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EINGEBILDETE RUSSEN

Bei der Verfilmung von Dorota Masłowskas Debütroman Schneeweiß und Russenrot (Wojna polsko-ruska pod flagą biało-czerwoną) kamen zwei glückliche Umstände zusammen: Erstens hat der ursprünglich für das Projekt auserkorene Regisseur Jan-Jakub Kolski irgendwann das Handtuch geschmissen, und zweitens konnte Eryk Luboś am Ende – wie es heißt, aus Termingründen – die Hauptrolle des Andrzej Robakowski alias der Starke, doch nicht spielen.

Kolski hätte Schneeweiß und Russenrot nach seinem Stil gemodelt, hätte eine Art magischen Softrealismus daraus gezaubert, vielleicht sogar etwas hinzufabuliert um der politischen Korrektheit willen, so wie er das mit Pornografie nach Witold Gombrowicz getan hat. Dort hat er die unterschwellige Homosexualität der Helden völlig verfehlt.

Eryk Luboś hatte schon Masłowskas erstes Theaterstück Zwei arme Polnisch sprechende Rumänen bei der Premiere am Warschauer Teatr Rozmaitości durch sein eintönig rabaukenhaftes Spiel um alle subtilen Zwischenebenen gebracht. Zwar agiert auch Borys Szyc, als wäre er ständig auf Speed, aber dieser Darsteller ist doch um Dimensionen tiefgründiger als Luboś – Szyc ist ein verunsicherter Hooligan, ein zart besaiteter Macho, ein romantischer dresiarz.

Warum haben Literaturverfilmungen im Allgemeinen so einen schlechten Leumund? Alle großartige Adaptionen, wie Kurt Hoffmanns Felix Krull (1957), Schlöndorffs Blechtrommel oder Andrzejs Wajdas Gelobtes Land (nach Władysław Reymont) – um nur einige Glanzlichter zu nennen – konnten diesen Ruf nicht aufbessern. Die Verfilmung misslingt leicht und immer dann, wenn der Regisseur der literarischen Vorlage nichts Eigenes entgegensetzt, dem eigenen Genre nicht vertraut. Eigentlich widerstrebt ja die Übersetzung einer literarischen Vorlage dem Wesen des Films: Regisseure wie Alfonso Cuarón, Emir Kusturica und Jim Jarmusch verwahren sich gegen den Anspruch, Geschichten zu erzählen. Für sie sind Drehbücher nur lose Richtschnüre, Dialoge zweitrangig. Kusturica sagt sogar, ihm gelte das gesprochene Wort nicht mehr als die übrigen Geräusche im Film. Im Grunde ist der Film der Musik viel näher verwandt als der Literatur oder dem Theater. Wenn sich nun aber die Verfilmung nur als Illustration versteht, kann sie nichts hinzugeben, was im unendlich weiten inneren Raum des Lesers nicht ohnehin schon aufgebaut wäre, und zwar weitaus prächtiger. Dann ist die Zweitwelt auf Zelluloid kein eigenständiges Universum, sondern nur ein sekundärer Abklatsch, und lebt von geliehenem Licht.

Auch bei Xawery Żuławskis Verfilmung könnte man zunächst den Eindruck einer allzu sklavischen Bebilderung der Romanvorlage gewinnen. Der Regisseur, Jahrgang 1971, ist ein später Debütant. Für seine erste Regiearbeit CHAOS (2005) hat er fünf Jahre gebraucht. Der Film wurde auf Festivals mit einigen Preisen bedacht, ging ansonsten aber unter. In den Jahren danach tat sich Żuławski als Regisseur der Fernsehserie „Pitbull” hervor. Wojna polsko-ruska ist seine zweite Regiearbeit. Als Sohn von Małgorzata Braunek und Andrzej Żuławski (geb. 1940) war er womöglich auch gelähmt vom übermächtigen Vorbild seines Vaters, dessen beeindruckende Weltläufigkeit und beißende Intelligenz man sich in einem Interview fleuve zu Gemüte führen kann, das 2008 im Verlag Krytyka Polityczna erschienen ist.

