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Similitudo
Auszugsweise
Übersetzung von Olaf
Kühl
(Teile davon erschienen
udT. „Zucker aus dem Kreml“
in Lettre International Heft 1/2008).
Maschadow
hatte Angst. Er fürchtete, Bruderblut zu vergießen.
Er
wusste, dass viele russische Generäle nur auf eine Gelegenheit
warteten, seine
Gegner zu unterstützen und sich der Opposition
anzuschließen. So wie bei
Dudajew. Um einen neuen Krieg anzufangen. So wie man es schon 1994
einmal
versucht hatte.
Maschadow hat nicht
versucht, Bassajew und seine Anhänger umzubringen. Das wird
ihm als Schwäche
ausgelegt. Es gilt als seine Hauptschuld. Doch er rechnete damit, dass
die
Kräfte der Wahhabiten schwinden würden. Und dass sich
in Moskau vernünftige
Leute finden würden, die ihm bei der Bekämpfung des
Entführungs-Unwesens helfen
würden. Sie fanden sich. Zu Gesprächen in die
Hauptstadt des Imperiums fuhr
sein Bevollmächtigter und alter Waffengefährte Turpal
Ali Atgerijew, damals
Sicherheitsminister in der Regierung von Itschkerien. Er fuhr mehrfach.
Einmal
gelang es ihm sogar, telefonisch mit dem damaligen FSB-Chef Wladimir
Putin zu
sprechen: er wies ihn damals warnend auf die Vorbereitungen der
Wahhabiten und
einiger tschetschenischer Führer zu einer gezielten Aggression
gegen Dagestan
hin.
Als
er das nächste Mal nach Moskau kam, wurde er auf dem Flughafen
Wnukowo
verhaftet. Im Kameralicht, unter großem Aufsehen. Moskau gab
Maschadow eine
klare Antwort: gegen die Entführungen werden wir nichts
unternehmen, und was
die Wahhabiten und Dagestan angeht – haben wir unsere eigenen
Pläne...
Atgerijew wurde freigelassen. Er bemühte sich jedoch weiterhin
um
tschetschenisch-russische Gespräche: Maschadow brauchte
Unterstützung,
Tschetschenien brauchte Frieden. Bei einem weiteren Versuch um
Kontaktaufnahme
mit dem Kreml stützte er sich auf die Führer der
tschetschenischen Diaspora in
Moskau.
Ende
Oktober 2000. Atgerijew fährt zu einem Treffen mit Vertretern
der russischen
Regierung. Nicht weit, nach Machatschkala, der Hauptstadt von Dagestan.
Soeben
hat er aus Moskau die Zusicherung erhalten, dass die Gäste ein
Angebot des
amtierenden Präsidenten Wladimir Putin an Aslan Maschadow
mitbringen werden.
Der ernsthafte und prinzipienfeste Turpal Ali freut sich. Das
tschetschenische
Fernsehen zeigt eine Seltenheit: sein Lächeln.
Am
Tag darauf fällt er bis an die Zähne bewaffneten
Soldaten des FSB in die Hände.
Er wird verhaftet. Das russische Fernsehen spricht mit großem
Getöse von einem
schwierigen Sondereinsatz. Er wird nach Moskau in das
FSB-Gefängnis Lefortowo
gebracht.
Ende
2001 verurteilt das Oberste Gericht von Dagestan Turpal Ali Atgerijew
zu
fünfzehn Jahren verschärfter Lagerhaft.
Ein
halbes Jahr später stirbt er im Zentralgefängnis von
Jekaterinburg im Alter von
dreiunddreißig Jahren. Die offizielle Diagnose:
Leukämie. An der er nie zuvor
gelitten hatte...
Im
Jahre 2001 erzählte mir Malik Sajdullajew, ein in Moskau
residierender
tschetschenischer Politiker und Geschäftsmann, mehr
über die Verbindungen
Moskau – Grozny:
„Nach der
Befreiung meines Bruders, der entführt worden war, genoss ich
in Tschetschenien
große Popularität. Das ganze Volk hätte im
Kampf gegen die Banden von Schamil
Bassajew, Arbi Barajew oder der Brüder Achmadow hinter mir
gestanden. Sie vor
allem waren es, die Menschen entführten. Ich bat in Moskau um
ein Treffen auf
höchster Ebene, um meinen Vorschlag zu unterbreiten. Das war
im Juli 1999.
Die
Residenz des großen Geschäftsmanns und
Medienbesitzers Boris Beresowskij. Ein
langer, weißer Tisch. Mir gegenüber die Delegation
des Kreml – sechs Personen.
Ich sage: ‚Ich kann mit den Wahhabiten, den
Entführern fertig werden. Ich
brauche weder euer Geld, noch eure Waffen, nur die Garantie, dass ihr
mich
nicht als Banditen bezeichnet.’ Darauf Beresowskij:
‚Bassajew und Udugow [der
Pressesprecher der Wahhabiten] sind unsere Freunde. Wir haben mit ihnen
diverse
Vereinbarungen. Zum Beispiel, dass kein einziges Papier von Maschadow
ohne mein
Wissen an den Präsidenten von Russland gelangt. Diese
Vereinbarung wird
eingehalten. Und jeder, der gegen Bassajew loszieht, wird erledigt. Ist
das
klar?’“
Abstoßend
banal, diese Wiederholung der Geschichte.
Dudajew
und seine verzweifelten Versuche einer Verständigung mit dem
Kreml, um einen
Krieg zu verhindern.
Maschadow
und seine verzweifelten Versuche einer Verständigung mit dem
Kreml, um einen
Krieg zu verhindern.
Und
wie in einem schlechten Theaterstück muss am Ende das Gewehr
losgehen, das
schon im ersten Akt an der Wand hängt: So wie am Ende auch
Bassajew den
tödlichen Knall verursacht: den zweiten Tschetschenischen
Krieg.
Am
8. August 1999 drangen Einheiten von ihm und seinem engsten
Gefährten, Oberst
Al-Chattab, in das benachbarte Dagestan ein. Nach Bassajews Darstellung
drangen
sie nicht ein, sondern kamen dagestanischen Wahhabiten aus den
Einheiten
Bagaudtin Magomedows zu Hilfe, die von feindseligen Einheimischen
umzingelt
waren. An Ort und Stelle bekamen es die Tschetschenen nicht nur mit den
örtlichen Bewohnern, sondern auch mit längst in
Stellung gegangenen russischen
Einheiten zu tun. Es sieht so aus, als wäre Bassajew in eine
Falle gegangen.
Fraglich ist jedoch, ob er blindlings gehandelt hat, ohne den
Hintergrund des
SOS-Rufs aus Dagestan zu prüfen.
Die
Kriegsmaschinerie wird in Gang gesetzt, Bomber steigen auf, Raketen
werden
abgeschossen und Panzer, Panzerfahrzeuge und der ganze todbringende
Rest wird
losgeschickt. Und da Bassajew und Chattab sich mit ihren Einheiten nach
Tschetschenien zurückziehen (ohne dass sie von russischen
Patrouillen
aufgehalten oder von den über ihnen kreisenden Hubschraubern
bombardiert
würden), rücken die russischen Streitkräfte
ihnen nach.
Der
zweite Tschetschenische Krieg hat begonnen.
Der
Klarheit halber sei daran erinnert, dass Bassajew und Chattab in der
Gegend von
Botlich und Chassawjurt über die Grenze nach Dagestan gingen.
Sie marschierten
in die Dörfer Karamachi und Tschabanmachi ein, die selben
Dörfer, die drei
Monate zuvor der soeben ernannte Premierminister Sergej Stepaschin bei
seiner
ersten Reise besucht hatte. Ich erinnere mich an die allgemeine
Verblüffung:
Was hat es mit diesen Orten auf sich, dass der neue Premier seine erste
Reise
gerade dorthin unternimmt? Noch größer war das
Erstaunen, als der Premier den
beiden wahhabitischen Regionen die Autonomie unter der Bedingung
zusichert,
dass sie sich auf die Aktivitäten der religiösen
Gemeinde beschränken. Das
heißt - Nichteinmischung in die Politik.
Man
sollte nicht darauf wetten, dass der Herr Premierminister damals
wirklich
glaubte, die Führer der Wahhabiten würden sich in
dieser angespannten Phase
tatsächlich aus der Politik heraushalten.
Der
Klarheit halber sei auch erwähnt, dass der Führer der
dagestanischen
Wahhabiten, Bagaudtin Magomedow, derselbe ist, der noch vor kurzem ein
Vermögen
mit der Entführung von Menschen gemacht hat, und dem dies
durch die Hilfe eines
Geschäftspartners gelang, eines gewissen Kasimagomed
Magomedow, Pseudonym
Kasimagomed Gimrinski, seit Jahren Agent des FSB.
Und
erwähnenswert ist auch, dass seit dem Frühling 1999
jeder Händler auf dem Basar
in Grosny wusste, das „etwas im Schwange war“, weil
an der Grenze zu Dagestan
mehrere Hundert dagestanischer Wahhabiten in Stellung gegangen waren.
Nur die
russischen Geheimdienste wollen irgendwie nichts davon erfahren haben.
Der
genannte Premier Sergej Stepaschin sagt einige Monate später
der „Nezavisimaja
Gazeta“ (vermutlich aus Verbitterung darüber, dass
er seinen Posten für
Wladimir Putin räumen musste), dass die Pläne einer
Invasion in Tschetschenien
schon im März 1999 vorlagen, fünf Monate vor
Bassajews Überfall auf Dagestan,
und mit Wissen des damaligen FSB-Chefs – Putin. Der Plan sah
den Angriff im
August oder im September vor. Und dieser Angriff erfolgte.
Wie
faul wir sind! Wie leicht wir Stereotypen, Vereinfachungen,
Lügen akzeptieren,
solange sie in bisherigen Vorstellungen passen, solange wir nicht zu
sehr
nachdenken müssen! Und wie ärgerlich, wenn solche
Stereotypen und Fälschungen
richtig gestellt werden! Wenn man sein Urteil ändern muss...
