gibt dort keine üppige Pflanzenwelt, denn die
Vegetationsperiode ist zu kurz, als dass die Pflanzen sich voll entwickeln
könnten. Du gehst dort hinein, du gehst zwei, drei Stunden lang und weißt, dass
dieser triste Wald sich noch weitere zweitausend Kilometer s hinziehen wird.
Gelangweilt habe ich mich nur deshalb nicht, weil das für mich etwas Neues war,
etwas, was etwas über mein Verhältnis zu Russland aussagte.
Dańko: Ein – milde gesagt - ziemlich negatives Verhältnis.
Stasiuk: Weder negativ,
noch positiv. Eigenschaftslos. Aus meiner Jugend erinnere ich mich, dass der
Kontakt mit dem Russischen für mich wie der Kontakt mit der totalen Langeweile
war. Die Erzählungen der Russisch-Lehrerinnen, ihre hölzerne Sprache, diese
aufgeblasenen Illustrationen aus dem „Sputnik“, das Üben der Lesestücke. Das
war die Langeweile, die ich jetzt auch auf dieser Reise wieder erlebt habe.
Dańko: Dostojewski, Tolstoj, Bulhakow haben dich auch gelangweilt?
Stasiuk: Die russische
Literatur habe ich mir, wie die meisten aus meiner Generation, ohne großes
Nachdenken angeeignet. Bulhakow flog durch mich hindurch wie das Futter durch
die Gans. Dostojewski hatte ich vorher gelesen und kam nie mehr auf ihn zurück.
Einzig Platonow wirkt auf mich. Aber sein Schreiben ist mehr als russisch.
Stasiuk: Ich schätze Kapuściński, aber ich habe
mir die Bilder aus Sibirien nicht ausgesucht. Ich habe das Leben dort so
beobachtet, wie es ist.
Dańko: Glaubst
du nicht, dass eine dreiwöchige Reise zu wenig ist, um die Wahrheit über so ein
riesiges Land wie Russland zu erfahren?
Stasiuk: Mich interessiert diese sogenannte „Wahrheit” überhaupt nicht.
Wenn ich irgendwo hinfahre, will ich meine Phantasie in Gang bringen und keinen
journalistischen Bericht liefern. Ich bin nicht Kapuscinski, der die gesamte
Literatur über ein Land studierte, bevor er irgendwo hinfuhr. Er war Reporter
aus Fleisch und Blut, ich bin ein Idiot, der beschreibt was er sieht, oft auch
bestimmte Dinge nicht versteht oder sie sich einbildet. Ich mag seine Bücher,
aber ich habe eine andere Auffassung von der Welt und der Literatur. Er schrieb
Selbstverständlichkeiten über Russland, ich schreibe, was ich mir darunter
vorstelle. Die Reisen sollen auf meine Sinne wirken, meine Phantasie, sollen
mich zum Nachdenken anregen. In dem Buch, das ich zusammen mit Olaf schreibe,
werden meine inneren Erfahrungen vorkommen, die für Russland weder gut noch
schlecht, sondern gemischt sind. In mir ist nach der Reise nach Sibirien weder
Enttäuschung noch Euphorie. Ich lese Platonow, das reicht mir. Es stimmt alles.
Du fährst und fährst und fährst und siehst kein Ende. Der totale Verfall,
Verpintscherung der Materie, der Kultur, von allem, und gleichzeitig der große
Aufbruch zu etwas Kosmischem, Überweltlichem. Russland wollte immer nur
entweder das Absolute oder gar nichts. Die Mitte blieb leer. Ich kann
verstehen, dass Kalder dort gelandet ist, weil es ihn erregt hat, aber nicht
unbedingt, weil es ihm dort gefiel. Ich glaube, dass Russland schon zu fesseln
vermag.
Dańko: Würdest du gerne noch einmal hin?
Stasiuk: Ich würde lieber Zentralasien sehen, die Steppe dort. Kirgisien,
Usbekistan, Tadschikistan – das macht mich an.
Dańko: Steppe
gibt es auch in der Ukraine genug. Von allen Ländern der ehemaligen Sowjetunion
passt sie dir wohl am ehesten.
Stasiuk. Die Ukraine ist mir näher, vertrauter, dort habe ich ein paar
Freunde.
Dańko: Ist die Ukraine noch Mittel- oder schon Osteuropa?
Stasiuk: Ich weiß nicht, ich kenne die Ukraine nicht gut. Das weiteste war
für mich Kiew, meist besuche ich Jurij Andruchowych in Stanislawów (Stanislau)
oder gehe mit Taras Prochasko in die Berge. Er ist ein ausgezeichneter Führer.
Er kennt Czarnohora und Gorgany wie seine Westentasche. Das sind die wahren,
wilden Karpaten, nicht unsere unausgegorenen Bieszczaden hier.
Dańko: Könntest du die Grenze zwischen Mittel- und Osteuropa ziehen?
Stasiuk: Diese Teilung hat keinen Sinn, ich finde sie völlig überflüssig.