Viel Originalität hat Żuławski jr. bei der filmischen Umsetzung nicht bewiesen, auch wenn man in den Rezensionen Komplimente für eine „unkonventionelle Erzählweise“ und „Mut“ findet. Das gibt er selbst zu: Alle Bestandteile des Drehbuchs waren schon im Buch vorhanden. Es genügte, dem Roman Didaskalia hinzuzufügen, es in Szenen einzuteilen und die Dialoge und Gestalten herauszumeißeln. Linear und getreu erzählt Żuławski das Buch nach. Eine einzige Umstellung erlaubt er sich – die Szene mit dem Starken und Magda am Ostseestrand wanderte vom Anfang an das Ende des Films, was das Verständnis der Handlung nicht unbedingt erleichtert. Aber diese Umstellung hat vielleicht auch Sinn: Spiegelt sie nicht die Tatsache, dass Verliebtheit und Verlassenwerden nur ein ewiger Reigen sind, und die ganze Geschichte zeitlos in dem Sinne, wie Freud dies für das Unbewusste postulierte?

Der Film leidet an einer disparaten Ästhetik, die sich nicht zwischen Comic, Komödie und psychologischem Melodram entscheiden kann. Gerade die Szenen, auf die die Macher wegen ihrer technischen Schwierigkeit besonders stolz sind, überzeugen ästhetisch am allerwenigsten. Zu sehr biedern sie sich an die modische Ästhetik des Computerspiels an, vielleicht ein Zugeständnis an die Altersklasse des erwarteten Zuschauerkreises. Gleich zu Anfang wird Magda, die Ursache allen Leidens, in die Flaschenwand hinter der Bartheke geworfen. Was im Buch nur eine verbale Drohung ist („Wenn sie so eine ist, sage ich, zertrümmer ich die ganze Bar, alle Gläser gehen zu Bruch“), wird im Film zur Aktion expliziert. Am aufwendigsten soll die Szene auf dem Rummel gewesen sein, weil der Starke dort mehrere hundert Meter kämpfend zurücklegen musste. Leider wirken das Karate nach Art des Superman und das Gliederzappeln der an (unsichtbaren) Seilen durch die Luft gezogenen Kontrahenten nicht professionell, sondern komisch. Auf eine Ästhetik des Camp kann sich dieser Stil nicht berufen, dazu kommt er zu unvermittelt und verläppert sich immer gleich in konventionellem, ruhigerem Fahrwasser.

Seltsam ist, dass die Szenen, die schon im Buch das übliche Realitätsverständnis sprengen, in Żuławskis Visualisierung keineswegs krasser wirken, im Gegenteil. Die monströse Ejakulation des Mageninhalts von Angela zeigt das deutlich. Im Film sehen wir einen starken hellgelben Strahl, der durchs ganze Zimmer geht und schon durch seine unnatürliche Glätte und Reichweite signalisiert: Aha, computersimuliert. Im Buch hat die Hypertrophie dieses Vorgangs viel reichere Dimensionen, sie dient dort als Projektionsfläche für eine Vielzahl von Vernetzungen mit anderen Wirklichkeitsbereichen: „Und wie die plötzlich loskotzt! Das ist der Amphetamin-Brecher, mit Rückstoß und mit voller Reichweite. Was so ein kleines Luder, so ein Häufchen Unglück alles zusammenkotzen kann. Furchtbar. Berge davon, Meere, Unterwasserlandschaften, alles im Farbton ihres Drinks, bläulich, exotisch, Bols? Curacao. Plus dazu irgendein unverbindliches Essen, unbekannter vegetarischer Schlachtspinat. Doch das ist gerade mal ein geringer Prozentsatz, der ganze Rest ist sturmgepeinigter, wilder Ozean aus blauem Wodka. Dagegen was mich betrifft, würde ich mich nicht wundern, wenn das, was sie da durch den Mund nach außen schaufelt, schwarzer Nagellack wäre, schwarze Tusche, schwarzer angekauter Marker. Außerdem schwarze Wachser, schwarze Haarfarbe mitsamt Applikator.“

Man könnte diese Diskrepanz für selbstverständlich halten, oder für nebensächlich. Aber hier ist eine ganz zentrale Eigenschaft des Masłowskaschen Schreibens angesprochen: die Veränderung der Wirklichkeit durch die Sprache. Diese Gabe macht sie eigentlich noch mehr aus als die obszöne, auf dem Substrat des Jugendslangs wuchernde Sprache, von der der Darsteller des „Linken“, Michał Strzelecki treffend sagt: „Diese sprachliche Kloake, diese Güllegrube wird geradezu in den Rang von Poesie erhoben.“ Im Grunde hängen beide Begabungen aufs engste zusammen. Wer das Buch gelesen hat, muss enttäuscht sein, wenn Angela im Film Steine in die Badewanne kotzt. Der „Stein von der Größe einer mittleren menschlichen Faust“, der bei Masłowska „zum Abfluss rollt“, evoziert eben nicht nur die Größe, sondern auch die Faust selbst. Im Film fehlt sie. Der Gewinn an Anschaulichkeit wird durch einen Verlust von Mehrdeutigkeit und semantischer Tiefe erkauft. Gleiches gilt für die Entjungferung Angelas und andere Szenen. Der ganze Steinbruch an Bildern, Vorstellungen und unterschwellig perversen erotischen Phantasien der Autorin bleibt unerschlossen. Was der Roman in der Schwebe ließ, muss der Film zu Ende zeichnen, muss die Unbestimmtheitsstellen, wie Roman Ingarden das nannte, konkretisieren.