Das kostet so viel
Energie! Es kostet Zeit... Im Grunde wollen wir ja die Wahrheit wissen,
vorausgesetzt nur, sie ist nicht zu kompliziert.
Im
Grunde ist das normal – Weiß soll Weiß,
und Schwarz soll Schwarz sein. Nach den
Angriffen auf das WTC am 11. September 2001 hörte ich oft:
„Die Russen sind
vielleicht nicht ganz im Recht, aber die Tschetschenen sind Moslems,
islamische
Fundamentalisten, Terroristen und basta!“
Wo,
von welcher Tribüne aus, sollte dieses der Stimme beraubte
Volk schreien, dass
das nicht wahr ist? Wie und wo sollte es der Welt das komplizierte
Geflecht der
russisch-tschetschenischen Beziehungen erklären? Wie zum
Beispiel soll es
beweisen, dass die ganze militärische Provokation ein
abgekartetes Spiel des
Kreml war? Unter der euphemistischen Bezeichnung
„Kreml“ sind die
„Geheimdienste“ zu verstehen, also [vor allem] der
FSB – der Föderale
Sicherheitsdienst. Und unter „FSB“ – der
Chef. Dann gibt es keine Missverständlichkeiten
mehr. Vom 24. Juli 1998 bis 9. August 1999 (also bis zu dem Tag, an dem
der zweite
Tschetschenische Krieg begann) hieß der Chef des FSB Wladimir
Putin. Er war
zugleich Sekretär des russischen Sicherheitsrates,
später Vizepremier, dann
Premier und schließlich – Präsident.
Der
erwähnte Politiker und Geschäftsmann Malik
Sajdullajew, Tschetschene, sagte im
Jahre 2001:
„Es
gibt eine Videocassette, die damals im tschetschenischen Fernsehen
gezeigt
wurde, auf der das Parlament von Itschkerien Bassajew vorwirft, er habe
für den
Überfall auf Dagestan zwei Millionen Dollar Schmiergeld
erhalten. Bassajew
antwortet darauf: ‚Ich habe kein Schmiergeld bekommen,
sondern ein Geschenk von
einem Freund.’“
Beresowskij
tat alles, um Putin zu helfen. Offensichtlich rechnete er damit, dass
er unter
dem Kremlherrn Putin den starken Einfluss behalten würde, den
er unter Jelzin
hatte.
Dieser
Magnat pflegte die Freundschaft mit Putin schon zu Zeiten, als dieser
als
Vertreter des Petersburger Oberbürgermeisters Anatolij
Sobtschak für die
Finanzen der Stadt zuständig war und Beresowskij bei seinen
Geschäften half. In
den neunziger Jahren konnte man sie gemeinsam beim Skilaufen in der
Schweiz
sehen. Beresowskij war es, der – auf Bitten Jelzins
– den in Biarritz Urlaub
machenden Putin fragte, ob er Premierminister der Russischen
Föderation werden
wolle.
Beresowskij
war einer der Initiatoren der Aktion „Nachfolger“,
das heißt: Putin for
President. Für diese Position hatte Putin eine
Handvoll Vertrauter Jelzins
auserkoren. Beresowskij gehörte dazu. Er trug
maßgeblich zu der Gründung einer
neuen Partei („Medwedjew“ / Bär genannt)
bei, die Putin unterstützte. Er
mobilisierte alle Kräfte des damals ihm gehörenden
Fernsehsenders ORT, um das
Phänomen namens Wladimir Wladimirowitsch Putin zu propagieren
und seine
Konkurrenten um den Kremlthron zu bekämpfen.
Heute,
zum Exil in London gezwungen, bereut Boris Beresowskij das alles
sicherlich
sehr.
In
dem ersten, schon erwähnten Prozess in Stawropol wurden
fünf Bürger von
Karatschai-Tscherkessien zu langjährigen Haftstrafen
verurteilt. Weder die
Ermittlungsdetails noch die Urteilsbegründung sind zu
erfahren, weil das
Verfahren, wie gesagt, hinter geschlossenen Türen stattfand,
die Dokumente für
geheim erklärt und die Gerichtsmitarbeiter und Milizbeamten zu
absoluter
Geheimhaltung verpflichtet wurden. Der Hauptangeklagte war Atschimjetz
Gotschijajew. Die Untersuchung wurde damals nicht abgeschlossen, weil
den
Schuldigen, so die Staatsanwaltschaft, die Flucht gelang. Sie wurden
zur
Fahndung ausgeschrieben. Auf den Steckbriefen figurieren sie als in
tschetschenischen
Speziallagern ausgebildete Terroristen.
Am
24. April 2002 fiel Sergej Juschenkow vom öffentlichen
Untersuchungsausschuss
eine Videocassette in die Hände, aufgenommen von Atschimjetz
Gotschijajew, der
sich bis heute versteckt hält. Der 1970 geborene Karatschaie
ging schon als
Sechzehnjähriger zur Oberschule in Moskau, wo er –
mit Ausnahme von zwei Jahren
nach dem Wehrdienst – ständig gewohnt, 1996
geheiratet und sein Geschäft
betrieben hat. Hier Auszüge aus seiner Aussage:
„1997
gründete ich eine Firma für den Bau von
Sommerhäusern und Handel. Die Firma
hieß Kapstroj 2000 [...] Im Juni 1999 kam ein Mann in meine
Firma, den ich noch
aus der Schulzeit sehr gut kannte. Er schlug mir die Zusammenarbeit vor
und
sagte, er habe große Möglichkeiten für den
Verkauf von Lebensmitteln. Er
bestellte bei mir eine Lieferung Mineralwasser und zahlte
pünktlich. Dann sagte
er, er suche Läden im südwestlichen Teil Moskaus, wo
– wie er behauptete –
seine Verkaufsstellen lägen. Ich half ihm bei der Anmietung
von Räumen in der
Gurianowa-, der Kaschyrowskoje, Borisowskie Prudy und in Kapotna. Am 9.
September hielt ich mich bei Bekannten auf. Dort rief mich um
fünf Uhr morgens
dieser Mann an und sagte, in einem Lager in der
Gurianowa-Straße sei ein
kleiner Brand, ich solle sofort dorthin fahren. Bevor ich das Haus
verließ,
schaltete ich den Fernseher an. Als ich sah, was in Wirklichkeit
passiert war,
beschloss ich, gar erst nicht zu fahren.
Am
13. September, als das Haus in der Kaschyrskoje Chaussee in die Luft
flog,
begriff ich endgültig, in was für eine Sache man mich
hineingezogen hatte. Ich
rief die Miliz, die Feuerwehr und den Rettungsdienst unter der Nummer
911 an
und informierte sie über die Lager in Borisowskie Prudy und
Kapotna, so dass
die Explosionen dort noch verhindert werden konnten. Es wurde
verbreitet, ich
hätte die Explosionen in den Häusern organisiert.
Seit der Zeit muss ich mich
verstecken. [...] Nach Analyse all dieser Ereignisse kam ich zu dem
Schluss,
dass dieser furchtbare Plan seit langem gründlich vorbereitet
worden war. Es
ist ein Wunder, dass ich entkommen konnte. Eine wichtige Rolle hat
dabei gespielt,
dass ich am 9. September bei Bekannten und nicht zu Hause war. Ich bin
so gut
wie überzeugt, dass der Mann, mit dem ich zusammengearbeitet
habe (seine
Personalangaben werde ich später nennen), ein FSB-Agent ist.
Als
die Beamten des Innenministeriums in Karatschajewsk – auf
Anfrage aus Moskau –
meine Papiere vorbereiteten, trugen sie ein [...], dass ich in
Tschetschenien
geboren wäre, wo ich niemals auch nur gewohnt habe. Von meinem
Bruder Boris
Gotschijajew, der in der Regionalabteilung der Miliz arbeitet,
weiß ich, dass
es den Befehl gibt, mich nicht lebendig zu fassen. Was meine Schwester
angeht,
weiß ich, dass sie verhört worden ist. Erst hat man
ihr Geld geboten, dann hat
man ihr Angst eingejagt und sie bedroht und geschlagen und verlangt,
sie solle
öffentlich erklären, dass ich diese
Anschläge vorbereitet hätte. Als sie sich
weigerte, wurde ihr Ehemann Taukan Franzusow verhaftet, dem man
gleichfalls
Beteiligung an den Anschlägen vorwarf. Er wurde zu
dreizehneinhalb Jahren
Strafkolonie verurteilt.“
Wo
Atschimjetz Gotschijajew sich heute aufhält, weiß
man nicht. Da die Leute, die
das Video aufgenommen haben und sich mit den Empfänger in
Kontakt setzten, für
die Informationen Geld verlangten, kann man davon ausgehen, dass er von
ihnen
entführt worden ist. Für die bisher publik gewordenen
Informationen (ohne den
Namen des Hauptverdächtigen) ist kein Geld gezahlt worden.
Am
15. Juli 2002 überstellte die georgische Staatsanwaltschaft
(wohl unter dem
Druck der russischen Bombenangriffe im Pankis-Tal) einige
tschetschenische
Kämpfer sowie Adam Diekkuschew, ebenfalls der Vorbereitung der
Anschläge auf
die Häuser verdächtig, an die Russen.
Verhört wurde letzterer in Lefortowo, dem
Hauptgefängnis des FSB. Sechs Monate später, am 7.
Dezember 2002, wurde –
ebenfalls im Zusammenhang mit dieser Sache - Jusup Krymschamchalow
ausgeliefert.
Am
26. Juli 2002 legte der FSB zusätzliche Beweismittel
(Fotografien) vor, die die
Verbindungen von Atschimjetz Gotschijajew zu dem
„Terroristenführer“ Chattab
belegen sollten.
Am
1. August 2002 wies der Londoner Experte Jeffrey John Ashley nach, dass
der auf
den Fotos sichtbare Mann überhaupt nichts mit Gotschijajew
gemein hat.