Dańko: Das klingt seltsam aus dem Mund eines Mannes, der als Schriftsteller Mitteleuropas gilt.
Stasiuk: Etiketten interessieren mich nicht. Ich fahre und schreibe,
worüber ich will, es spielt für mich keine Rolle, ob das Ost- oder Mitteleuropa
ist.
Dańko: In dem Buch Mein Europa hast du mit Andruchowytsch über Mitteleuropa geschrieben. Du hast dir sogar sein Wappen „mit Halbdunkel im einen und Leere im anderen Feld“ ausgedacht. Das erste Feld sollte deiner Meinung nach das „Ungewisse“, das andere „den noch immer unerschlossenen Raum“ symbolisieren. Glaubst du nicht, dass dieses Wappen wie angegossen auch auf Russland oder Osteuropa im weiteren Sinne passt?
Stasiuk: Dieses Wappen war lediglich ein literarisches Verfahren. Es
ging darum, die Wirklichkeit hübsch in eine Metapher zu fassen. Ich bereue es
sehr, den Terminus „Mitteleuropa” einmal so unvorsichtig gebraucht zu haben.
Den Begriff Mitteleuropa haben sich die Deutschen ausgedacht. So wie
„Osteuropa” ist er ein rein geopolitischer Begriff, mich aber interessieren die
Landschaft, die Natur, die Menschen. Niemand wird aus mir je einen politischen
Autor oder Journalisten machen, dagegen verwahre ich mich.
Dańko: Ist es
nicht so, dass Mitteleuropa dir einfach langweilig geworden ist und du deshalb
nach Russland gefahren bist? Wie oft kann man Rumänien, Ungarn oder Albanien
besichtigen?
Stasiuk: Gerade nach Albanien werde ich demnächst wieder mit Olaf fahren.
Von Wołowiec in den Niederen Beskiden, wo ich wohne, habe ich es ganz nah nach
Südeuropa. In viereinhalb Stunden bin ich mit dem Auto in Rumänien. Dieser Teil
unseres Kontinents ist viel interessanter als Russland, und die Ländern haben
menschliche Ausmaße. Das war meine Antwort auf die Frage meiner russischen
Übersetzerin, als sie mich fragte, wie wir in diesem engen, von Grenzen
durchschnittenen Europa leben könnte.
Dańko: Vielleicht magst du Russland und die Russen einfach nicht?
Stasiuk: Ob ich Russland mag oder nicht mag, spielt überhaupt keine Rolle.
Natürlich habe ich in meiner Jugend, wie viele meiner Landsleute, die „Iwans”
verachtet. Ich wollte nicht Russisch lernen. Aber heute bin ich ein großer
Junge, und die Russen sind mir einfach egal. Wie übrigens alle anderen Völker
auch.
Dańko: Ist
Russland deiner Meinung nach eher ein asiatisches oder ein europäisches Land?
Stasiuk: Weiß nicht, habe nicht darüber nachgedacht. Als ich in Moskau in
Scheremetjewo landete, hatte ich das Gefühl, nur zwei Schritt von Asien
entfernt zu sein. Dafür hatte ich in Irkutsk den Eindruck, dass dort noch eine
Abart von Europäertum zu finden ist, wenn auch deformiert.
Dańko: Die
Russen werden es nicht mögen, wie sie in deinem neuen Buch dargestellt sind.
Aber wie werden Stasiuks andere Bücher dort aufgenommen?
Stasiuk: Damit muss ich leben. Ich schreibe nicht, um jemandem zu gefallen.
Bisher sind vier meiner Bücher ins Russische übersetzt. Mag sein, dass sie
jemand gelesen hat, ich jedenfalls habe keine Kopeke vom Verkauf gesehen. In
Irkutsk hatte ich eine Lesung, zu der mehrere Dutzend Leute kamen, obwohl
niemand etwas von mir gelesen hatte. Dafür fragten mich alle, ob ich Russland
schon lieb gewonnen hätte. Mir ist auch etwas von einem Theater in Orjol zu
Ohren gekommen, das ein Stück von mir aufgeführt hat. Ich glaube, mit meiner
Popularität in Russland ist es nicht weit her.
Stasiuk: Ich glaube schon. Da besteht einfach eine größere Anziehungskraft.
Sie sind für uns so etwas wie der mythische „Osten”, und wir für sie ein
bißchen der magische „Westen”; aber gleichzeitig ähneln wir einander, sind
ineinander verstrickt, miteinander verbunden. Jedem zweiten Ukrainer fällt
irgendwann ein, dass er eine polnische Urgroßmutter hat, und wenn ein Pole
etwas getrunken hat und seine Gefühle zum Ausdruck bringen will, dann versucht
er sich wenigstens vokalistisch in einen Ukrainer zu verwandeln. Ja, mit der
Ukraine ist das leichter, weil wir die Ukraine einfach in uns haben. Russland
auch, aber doch weniger und eigentlich gegen unseren Willen.
© Deutsch von Olaf Kühl