Wenn man trotz anderer Defizite, wie zum Beispiel der ins Auge springenden Führungslosigkeit der Schauspieler in der Szene mit Natasza Blokus, von einem beeindruckenden Film sprechen kann, der aus der Produktion der letzten Jahre herausragt, so ist das den Schauspielern zu verdanken - allen voran dem großartigen Borys Szyc. Ihm ist das Kunststück gelungen, den inneren Monolog des Erzählers und Helden, der in seiner ganzen Breite den Film gesprengt, das Fassungsvermögen des Durchschnittszuschauers überfordert hätte, durch sein Mienenspiel, sein Augenrollen, das Zittern seiner Lippen, das Brechen seiner Stimme ins neue Medium hinüber zu retten, es in die Gestik und Bildsprache zu übersetzen. Im Wechselspiel mit Roma Gąsiorowskas hintergründig hübscher Schnutenzieherei, Sonia Bohosiewiczs kraftüberspritzender Hyperaktivitität oder Anna Prus' angepasster Strebermentalität kann Szyc sich so richtig entfalten. Die Rolle des Starken ist vielleicht die stärkste seiner bisherigen Laufbahn.

Die Frauen stehen im Film viel stärker da als im Buch, wo sie dümmlich feminine Abziehbilder sind. Der Grund ist klar – hier kommen sie leibhaftig daher und vermögen mit Gesichtern, Körpern, Bewegungen viel mehr zu sagen, als was Masłowska ihnen einflüstert. Gewiss kennt Xawery die Diagnose seines Vaters, er habe all seine Filme aus der Sicht der Frauen gedreht. Mit seinem eigenen Film fächert er die Männerperspektive Masłowskas, die Schneeweiß und Russenrot als 18jähriges Mädchen schrieb, zum multiplexen Kaleidoskop auf. Der Mann, der Starke, Szyc, ist nur eine von mehreren handelnden Personen. Hinter ihm wird die Autorin sichtbar, M.C. Dorota in Person, die ihrem Helden die Worte in den Mund legt.

Vater Żuławski hatte in anderem Zusammenhang, nämlich bei der Verfilmung von Marcel Proust, noch vor der Objektivierung des Erzählers gewarnt: „Die Schwierigkeiten bei der Verfilmung der Bücher von Marcel Proust rühren daher, dass Proust als Mensch, als Gestalt auf der Leinwand nicht existiert. Im körperlichen Sinne ist er nicht da. Er ist ein ICH als Schreibender, aber nicht ICH als Schauspieler.“

Der Sohn hat dieses Experiment gewagt. Und dies ist die wohl persönlichste Entscheidung, die er seinem Film aufgeprägt hat: Der starke Akzent auf der Reflektion der Entstehung von Wirklichkeit – sowohl der des Buches, als auch der des daraus entstandenen Films. Masłowska hat sich selbst ihrem Buch nur in einer kurzen Episode eingeschrieben. Der Film umkreist die Gestalt der Autorin viel obsessiver. Sie erscheint nicht nur als Schriftführerin bei der Polizei, sondern von Anfang an als geheimnisvolles Kapuzenmädchen, das den Film eigentlich erzählt, die filmische Wirklichkeit kreiert. Ihr Foto ziert auch das Filmplakat. Das kann Marketinggründe haben, natürlich will man von ihrem Kultstatus zehren. Wahrscheinlich ist aber auch, dass der Regisseur in der Person der Autorin mehr Substanz gesehen hat als in der von ihr dargestellten Wirklichkeit und Handlung, die tatsächlich ein bisschen dünne wirken mögen. Die produzierende Energie erschien ihm interessanter als das Produkt. Auch der Hauptdarsteller war fasziniert von der Person Masłowskas: „Möglicherweise wird der Film in Verbindung mit dem Buch ein idealer Schlüssel zu der Phantasie, zum Kopf von Dorota Masłowska – der einfach unermesslich ist“, sagt Borys Szyc. Es kam im polnischen Film ansonsten nicht oft vor, dass die Autoren der literarischen Vorlage leibhaftig im Film auftraten. Andrzej Wajda gestattete das gern. In „Panny z Wilka“ ist Jarosław Iwaszkiewicz zu sehen, in „Chronik der Liebesunfälle“ Tadeusz Konwicki.