Am
2. Dezember 2002 brachte die „Nowaja Gazeta“ ein
Interview mit dem GRU-Offizier
Aleksej Galkin, der sich in tschetschenischer Gefangenschaft befand.
Das
Gespräch, das zwei Journalisten (ein englischer und ein
türkischer) im November
1999 geführt haben, wurde mit einer Amateurkamera gefilmt.
Hier Auszüge daraus:
„Wie
sind Sie hier her gekommen?“
„Wir
wurden am 3. Oktober bei dem Versuch festgenommen, Mosdok zu
verlassen.“
„Was
waren Ihre Aufgaben?“
„Nach
Dagestan und Tschetschenien kamen wir, um Terroranschläge zu
verüben.“
“Gegen wen sollten sich diese Anschläge
richten?“
„Die
Sprengstoffanschläge sollten gegen die
Zivilbevölkerung gerichtet sein.“
„Wer
hat Sie geschickt?“
„Geschickt
wurden wir vom Chef der GRU der Streitkräfte der Russischen
Föderation, General
Korabelnikow, und dem Leiter der 14. Abteilung der GRU, Generalmajor
Kostetschko.“
„Haben
Sie persönlich oder Ihre Abteilung etwas mit der Sprengung der
Häuser in Moskau
zu tun?“
“Wir haben mit den Explosionen in Moskau nichts zu tun, denn
unsere Abteilung
befand sich zu dieser Zeit in Dagestan. Unsere Abteilung, bestehend aus
zwölf
Mann, hat den Sprengstoffanschlag auf das Haus in Bujnaksk
durchgeführt.“
Aleksej
Galkin gelang die Flucht aus der Gefangenschaft in Tschetschenien. Das
russische Fernsehen zeigte ein Gespräch mit ihm, in dem er
seine Aussage
dezidiert widerrief und behauptet, er sei unter Folter zu dem Interview
gezwungen worden.
Am
14. Dezember 2002 erschien in einem Internet-Portal ein Brief von Jusup
Krymschamchalow und – dem in gleicher Sache beschuldigten -
Timur Batschajew,
in dem diese auf die Urheber der Anschläge auf die
Häuser im September 1999
hinwiesen. Die Verfasser des Briefes bekennen sich dazu, dass sie den
tschetschenischen Unabhängigkeitskampf unterstützt
haben, was ihre Anwerbung erleichtert
habe.
„Heute
wissen wir, dass man uns ausgenutzt hat. Wir waren überzeugt,
dass das
Material, zu dessen Beschaffung und Transport man uns
überredete, zu Anschlägen
auf militärische Lager oder Objekte benutzt werden sollte. In
den letzten drei
Jahren haben wir Beweise dafür gesammelt, wer uns angeleitet
hat. Heute können
wir eindeutig sagen, dass dies der FSB-Chef Nikolaj Patruschew war. Die
direkte
Aufsicht über die Aktion hatte Herman Ugriumow. Von den
Verantwortlichen auf
niederer Ebene kannten wir nur zwei: einen Oberstleutnant (Tatar) mit
dem
Pseudonym Abubakar und einen Oberst (Russe) mit dem Pseudonym
Abdulgraf,
wohinter sich Max Lasowski, langjähriger Mitarbeiter
russischer Geheimdienste,
verbarg.“
Auch
wenn dieser Brief viele Fragen offen lässt, einiges ist
sicher: Max Lasowski
wurde unweit seiner Villa in einem Moskauer Luxusviertel Anfang
Dezember 2000
erschossen. Nicht viel später beendete Major Herman Ugriumow
sein Leben ganz
plötzlich in seinem Kabinett am Flughafen in Grozny, nach dem
ein Mann, der
sich als Spezialkurier vorgestellt hatte, diesen Raum verlassen hatte.
Am
17. März 2003 wurde das aktivste Mitglied des
öffentlichen Untersuchungsausschusses
zu den Sprengstoffanschlägen auf die Häuser im
September 1999, der
Duma-Abgeordnete Sergej Juschenkow, ermordet.
Am
20. März 2003 ersuchte Alona Morozova, Juschenkows
Mitarbeiterin in diesem
Ausschuss, Tochter einer in der Gurianowa-Straße umgekommenen
Frau (die
Schwester von Tatjana) in den Vereinigten Staaten um Asyl.
Am
3. Juli 2003 stirbt ein weiteres Mitglied des Untersuchungsausschusses,
Jurij
Schtschekotschichin, an Vergiftung (vermutlich durch radioaktives
Thallium).
Am
31. Oktober 2003 beginnt die Gerichtsverhandlung gegen Adam Diekkusch
und Jusup
Krymschamchalow. Beide Angeklagten bekommen lebenslänglich.
Gegen sie wird auch
eine Geldstrafe in Höhe von 2,8 Mio Rubel (etwa 90.000 Dollar)
verhängt, als
Wiedergutmachung für den moralischen Schaden von vierzehn
Geschädigten, die die
Behörden auf Schadenersatz verklagt haben, weil diese die
Explosion der Häuser
nicht verhindert hätten. Diese Pflicht erlegen die
Behörden – mit der ihnen
eigenen Logik – den Verurteilten auf.
Und
was sagen die westlichen Demokratien dazu, allen voran ihre Perle, die
Vereinigten Staaten? Der amerikanische Präsident stellte dem
russischen
Präsidenten keine überflüssigen Fragen. Und
die freien Medien in dem freien
Land hatten ein feines Gespür für die Grenzen, die
die Freiheit nicht überschreiten
sollte. Am 4. April 2004 wurde Andrej Nekrassows Film Nedoverije
aus dem
Programm des Filmfestivals in Chicago genommen. Die Veranstalter, Ray
Priwett
und Christopher Kamyschew, informierten den Filmemacher zwei Tage
vorher und
beriefen sich auf „Schwierigkeiten und fehlendes
gegenseitiges Einvernehmen“.
Anstelle dieses Films wurde ein anderer gezeigt, den die russische
Delegation
mitbrachte.
In
Chicago hatte man wohl noch nichts davon gehört, dass am 26.
Februar 2004 das
Amt für Demokratie, Menschenrechte und Arbeit beim State
Departement in seinem
Bericht über die Situation in Russland festgestellt hatte,
dass „die
Möglichkeit besteht, dass der FSB an der Sprengung der
Häuser im September 1999
beteiligt war“, dies insbesondere im Kontext der Verhaftung
von Trepaschkin,
der Ermordung von Juschenkow und dem geheimnisvollen Tod von
Schtschekotschichin. George Bushs Verhalten gegenüber Putin
zeugte nicht davon,
dass er dieses wichtige Dokumente einer wichtigen Behörde
seiner Regierung zur
Kenntnis genommen hätte.
2002
gingen noch über 40 Prozent der Russen davon aus, dass der FSB
und nicht die
Tschetschenen die Häuser gesprengt hatten. Heute wagt es
niemand mehr, die
Frage auch nur anzurühren. Die Regierung hat ihr Ziel
erreicht. Viele Russen
sehen einen gemeinsamen Feind nicht nur in den Tschetschenen, sondern
auch in
anderen Kaukasiern. Sie werden aus den Städten vertrieben, von
den Märkten
verjagt (in Moskau), und fallen Pogromen zum Opfer (in Kondopoga und
Stawropol). Und der anfangs so verbreitete Argwohn gegen die eigenen
Machthaber
gerät in Vergessenheit. Von Gedächtnisschwund
befallen, wissen die Menschen
nicht einmal, wie krank sie sind. Sie leben, lachen, bewegen und
vermehren
sich. Nur ist das Gras, über das sie schreiten –
auch wenn es grünt – ein
Aschenfeld. Eine Brandruine. Friedhof des Gewissens. Wüste.
*
Die
Provokation von Dagestan und die Kriegshandlungen im Kaukasus zeigten
in
Zentralrussland jedoch nicht die gewünschte, starke Wirkung
und gaben Putin
keine Gelegenheit zu brillieren. Um seine Position zu stärken,
bedurfte es
einer noch härteren Aktion. Eines Schocks für die
ganze Nation.
Und
es kommt zu einem Wendepunkt in der Geschichte Russlands. Etwas
Schreckliches
geschieht. So schrecklich, dass Präsidenten und
Premierminister, Journalisten
und Politiker es bis heute nicht zur Kenntnis nehmen. Sie
verdrängen es, stoßen
es in den Abgrund des Vergessens, belügen sich selbst. Sollte
es denn möglich
sein, die Ermordung unschuldiger Bürger ganz bewusst zu
planen? Normaler
Menschen, die ruhig in ihren eigenen Betten schlafen? Der eigenen
Landsleute? Unmöglich.
Niemand wird das glauben. Das ist zu schrecklich, um wahr zu sein.
Nein, nein,
zeigt uns keine Beweise! Wozu? Wie lebt man mit so einer Wahrheit? Was
fängt
man in der Politik damit an?
So
eine Wahrheit darf nicht wahr sein, selbst wenn sie es ist.
Im
September 1999 beginnen in Russland, Wohnhäuser in die Luft zu
fliegen. In
Bujnaksk (Dagestan), dann – zweimal – in Moskau,
anschließend in Wolgodonsk
(Bezirk Rostow am Don). Auch ein Haus in Rjazan sollte noch
einstürzen, doch
diese Provokation wurde von den Bewohnern vereitelt.
Ich
hatte mehr als einmal Anlass, darüber zu schreiben und zu
sprechen. Und jedes
Mal erstarrte ich wie Beton. Nicht nur vor Entsetzen darüber,
was dort passiert
ist, sondern auch, weil es bis heute andauert: die Leute, die sich den
größten
Horror der letzten Jahrzehnte ausgedacht haben, stehen nach wie vor an
der
Spitze einer Weltmacht. Und niemand der Großen wagt es auch
nur, ihnen ein paar
sachliche Fragen zu diesem Thema zu stellen.
Die
Kleineren aber, die allzu hartnäckig an der
Aufklärung dieses Verbrechens
arbeiteten, wie Sergej Juschenkow, Jurij Schtschekotschichin, Anna
Politkowskaja
und Alexander Litwinenko – sind ermordet worden, oder
– wie Otto Lacis – schwer
geprügelt (was seinen Tod beschleunigt hat), oder aber sie
wurden – wie der
Anwalt Michail Trepaschkin, der in dieser Sache ermittelte –
in ein Lager
gebracht, wo er dahinsiechte. So sieht in der Mitte 2007 die
(unvollständige)
Bilanz der Ermittlungen über die Wahrheit der Terrorakte im
September 1999 in
Russland aus. Dabei war der Sachverhalt doch längst bekannt.
Ich habe schon
2002 darüber geschrieben.
Jenen
September wird Russland lange nicht vergessen. Einen Tag nach dem
anderen
flogen Häuser in die Luft. Dreihundert Särge
füllten sich schnell. Viele Menschen
blieben für immer irgendwo unter den Trümmern. Schwer
Verkrüppelte kämpften in
den Krankenhäusern um ihr Leben.
Wer
hat diese Häuser in die Luft gesprengt? Wer hat die Menschen
dort ermordet? Die
einen sagen, es waren die Tschetschenen. Die anderen – die
russischen
Geheimdienste.
Die
tschetschenische Version der Anschläge sollte durch
Gerichtsprozesse erhärtet
werden. Doch der Berg gebar eine Maus: im Juni 2001 wurde das
Gerichtsverfahren
nach Stawropol in eine Strafkolonie hinter Stacheldraht verlegt, wo
nicht nur
den Journalisten, sondern auch den Angehörigen der Angeklagten
der Zutritt
verwehrt blieb. Die Angeklagten widerriefen ihre Aussagen aus dem
Ermittlungsverfahren und behaupteten, diese seien unter Folter erpresst
worden.
Die Anwälte legten reihenweise Beweise vor. Das sollten weder
die Angehörigen
noch die Medien zu hören bekommen. Die Kamerateams durften
einige Minuten vom
Anfang und Ende des Prozesses filmen. Den fünf Angeklagten
konnte die direkte
Beteiligung an der Sprengung der Häuser nicht nachgewiesen
werden.
Tschetschenen waren nicht darunter.
Auf
der zweiten Version beharrt eine recht große Gruppe von
Journalisten und
Politikern, ein paar französische Filmemacher, die einen Film
zu dem Thema
gedreht haben, und ein Abtrünniger des FSB, der Emigrant
Alexander Litwinenko,
der seine eigenen Ermittlungen durchführte; außerdem
ein weiterer Deserteur des
FSB, der spätere Anwalt Michail Trepaschkin, der mit ihnen
kooperierende
Historiker und Emigrant Jurij Felschtinskij sowie – ebenfalls
im Exil – Boris
Beresowskij.
Am
4. September erschüttert eine Detonation ein
fünfstöckiges Haus in der Stadt
Bujnaksk. Resultat: 62 Tote. Am Morgen des 9. September fliegt ein Haus
an der
Gurianowa-Straße in Moskau in die Luft: 94 Tote, 164
Schwerverletzte. Am 13.
September, ebenfalls in Moskau, auch am Morgen, wiederholt sich der
Albtraum an
der Kaschyrskoje-Chaussee in Moskau. 119 Menschen kommen ums Leben.
Drei Tage
später fanden im Süden Russlands, in Wolgodonsk, 17
Menschen unter den
einstürzenden Mauern ihres Hauses den Tod.
„Hexogen“
wird zum häufigsten Wort im Äther und in der Presse.
Spuren dieses Sprengstoffs
wurden in den Überresten der Säcke gefunden, die in
den Kellern der
ausgewählten Wohngebäude abgelegt worden waren.
Russland
steht unter Schock. Zivile und Uniformierte durchsuchen
Dachböden und Keller.
An den Häusern tun Wachleute Dienst. Autos werden
kontrolliert, besonders
solche, die in die Stadt hineinfahren. Obwohl sich niemand zu den
Terrorakten
bekannt hat und niemand festgenommen worden ist, zeigen die
Geheimdienste auf
die Schuldigen: die Tschetschenen.
Am
22. September geschieht in Rjazan etwas, das bis zum heutigen Tage das
bestgehütete Geheimnis des Kreml geblieben ist. Um
einundzwanzig Uhr zehn
bemerkt ein Busfahrer, der zu seinem Haus in der
Nowosielowa-Straße zurück
kehrt, zwei Männer und eine Frau, die Säcke aus einem
Auto in den Keller
tragen. Er bemerkt auch, dass die Rjazaner Nummernschilder aus Papier
sind und
nur aufgeklebt wurden. Die alarmierte Miliz trifft die geheimnisvollen
Personen
nicht mehr an, findet aber im Keller drei Säcke mit Hexogen
und einem darin
angebrachten Zeitzünder, der auf fünf Uhr
dreißig eingestellt ist.
Das
Gebäude ähnelt den bereits zuvor gesprengten. Es ist
von normalen Menschen
bewohnt, liegt weit entfernt von den Nobelvierteln, ist
mehrstöckig (zwölf
Etagen) und besitzt einen Treppenaufgang. Im Parterre befindet sich
– so wie in
den anderen Häusern – ein Ladengeschäft
(hier: ein 24 Stunden geöffneter
Lebensmittelladen), so dass die Auffüllung des Lagers (das
Hereintragen von
Säcken) keinen Verdacht erwecken sollte. Die Säcke
wurden (wie in den anderen
Fällen) an den Fundamenten des Gebäudes abgelegt,
damit dieses bei der
Detonation sofort in sich zusammenfällt.
Dass
sich in den Säcken Hexogen befindet, und der Zünder
– wenn auch unfachmännisch
hergestellt – echt ist, bestätigt sowohl der
Pionier, der den Zünder
entschärft, als auch der Leiter der Zweigstelle Rjazan des
FSB, Alexander
Sergejew. 1200 Milizianten, Soldaten und Funktionäre des FSB
von Rjazan,
ausgestattet mit Phantombildern der Männer und der Frau, gehen
auf die Jagd.
Am
23. September erklärt Wladimir Putin auf einem diplomatischen
Empfang: „Ich
glaube nicht, dass das ein Fehlschlag war. Wenn diese Säcke
mit Sprengstoff
entdeckt wurden, so spricht das immerhin dafür, dass die
Bevölkerung korrekt
auf die Ereignisse im Land reagiert.“
Am
24. September bemerkt eine Telefonistin der Ortsvermittlung in Rjazan,
dass
jemand die Nummer der Hauptverwaltung des FSB in Moskau anruft. Aus dem
Gebäude
an der Lubjanka kommt die Frage, ob alle drei zusammen seien. Die
Antwort aus
Rjazan lautet, nein, die Frau fahre getrennt. Es dauerte mehrere
Minuten zu
ermitteln, woher der Anruf kam. Eine Antiterror-Einheit der Miliz von
Rjazan
eilt zum vermutlichen Aufenthaltsort der Attentäter. Gleich
sollten sie
festgenommen werden. Sie sollten, aber...
Eine
halbe Stunde vorher, auf einer Beratung über die
Bekämpfung der organisierten
Kriminalität, erklärt Innenminister Wladimir
Ruschajlo, dass die Tätigkeit der
Miliz Fortschritte mache, denn „in Rjazan ist ein
terroristischer Anschlag
verhindert worden“. Keine zwanzig Minuten später
jedoch stellt FSB-Chef Nikolaj
Patruschew in dem selben Gebäude und auf der selben Konferenz
fest, dass von
Terror keine Rede sein kann: „Es geht hier nicht um einen
Anschlag, hier wurde
keine Explosion verhindert, denn in Rjazan wurde eine Übung
abgehalten und dort
war Zucker.“ Diese Erklärung kommt zu dem Zeitpunkt,
als die Rjazaner
Milizianten sich der Wohnung mit den vermeintlichen Terroristen
nähern. Stop!
Es war kein Terroranschlag, niemand braucht verhaftet zu werden.
Diese
Tatsachen würden besagen, dass in einem Land, in dem gerade
vier Wohnhäuser,
eins nach dem anderen, in die Luft gesprengt worden sind,
Übungen abgehalten werden,
die die Wiederholung einer solchen Situation simulieren sollen, und
zwar ohne
dass die örtliche Miliz und die Bevölkerung
informiert wurden (ein Verstoß
gegen das Gesetz über den Zivilschutz), ja sogar ohne, dass
der Innenminister
Wladimir Ruschajlo darüber informiert worden wäre.
(Einige Monate später wird
ein Vertreter des FSB im Fernsehen den Befehl für diese
Übungen vorzeigen,
unterzeichnet von eben diesem Minister und von FSB-Chef Patruschew).
Von
Übungen spricht nicht einmal Alexander Zdanowitsch, der
Pressesprecher des FSB,
der die ganze Zeit in Nachrichtensendungen und anderen Programmen
aufgetreten
ist.
Bis
heute hat niemand die folgenden Fragen beantwortet: Warum brauchte es
ganze
zwei Tage bis zu der Erklärung, dass es sich um
Übungen gehandelt habe? Warum
wurden die Ergebnisse des Sachverständigengutachtens
über die in den Säcken
befindliche Ladung, die eindeutig auf Hexogen hinweisen, von Rjazan
nach Moskau
gebracht und sind dort seither nicht mehr aufzufinden? Warum mussten
die Säcke
– wenn Zucker in ihnen war – überhaupt von
Experten untersucht werden? Warum
sind sie – wenn doch Zucker in ihnen war – auf dem
militärischen Übungsplatz in
Rjazan gesprengt worden? Warum behauptet der Pressesprecher des FSB,
die Säcke
hätten keinen richtigen Zünder, sondern
gewöhnliche Batterien aus dem Laden
enthalten, wenn sowohl Anwohner, als auch der Pionier der Miliz, als
auch der
Leiter des FSB in Rjazan einen authentischen Zünder gesehen
haben? Warum wurden
keine Dokumente zu den geplanten Übungen vorgelegt, und warum
gelten die
Ermittlungen in dieser Sache als strenges Staatsgeheimnis? Warum
schließlich
hat Patruschew – FSB-Chef und enger Freund Putins –
den Premierminister in
einer derart angespannten Situation im Land nicht über die
Absicht informiert,
Übungen durchzuführen?