Auf jeden Fall ist dieser Film dadurch auch ein wichtiger Meilenstein bei der Aneignung des Phänomens Masłowska. Ihre Rezeption zeichnete sich bisher dadurch aus, dass sie viel mehr Gesprächsgegenstand war, als dass sie wirklich gelesen würde (was tatsächlich keine leichte Aufgabe ist). Masłowska hat ihre erstaunliche Karriere vor allem der medialen Präsenz und dem Hörensagen zu verdanken. Żuławski selbst gibt zu, vor der Arbeit an dem Film nur zehn Seiten aus Schneeweiß und Russenrot gelesen und es dann beiseite gelegt zu haben, in der Überzeugung: „Das reicht mir, jetzt weiß ich, worum’s geht.“ Eine offenbar ganz typische Lektüreerfahrung.

Hat Żuławskis Film Chancen außerhalb Polens? Produzent Jacek Samojłowicz, nicht der hellsten Köpfe einer, rühmt sein Werk als „polnischen Film, mit polnischer Atmosphäre“. Auch der Regisseur sagt: „Eines der Themen des Buches ist unser Polentum (‚nasza polskość’). Dieses Buch sagt sehr viel über uns alle”. Einen Deutschen macht allein der Begriff schon stutzig, wenn er ihn unwillkürlich in seine Sprache übersetzt: Das „Deutschtum”. Das klingt bizarr nicht nur, weil wir Deutsche uns die Aufmerksamkeit für „das Deutsche“ gründlich ausgetrieben haben als etwas, das allzu viel Böses gezeugt habe in der Geschichte. Wie klänge es, wenn Schlöndorff in seinen Filmen untersuchen wollte, was „das Deutsche“ sei? Genauso wenig preisen die Franzosen ihre Literatur und Filme unter dem Etikett des typisch „Französischen“ an (selbst wenn sie es de facto doch transportieren). Sie zielen aufs Universale, darunter machen sie es nicht. Und dies aus der Überzeugung, dass jede große Kunst über die Grenzen des nur Nationalen hinausgehen müsse. Beethoven ist nicht deutsch, Goethe nur insofern, als er deutsch schreibt. Sein Geist ist weltgültig. Das heißt nicht, einer fiktiven Universalität à la Hollywood nachzurennen. Im Gegenteil, gerade die obsessive Beschäftigung mit den Widersprüchen der eigenen Nationalität vermag den Blick für allgemein gültige kulturelle Muster zu öffnen. Gombrowicz hat es gezeigt.

Bewundernswert also, diese Zuversicht der polnischen Macher - als hätte die ganze Welt nichts Besseres zu tun, als sich für ihr „Polentum” zu interessieren, oder sich den „Starken” als den Typus des in der romantischen Tradition stehenden „verrückten Polen” (Xawery Żuławski) anzusehen. Wahrscheinlich wird der Film doch erst einmal den Polen etwas Neues sagen, und dementsprechend äußert der Regisseur-Sohn auch nur die bescheidene Hoffnung, „dass der Film den Polen Dorotas Prosa näher bringen wird, dass einige aufhören, sie als eine gefährliche Prosa zu betrachten”.

Diese Hoffnung scheint übrigens, nach den ungezählten Äußerungen in den polnischen Internetforen zu urteilen, noch nicht in Erfüllung gegangen zu sein. Begeisterte Zustimmung und angewiderte Ablehnung prallen dort ebenso aufeinander wie die Urteile über Masłowskas Bücher. Zwischen dem „größten Dreck, den ich je gesehen habe”, und „Sensation, bester polnischer Film seit Jahren” klafft weiter ein Abgrund. Das Buch Schneeweiß und Russenrot jedenfalls hält der Vater Żuławski, ein polyglotter Weltbürger, der das Filmhandwerk in Paris gelernt hat, für „geradezu genial”.

Den vollständigen Text von Olaf Kühl lesen Sie in dem Magazin P+ (im guten Bahnhofsbuchhandel. Bestellung und Abonnement auf www.polenplus.eu)
Heft 11/2010, S. 56 - 59.