Die
Rjazaner Zweigstelle des FSB veröffentlicht die
Erklärung: „Die Information
über die überregionalen Übungen war
für uns eine Überraschung, und sie kam in
dem Moment, als unsere Kräfte den Aufenthaltsort der Personen,
die für die
Deponierung der Sprengladungen verantwortlich waren, ausfindig gemacht
hatten.“
Die
Klage der Bewohner des Hauses in der Nowosielowa-Straße gegen
den FSB wegen
widerrechtlicher Durchführung von Übungen mit ihrer
Beteiligung wurde von der
Staatsanwaltschaft nicht angenommen.
Nach
der misslungenen Operation in Rjazan wurden in Russland keine weiteren
Häuser
mehr gesprengt.
Im
März 2000 führt der unabhängige
Fernsehsender NTV eine eigene Untersuchung in
der Sache Rjazan durch.
Im
August 2001 veröffentlicht die oppositionelle
Wochenzeitschrift „Novaja Gazeta“
eine 22-seitige Sonderbeilage über den Terror in Russland.
Autoren sind
FSB-Oberstleutnant Alexander Litwinenko, der sich in England
aufhält, und der
in den USA wohnende Historiker Jurij Felschtinskij (der noch als
ausländischer
Staatsangehöriger zum Mitglied der Russischen Akademie der
Wissenschaften
ernannt wurde). Der Bericht handelt von allen Terroranschlägen
(einschließlich
derer in Tschetschenien), an denen die Beteiligung des FSB dokumentiert
ist.
Einer eingehenden Analyse wird die Sache in Rjazan unterzogen.
Im
März 2002 findet in London die Premiere des
französischen Dokumentarfilms Pokuschenije
na Rossiju (Anschlag auf Russland) des Regisseurs
Jean-Charles Denieux
statt, eine journalistische Untersuchung des Terroranschlags in Rjazan.
In
der Folge davon hört der Fernsehsender NTV – in
seiner regierungsunabhängigen
Form – auf zu existieren. Ursachen dafür gab es
viele, aber die Liquidierung
wurde eingeleitet, nachdem der Sender das Programm über die
Ereignisse in
Rjazan gebracht hatte.
Die
„Novaja Gazeta“ bekommt Schwierigkeiten. Maskierte
Personen in Tarnanzügen
stürmen die Redaktion und zerstören die fertig
gesetzte Ausgabe der Zeitung im
Computer. Dem Chefredakteur wird mit dem Entzug des Reisepasses
gedroht, die
Redaktion wird verwanzt...
Drei
französische Filmemacher werden in Rjazan auf eine
Polizeistation gebracht. Man
warnt sie, dass ihnen „etwas Schlimmes zustoßen
könnte“, wenn sie nicht sofort
abreisen. Der sie begleitende Journalist Pawel Woloschyn von der
„Novaja
Gazeta“ wird von der Moskauer Miliz verhört und
über die ihn erwartenden
ernsthaften Schwierigkeiten belehrt, sollte er sich weiter mit der
Sache
befassen.
Alexander
Bodanow, einem Reporter aus Rjazan, der dem Filmteam geholfen hat,
werden
einige Gramm Heroin untergeschoben. Man droht ihm mit einem
Strafverfahren,
wenn er den Kontakt mit den Franzosen nicht einstellt.
Wiktor
Lozinskij aus Rjazan, der den Journalisten von der „Novaja
Gazeta“ geholfen
hat, bekommt ein „so unwiderstehliches Angebot“,
dass er in die USA auswandert.
Es
sieht so aus, als wären einige Probleme schon gelöst.
Zum
Beispiel das Problem mit der Frau aus der Gurianowa-Straße in
Moskau.
Herzkrank, verlässt sie wegen Atemnot das Haus. Auf der
Straße sieht sie um
halb fünf Uhr morgens einen Nachbarn aus dem Haus kommen, das
eine halbe Stunde
später in die Luft fliegen sollte. Der Nachbar war
nüchtern. Er sagte, er gehe
Wodka kaufen. Einige Tage später trifft die Frau diesen Mann
in anderer
Kleidung, als in jener Nacht. „Wie ist das
möglich?“ fragt sie. „Wann hast du
es geschafft, deine Sachen rauszutragen? Der Mantel, den du an hast,
sollte
eigentlich unter den Trümmern des Hauses liegen.“
Drei Tage später wurde sie
gefunden. Mit einer Axt erschlagen.
Gelöst
ist auch das Problem mit dem Soldaten Piniajew, der im November 1999
auf die
Idee kam, sich einen Löffel Zucker aus einem Sack in dem
Magazin abzuzweigen,
das er zu bewachen hatte. Es war ein Lager in Rjazan. Was sich Piniajew
in den
Tee streute, war... Hexogen. Seine Vorgesetzten, denen er davon Meldung
erstattete und die das nach oben weiterleiteten, wurden in den
Tschetschenienkrieg geschickt. Den Journalisten erklärte man,
es gebe keinen
Piniajew in dieser Einheit. Gegen ihn selbst leitete der FSB ein
Sonderverfahren wegen „Verrats von
Staatsgeheimnissen“ ein. Aber was für ein
Geheimnis soll das gewesen sein, wenn ihm offiziell der Diebstahl einer
Tüte
Zucker vorgeworfen wurde? Und obwohl es ihn offiziell gar
„nicht gab“, wurde er
zu einem Widerruf gezwungen. Danach verlor sich jede Spur von ihm.
Viele
Probleme bleiben aber noch zu lösen.
Zum
Beispiel das mit der Hausverwalterin in der Gurianowa-Straße,
die die Explosion
überlebt hat und behauptet, am Abend vor der Detonation seien
Funktionäre des FSB
bei ihr gewesen und hätten die Liste der Bewohner
überprüft. Wie sich
herausstellte, um die eigenen Leute zu warnen – zum Beispiel
den Mann, der dann
in der Nacht Wodka kaufen ging.
Oder
das Problem mit der Publikation in der englischen Zeitung
„The Independent“ aus
dem Januar 2000, in der von Videoaufnahmen der Aussagen eines in
tschetschenischem Gewahrsam befindlichen FSB-Funktionärs
namens Atschimjetz
Gotschijajew die Rede ist, der zu wissen behauptet, wer den Befehl zur
Sprengung der Häuser in Moskau gegeben habe.
Vor
allem aber das Problem mit dem Präsidenten der Staatsduma,
Gennadij Seleznjow,
dem die Pläne zur Sprengung des Hauses in Wolgodonsk schon
drei Tage vorher
bekannt waren und der nichts unternahm, um sie zu verhindern. Laut
Stenogramm der
Sitzung vom 17. September 1999 im Biulleten Nr. 281 war es so: Am 13.
September
1999, also an dem Tag, an dem das zweite Haus in Moskau (an der
Kaschyrskoje-Chaussee) explodierte, reichte jemand Seleznjow
während der
Sitzung der Duma eine Notiz, die er unverzüglich verlas:
„Und hier noch eine
weitere Information: Nach Mitteilung aus Rostow am Don ist heute nacht
in
Wolgodonsk ein Wohnhaus gesprengt worden.“
Die
Abgeordneten, noch ganz unter dem Eindruck der Tragödie in
Moskau, befassten
sich nicht weiter mit dieser Sache. Völlig verblüfft
waren sie erst drei Tage
später, als nachts das Haus in Wolgodonsk in die Luft flog.
War es so, dass
vorher vorbereitete Informationen vertauscht worden waren und jemand
statt der
richtigen über die Kaschyrskoje-Chaussee versehentlich die
über Wolgodonsk
hereingereicht hatte? Oder war das mit Absicht geschehen? Der
Duma-Präsident
sollte die Fragen von Sergej Juschenkow beantworten, wer ihm diese
Notiz
gereicht hat und ob Seleznjow den FSB oder die Staatsanwaltschaft davon
benachrichtigt hat. Seleznjow aber schweigt.
Die
Bewohner der Häuser in der Gurianowa-Straße und der
Kaschyrskoje-Chaussee haben
keine Personen „kaukasischen Aussehens“ in der
Umgebung gesehen. „Damals waren
sie noch bereit zu sprechen,“ sagte Juschenkow,
Führer der Oppositionspartei
Liberales Russland, der eigene Ermittlungen in der Sache der im Herbst
1999
gesprengten Häuser in Russland durchführte. Die
Partei Liberales Russland war
es, die in London die Premiere des Films Pokuschenije na
Rossiju organisierte,
und Sergej Juschenkow und ein zweiter Vorsitzender, der bekannte
Menschenrechtler Julij Rybakow, brachten als erste einige
Videocassetten des
Films nach Russland (bei Rybakow wurden auf dem Flughafen in Petersburg
sämtliche Cassetten beschlagnahmt).
Das
Grauen nahm zu. Wäre das Haus in Rjazan in die Luft geflogen,
so wäre eine
allgemeine Hysterie ausgebrochen. Seit der ersten Explosion waren
zwanzig Tage
vergangen, seit der zweiten – fünfzehn, seit der
dritten – elf, und seit der
vierten – acht Tage. Es hatte sich so ergeben, dass
für den 24. September
1999 in Moskau eine große
„Antiterror“-Sitzung aller Minister der
„Machtressorts“ angesetzt war. Und am
selben Tag verlasen russische Politiker die schon vorbereiteten Reden,
in denen
ein Krieg gegen Tschetschenien gefordert wurde. Am selben Tag, bei
einem Besuch
im fernen Kasachstan, hielt Wladimir Putin die berühmt
gewordene Rede, die den
Krieg einleitete: „Die Antwort auf die barbarischen Taten
sind die Bomber, die
jetzt in diesem Augenblick nach Grozny fliegen [...]. Wir werden die
Terroristen überall verfolgen und sie noch auf dem Klo
zerquetschen!“.
Dieses
geflügelte Wort lässt seine Umfragewerte als
Präsidentenkandidat rapide
ansteigen. Die Menschen glauben, dass nur die Söldner von
Bassajew und Chattab
zu solchen schrecklichen Taten fähig seien. Und sie wollen
eine harte Hand, die
mit ihnen abrechnet.
Die
Regierung von Tschetschenien bestreitet eine Beteiligung an den
Anschlägen auf
die Häuser. Sogar der Sprecher des FSB erklärt, das
es keine Tschetschenen
unter den Terroristen gebe, gleichwohl „verstecken sie sich
mit Sicherheit in
Tschetschenien“. Das ist alles, was es mit der ganzen
„tschetschenischen Spur“
in der Tragödie von Bujnaksk, Moskau, Wolgodonsk und
– beinahe auch noch –
Rjazan auf sich hat. Was hätten die Tschetschenen, auf die
ohnehin seit Monaten
ein Bombenhagel niederging, von diesen Tragödien gehabt? Einen
noch größeren
Hass gegen sich zu entfachen? Und wie hätte man in einem von
Krieg überzogenen,
mit Soldaten und Kontrollposten gespickten Gebiet derartige Aktionen
vorbereiten sollen?
Aslan
Maschadow verlangt Gespräche. Niemand hört ihm zu.
Aufgabe der Geheimdienste
ist es, Russland in einem kurzen, siegreichen Krieg hineinzuziehen. Die
Präsidentenwahlen im Frühling sollen vor dem
Hintergrund einer großen,
gewonnenen Schlacht stattfinden, die die Machtressorts im besten Licht
zeigt.
Nur die Armee kann dem FSB und dem mit ihm verbundenen
Präsidentschaftskandidaten zur Macht verhelfen.
Seit
der Premiere des Films in London hat sich keiner der großen
russischen
Fernsehsender mehr dazu entschließen können, ihn zu
zeigen. Die Versuche der
Regionalsender sind alle gescheitert: die Vorführung in
Nowosibirsk wurde auf
Weisung des Bevollmächtigten von Präsident Putin
für den Nördlichen Bezirk
abgesagt. Außerhalb des Fernsehens sieht es nicht viel besser
aus: In
Sewerodwinsk verbietet die örtliche Kulturverwaltung die
Vorführung. In der
Stadt, die am meisten interessiert ist, in Rjazan, sahen sechzig
Personen den
Film in einem kleinen Raum unter geradezu konspirativen Bedingungen.
Der
stellvertretende Chefredakteur der „Nezavisimaja
Gazeta“, der einen Bericht
über die Londoner Premiere schrieb, wurde von der
Staatsanwaltschaft vorgeladen
und mit einem Strafverfahren bedroht.
Es
kann gesundheitsgefährdend sein, eine Vorführung des
Filmes zu organisieren:
Alexander Kostarjew aus Perm wurde in seinem eigenen Treppenhaus mit
Eisenstangen verprügelt. Igor Joffe in Petersburg wurde mit
einem Stahlrohr
traktiert. Der Raum, in dem die Vorführung stattfand, wurde
demoliert. Die
Scheiben wurden eingeschlagen, das Mobiliar zerstört...
Zu
der Vorführung von Pokuschenije na Rossiju
im Sacharow-Zentrum in Moskau
kamen hauptsächlich die Journalisten der wenigen Zeitungen,
die ihre
Unabhängigkeit noch zu wahren suchen, und einige
Auslandskorrespondenten.
Der
Antrag von Abgeordneten der demokratischen Partei Jabloko im
März 2000, die
Duma solle eine Untersuchung der Sache in Rjazan einleiten, wurde mit
großer
Stimmenmehrheit abgelehnt. Im Laufe der Jahre änderte sich die
Meinung
geringfügig, denn ein gleicher Antrag (diesmal von der Partei
Liberales
Russland) im Frühjahr 2002 fand schon viel mehr
Anhänger. Aber nicht genug, um
den Antrag durchzubringen.
Juschenkow
bleibt hartnäckig. Auf seine Initiative entsteht ein
öffentlicher
Ermittlungsausschuss zu den Explosionen vom September 1999. Dem
Ausschuss
gehören bekannte Anwälte, Politiker und Journalisten
an. Geleitet wird er von
Sergej Kowaljow.
„Man
traut sich gar nicht zu denken, dass Vertreter der Regierung etwas mit
der
Sprengung der Häuser zu tun haben könnten,“
sagt er. „Schon der Begriff
Regierung verbietet eine solche Möglichkeit. Umso mehr sollte
ihr an einer
unabhängigen Untersuchung dieses Falls gelegen sein. Deshalb
wundert hier die
Passivität, auch des Parlaments, also der Duma.“
„Wir
wissen nicht, wer die Häuser in die Luft gesprengt
hat,“ fährt Kowaljow fort.
„Wir wissen, wem das genutzt hat. Dem Wahlstab von Wladimir
Putin. Die Frage
‚Cui bono?’ ist aber kein Grundsatz der
Rechtsprechung. Sie ist ein
Ermittlungsgrundsatz. Schließlich wird nicht jeder Angeklagte
vor Gericht auch
schuldig gesprochen. Wir führen eine Ermittlung. Aber ob es je
zu einer Gerichtsverhandlung
kommt? Bislang kann ich nicht behaupten, dass die Regierung irgend
etwas damit
zu tun hat, aber ich kann es auch nicht verneinen. Doch liegt mir der
Gedanke
fern, wir könnten eine überzeugend stichhaltige
Untersuchung durchführen. Es
ist wenig wahrscheinlich, dass wir die Organisatoren ausfindig machen
können.“
„Aber
warum sollte man sie gerade jetzt finden?“ wundert sich
Grigorij Jawlinskij,
Chef der Partei Jabloko. „Wer hat vor Jahren die Journalisten
Dima Cholodow,
Wlada Listiew, Larisa Judina umgebracht? Wer hat Galina Starowojtowa
umgebracht? Die Antwort steht aus. Diese Verbrechen sind ebenso wie die
vom
September 1999, egal wer ihr Urheber war, ein Resultat des Systems, das
Jelzin
eingeführt hat. Vergessen wir auch nicht, dass Jelzin es war,
der am 23.
September 1999 den Geheimbefehl gab, mit dem de facto die
Kriegshandlungen in
Tschetschenien begannen, und der Putin die Vollmacht zu ihrer
Ausführung
erteilte. Russlands Drama beruht auf der Kontinuität des
Böses. Und der Westen
lässt es geschehen.“
Einige
Zeit nach den Explosionen saß ich mit der tschechischen
Journalistin Petra
Procházkova bei einem Glas Wein in ihrer
gemütlichen Moskauer Wohnung. Petra
war gerade aus Tschetschenien zurückgekommen. Als in Moskau
die Häuser
einstürzten, machte sie gerade ein Interview mit Chattab. Sie
sah, was mit ihm
vorging, als er im Fernsehen die Aufnahmen von dem Drama in Moskau sah.
Er
stand unter Schock. Er war entsetzt, blass, dann grau. „Das
ist das Ende,“
sagte er, „das Ende, das Ende... Sie sind verrückt
geworden.“ „Das war nicht
gespielt,“ sagte Petra. „Das war die schiere
Verzweiflung.“
Und
dennoch zeigte das Fernsehen einige Zeit später ihn und
Bassajew, wie sie sich
dreist dazu bekennen, diese Terroranschläge begangen zu haben.
Warum?
*
Moskau
in jenen Septembertagen. Auf den Straßen Milizpatrouillen mit
Hunden. An den
Haustoren Anschläge mit den ganztägigen Wachdiensten
der Bewohner. In der Metro
macht die Miliz Jagd auf Leute, die nicht slawisch genug aussehen. Die
Passanten werfen einander erschrockene Blicke zu. Angst. Panik.
Hysterie. Das
Wort „Tschetschene“ sirrt durch die Luft wie ein
Geschoss.
„Hören
Sie, das waren keine Tschetschenen, das waren die von uns. Irgend
jemand dort
oben hat das gebraucht,“ sagt die alte Frau, die am
Metro-Eingang
selbstgemachte Konfitüren verkauft.
Und
Mawra Aleksandrowna, die vor meinem Haus leicht schwankend die
Straße fegt,
zuckt mit den Schultern:
„Was
für Tschetschenen? Wie hätten die das wohl machen
sollen? Säckeweise Hexogen
aus Tschetschenien hierher transportieren, wie?“
„Red
mir nicht ein, dass
das unsere Leute
waren,“ empört sich Rosa. „Ausgeschlossen.
Die sind zu allen möglichen
Schandtaten fähig, aber nicht zu so etwas... Klar waren das
Tschetschenen.“
„Aber
warum?“ frage ich. „Was haben die davon?“
„Was
weiß ich? Das sind Wilde. Moslems. Aus Rache.“
„Wofür?“
„Vielleicht
für den ersten Krieg.“
Ich
streite nicht mit Rosa. Auch mit anderen nicht. Ich beobachte, wie
großartig
das gemeinsame Feindbild die Gesellschaft verbindet. Wie sie sie
zusammenschweißt.
Rosa – dieselbe Rosa, die soviel gelitten hat, viele Jahre in
der UdSSR
verfolgt sowohl als Jüdin, als auch als
„Feindin“, weil „Amerikanerin“
(sie
hatte das Unglück, in den USA geboren zu sein), Rosa, die so
gut wie wenige
andere wusste, wozu der KGB fähig war, Rosa, aus einer
Familie, deren Großvater
und Urgroßvater schon Intellektuelle gewesen waren, sieht und
hört nur das, was
sie ruhig schlafen lässt. Ganz sicher glaubt sie nicht, dass
Russen dies den
Russen angetan haben könnten.
Und
doch haben damals viele so gedacht wie ich, das Konfitüre
verkaufende
Mütterchen vor dem Metro-Eingang und Mawra Aleksandrowna, und
sie haben auch so
geschrieben. Die Zeitung „Wetschernjaja Moskwa“
stellt fest: „Hauptziel der
Terroristen ist es, in der Gesellschaft eine bedrückende,
lastende Atmosphäre
zu schaffen. Damit ich, feige geworden, meinem Nachbarn aus dem
Kaukasus, der
nach dem Kindschal (Dolch) greift, eins in die Fresse gebe, und dann
geht es
los... Damit die Partei der Idioten sich aus dem Untergrund wagt und
die
Massenverhaftungen beginnen. Frag nicht, welche Partei das ist und wo
dieser
Untergrund ist.“
Im
Laufe der Zeit wurden die Zweifel verdrängt. Nicht nur die
Zweifel, auch die
Menschen.
Sergej
Juschenkow, stellvertretender Vorsitzender des öffentlichen
Ausschusses zur
Untersuchung der Häusersprengungen 1999 in Moskau, wusste
viel. Seine
Aktenstapel mit Beweismittel wuchsen.
Sergej
Juschenkow.... Sogar seine Gegner hielten ihn für einen
„offenen, naiven
Jungen, der nicht korrumpierbar und unfähig zu Gemeinheiten
war.“
Sergej
Juschenkow... Im April 2003 wurde er vor dem Haus, in dem er wohnte,
erschossen. Vor einem gewöhnlichen, heruntergekommenen
Moskauer Wohnblock.
Neben die Blutlache hatte jemand eine Handvoll Nelken geworfen.
Sergej
Juschenkow fand immer Zeit für ein Gespräch. Es war
nicht sein Stil,
Journalisten nonchalant abzuwimmeln. Er legte nicht einfach auf, selbst
wenn
man ihn am Sonnabend Nachmittag auf seiner Datscha belästigte.
Als ich mich bei
einem dieser Gespräche über die
Gleichgültigkeit der politischen Eliten der
Welt angesichts der in Tschetschenien begangenen Verbrechen
empörte, sagte er –
wie immer ruhig: „Hat sich 1938 die Welt gegenüber
Hitler anders verhalten? Hat
sich das aufgeklärte Europa nicht mit Stalin an einen Tisch
gesetzt? So oder so
müssen wir tun, was wir für richtig halten.“
2002
nahm ich an einem Kongress des Liberalen Russland teil. Die Stimmung
war nicht
gerade ausgelassen: man diskutierte die Verprügelung eigener
Funktionäre nach
der Vorführung des Films Pokuschenije na Rossiju.
Wenig
später bereitete ich für die Zeitschrift Polityka
einen Artikel über die
Explosionen im September vor. Juschenkow legte damals Fakten auf den
Tisch, die
niemand kannte. Bei einem dieser Gespräche fragte ich ihn nach
der Zukunft der
Opposition in Russland: „Da sehe ich schwarz,“
sagte er. „Die Wirtschaft ist zu
eingeschüchtert, um die echte Opposition offen zu
unterstützen. Die Angst ist
zu groß.“ Wir verließen gerade das Haus
des Journalisten am
Nikitskij-Boulevard. „Und Sie, haben Sie keine
Angst?“ fragte ich Juschenkow.
„Ich? Ich bin kugelsicher,“ lachte er.
Alexander
Litwinenko... Sascha. Im Juni 2003 schlenderten wir einen ganzen Tag
lang durch
den Londoner Hyde Park. (Es war nach dem Ersten Festival der
Tschetschenien-Filme, bei dem auch mein Film gezeigt worden war).
Vieles von
dem, was Alexander damals sagte, findet sich auch in seinem Buch Die
Verbrecher aus der Lubjanka wieder.
Im
Dezember 2006 hielt ich eine kleine Cassette in den Fingern, aber es
drängte
mich nicht, Alexanders Stimme zu hören. Gerade war der Familie
Litwienkos sein
Leichnam nach der Obduktion übergeben worden, die feststellen
sollte, womit
genau er vergiftet worden war.
Ehrlich
gesagt, war mir das egal.
Man
hatte ihn ermordet, weil er Teil eines mörderischen Systems
war. Ein Teil, der
sich losgelöst hatte, um gegen dieses System zu arbeiten. Ein
Teil, den man
vernichten musste. Oder war er aus anderen Gründen ermordet
worden? Doch jeder
von ihnen hing – auf die eine oder andere Art – mit
dem System zusammen: dem
Kreml. Sicher werden wir nicht erfahren, wer den Mord in Auftrag
gegeben hat.
Ehrlich
gesagt, ist mir das egal.
Damals
im Sommer, als ich auf Sascha wartete, erwartete ich einen eleganten
Gentleman:
schließlich lebte er schon das dritte Jahr in London und, wie
es hieß, unter
der Obhut des Magnaten Beresowskij. Deswegen hatte ich bestimmte
Vorstellungen
von seinem Status. Zu sehen bekam ich einen Typen wie von der Moskauer
Straße:
in der typischen türkischen Lederjacke, in typischen Jeans und
typischen
billigen Adidas... Wir gingen im Hyde Park spazieren, weil wir dort
nicht
fürchten mussten, abgehört zu werden.
Auf
seiner Beerdigung war ich nicht.
Alexander
Litwinenko war ein ehemaliger Oberstleutnant des FSB. Die englischen
Medien
nennen ihn störrisch einen „Spion“.
Litwinenko war kein Spion, er war
Ermittlungsoffizier einer Spezialeinheit des KGB, die sogar in den
Strukturen
der Lubjanka konspirativ arbeitete und gegen das organisierte
Verbrechen
ermittelte.
Am
27. Dezember 1997 bekam er von seinem unmittelbaren Vorgesetzten den
Auftrag,
gemeinsam mit einigen Mitarbeitern Boris Beresowskij zu töten.
Der Magnat (und
Mathematik-Professor) war zu jener Zeit stellvertretender
Sekretär des
nationalen Sicherheitsrats von Russland und Duma-Abgeordneter. Dazu war
er so
etwas wie ein Freund des Hauses von Präsident Jelzin. Bisher
war Litwinenko vor
allem mit der Befreiung von Geiseln befasst, die meist zwecks
Lösegelderpressung
entführt wurden. Jemanden zu ermorden, hatte er nicht die
Absicht.
Den
kriminellen Befehl versuchte er dem damaligen FSB-Direktor Nikolaj
Kowaljow zu
melden. Der aber fand keine Zeit für ihn. Also informierte
Litwinenko Boris
Beresowskij selbst von allem. Als die Vorgesetzten davon erfuhren, kam
es zum
Gegenangriff. Es hagelte Artikel, die ihn des Mordes, Diebstahls und
Raubüberfalls beschuldigten. Er wurde beschattet und
abgehört. Er forderte die
öffentliche Richtigstellung der Lügen Die Chefs
lehnten das ab. Litwinenko
beschloss, sich selbst zu verteidigen.
Am
Abends des 18. November 1998 rieb sich das Volk verwundert die Augen.
Das
Fernsehen zeigte FSB-Funktionäre an einem Konferenztisch
(einer davon maskiert,
nur die Augen konnte man sehen), die von kriminellen Befehlen
berichteten, die
sie nicht ausführen wollten. Auch von dem Befehl zur
Liquidierung Beresowskijs
war die Rede. „Wir wollten,“ sagte Litwinenko
später, „dass die Menschen
verstehen, was da vor sich ging, dass man protestieren musste, dass der
Totalitarismus wieder im Anmarsch war.“
Der
Schock war groß, aber dabei blieb es auch. Die Leute zuckten,
wie üblich, mit
den Schultern. Die FSB-Chefs versprachen, die
„Aufrührer wie junge Hunde zu
erwürgen“.
Litwinenko
wurde am 25. März 1999 verhaftet. Nacht achtmonatiger Haft
wurde er frei
gesprochen und auf der Stelle, noch im Gerichtssaal wegen eines anderen
Paragraphen erneut verhaftet, festgesetzt, und wieder entlassen. Eines
Tages
warnte man ihn, dass ihm erneut die Verhaftung drohe.
Er
floh. Er besaß keinen Reisepass, musste also
zunächst in einen anderen
GUS-Staat ausreisen (dazu genügte der Personalausweis). Dort
versorgten Freunde
ihn mit falschen Papieren. Er fuhr in die Türkei. Seine Frau
und sein Sohn
kamen nach. Sie flogen nach London und vertrauten sich den
Einwanderungsbehörden
an. Von Anfang an wurden sie von Beresowskij unterstützt.
Litwinenko
veröffentlichte ein Buch, dann noch eins, über die
kriminelle Gruppierung in
der Lubjanka, in dem er detailliert die Verbindungen des FSB mit der
Mafia
beschrieb, Namen von höchsten Vertretern der heute Regierenden
erwähnte und
ihre Verbindungen mit kriminellen Organisationen darlegte.
Im
Herbst 2006 wurden, einer nach dem anderen, die bekanntesten
Demaskierer von
Präsident Putin ermordet. Warum Anna Politkowskaja im Oktober,
Alexander
Litwinenko im November? Warum gerade zu einer Zeit, als beide ihre
schwersten
Anschuldigungen längst veröffentlicht hatten? Die
Kommentatoren grübeln, ob die
Verbrechen im Auftrag des Kremlherren, oder gegen ihn, begangen wurden.
Ob sie
die Welt durch die Grausamkeit der vom Kreml verhängten Strafe
in Schrecken
versetzen sollten, oder um dessen Schwäche gegenüber
mächtigen Gegnern
aufzuzeigen, die vor nichts zurückschrecken, wenn sie den
Kreml nur öffentlich
diffamieren konnten?
So
oder so – am schwersten belastet die Politiker heute das
Bewusstsein, dass die
Macht des Kreml mit Verbrechen in Zusammenhang steht und dass sie mit
einer
solchen Macht paktieren müssen.
Damals
im Hyde Park gab mir Litwinenko die Telefonnummer von Michal
Trepaschkin, einem
ehemaligen FSB-Funktionär und heutigen Rechtsanwalt. Auch er
nahm an der
denkwürdigen Fernsehkonferenz teil. Später ermittelte
er in der Sache der
gesprengten Häuser in Moskau. Ich höre noch heute
Sascha mit Nachdruck sagen:
„Ruf unbedingt Mischa an. Das ist am wichtigsten. Er
weiß fast alles.“
Ich
wählte die Nummer nicht sofort. Immer wieder kam etwas
dazwischen, andere
wichtige Dinge, ich erreichte ihn nicht, war selbst krank... Erst
Anfang
Oktober 2003 hörte ich am anderen Ende der Leitung eine
männliche Stimme,
ebenso atemlos und hustend wie meine. „Michal, entschuldigen
Sie, leiden Sie
auch an Asthma?“ – „Ja.“ Wir
lachten. So begann unsere Bekanntschaft. Wir
verabredeten uns ein Dutzend Mal telefonisch und verschoben die Termine
immer
wieder. Endlich machten wir fest: Der Abend des 22. Oktober. Bei mir.
Meine
Wohnung lag an seinem Weg aus Dmitrow, wo er an diesem Tag hinfahren
wollte.
Ein Klient, der immer wieder seine Termine änderte, hatte ihn
gerufen.
Wir
sahen uns damals nicht und... werden uns auch wohl nie wieder sehen.
Warum?
Weil die Maschinerie zur Vernichtung allzu eifriger Sucher nach der
Wahrheit über
die Septembertragödie von 1999 ohne Unterlass arbeitet. Und
ohne Gnade.
Zur
Mittagszeit des 22. Oktober 2003, kurz vor dem Prozess, bei dem
Trepaschkin die
von ihm gesammelten Beweise für die Beteiligung des FSB an den
Terroranschlägen
im September 1999 vorlegen sollte, war Folgendes geschehen.
Aus
einem Brief Michail Trepaschkins an die „Novye
Izvestija“, der einige Tage
später, am 27. Oktober 2003, übergeben wurde:
„Am
22. Oktober 2003 wurde ich Opfer einer brutalen Provokation. Bei
Kilometer 47
der Strecke von Dmitrow, an einem Kontrollposten der Verkehrspolizei,
warteten
mindestens sieben Verkehrspolizisten, mehrere Zivile und ein Fahrzeug
mit
Zeugen auf mich.
Mein
Fahrzeug wurde aus einem breiten Strom von Fahrzeugen heraus gewunken,
die in
Richtung Moskau fuhren. Ich befuhr den äußersten
linken Fahrstreifen, am
weitesten vom Kontrollposten entfernt. Bei der Durchsuchung meines
Fahrzeugs,
als ich mich bückte, um die Rückbank herunterzulassen
(unter der sich nichts
befand), zog ein Milizbeamter, wobei er den Zeugen die Sicht
versperrte, ein
kleines Paket aus seiner Miliztasche und versuchte, es unter die
Rückbank zu
werfen. Es gelang mir, den Sitz herunterzulassen, und das
Päckchen landete oben
drauf. Ich ergriff es, gab es dem Milizianten zurück und
sagte: „Es reicht mit
den Unverschämtheiten. Das gehört nicht mir, nimm es
zurück.“
Der
nahm das Päckchen, öffnete es, holte eine Pistole
heraus, nahm die Munition
heraus und sagte: „Das ist eine IZ-Pistole“. Sie
ließen mich nicht einmal
sehen, was noch in dem Päckchen war. Danach liefen die
Milizbeamten und ihre
Zeugen in die Kontrollstelle. Ich hörte sie streiten, was man
eintragen solle:
eine Pistole PM oder eine Pistole IZ. Also waren zwei Pistolen
vorbereitet
worden, und jetzt entschieden sie, welche sie mir zuschreiben wollten.
Was
konkret bei mir „gefunden“ worden war,
weiß ich nicht, man hat mir nichts
gesagt. Die Milizianten und Zeugen unterschrieben eine
Erklärung, dass man bei
mir eine IZ-Pistole gefunden habe.
Die
Untersuchungsrichterin, die kurz darauf eintraf, Tatjana Iwanowna
Zakrajec,
wurde sehr ärgerlich: „Euch kann man
überhaupt keine Aufträge geben. Die
Pistole hat jeder nach Belieben angetatscht!“ Es war klar,
dass beide Pistolen
schon zuvor auf die Kontrollstelle gebracht und den beiden Milizianten
gegeben
worden war, um sie mir unterzuschieben – je nach
Möglichkeit. Aber während sie
auf mich warteten, hatten sie ihre Fingerabdrücke auf den
Pistolen hinterlassen.
Ich schrieb sofort einen Antrag, dem Milizianten, der mir die Waffe
untergeschoben
hatte, Fingerabdrücke abzunehmen. Dieser Antrag wurde
abgelehnt mit der
Begründung, auf der Pistole hätten sich
überhaupt keine Fingerabdrücke
befunden.“
Fügen
wir hinzu, dass neben Trepaschkin jener Klient in dem Auto
saß, der ihn um
einen Besuch außerhalb Moskaus gebeten hatte. Das Fahrzeug
gehörte auch gar
nicht Trepaschkin. Die Strafanzeige lautete auf die Mitführung
einer
Schusswaffe. Aber weder der Beifahrer noch der Fahrzeughalter wurden je
dazu
befragt oder vorgeladen. Abgesehen davon funktioniert die russische
Rechtsprechung präzis und rasch.
Trepaschkin
war am Mittwoch verhaftet worden. Am Montag, dem 27. Oktober, befand
das
Bezirksgericht von Dmitrow (des Ortes, an dem er festgenommen wurde)
die
Verhaftung für rechtmäßig.
[...]
Was
hatte Michail Trepaschkin bei seinen Ermittlungen festgestellt, das so
bedrohlich für die Machthaber war?
Kurz nach den
Explosionen wurde im Fernsehen das
Phantombild eines Mannes gezeigt, der – so sagte man
– höchstwahrscheinlich der
Urheber und Organisator der Terroranschläge in Moskau gewesen
sei. Sein Name
sollte Atschimetz Gotschijajew sein. Es wurde behauptet, dass er die
Keller in
den Häusern angemietet habe, die später in die Luft
geflogen seien. Atschimetz
Gotschijajew war kein Tschetschene, sondern Karatschajer und stammte
aus dem
(so wie Tschetschenien) im nördlichen Kaukasus gelegenen
Karatschai-Tscherkessien. Alles deutete darauf hin, dass ihm in diesem
Drama
die Rolle des Sündenbocks zugedacht war.
Und das kam so:
“Man zeigte mir auf der Dienststelle das Foto eines Mannes.
Man sagte mir, das
sei Gotschijajew, und ich hätte ihm den Keller vermietet. Ich
erwiderte, dass
ich diesen Mann nie im Leben gesehen habe. Aber man legte mir
hartnäckig ans
Herz, ihn zu erkennen. Ich begriff, stritt mich nicht länger
mit ihnen und
unterschrieb, was ich unterschreiben sollte. Aber das ist
überhaupt nicht der
Mann, dem ich den Keller vermietet habe.“ – Dies
erklärte Mark Blumenfeld,
Geschäftsmann und Besitzer der Räume in dem Haus in
der Guraniowa-Straße, den Journalisten
der „Moskovskie Novosti“ auf Band.
Trepaschkin
stieß bei seinen Ermittlungen zu den Anschlägen in
Moskau in den Akten auf die
Fotografie eines Bekannten – Wladimir Romanowitsch, der seit
langem FSB-Agent
war und einen Ausweis auf den Namen einer nicht mehr lebenden Person
benutzte.
Auf die Frage, ob er diesen Menschen kenne, antwortete Blumenfeld ohne
Zögern,
das sei der Mann, der bei ihm den Keller in der
Gurianowa-Straße angemietet
habe. Trepaschkin unterrichtete seine ehemaligen Chefs vom FSB von
seiner
Entdeckung. An den Folgen hat er bis heute zu tragen. Romanowitsch
starb ein
halbes Jahr später bei einem Verkehrsunfall auf Zypern, wo er
seinen Urlaub
verbrachte.
Michail
Trepaschkin ermittelte im Auftrag von Tatjana Morozova-Weit, der in den
USA
lebenden Tochter einer Frau, die in der Gurianowa-Straße ums
Leben gekommen
war. Die Geschichte dieser Untersuchung verfilmte der russische
Regisseur
Andrej Nekrassow. Auf diese Weise entstand der inzwischen auf der
ganzen Welt
bekannte Film Nedowerije (Das Misstrauen). Dort
tritt David Sattler,
Professor an einem Institut in Hudson, vormals Korrespondent des
„Wall Street
Journal“ in Moskau, mit der Behauptung auf, die
Sprengstoffanschläge habe der
FSB verübt:
„Einige
sind der Ansicht, ich hätte nichts bewiesen und hätte
auch nichts beweisen
können. Ich finde, damit wird unser eigenes,
anständiges, angelsächsisches
Prinzip der Unschuldsvermutung überstrapaziert. Die
Unschuldsvermutung hat den
Zweck, das Individuum vor dem Staat zu schützen. Sie gilt aber
nicht für den
Staat selbst, wenn der im Verdacht steht, Verbrechen gegen sein eigenes
Volk
begangen zu haben.“
Und
was sagt der Staat in Person seines Hauptvertreters dazu?
„Was?!
Wir sollen unsere eigenen Häuser gesprengt haben? Na, wissen
Sie... Unsinn!
Völliger Quatsch! Es gibt in den russischen Geheimdiensten
keine Leute, die
fähig wären, ein solches Verbrechen gegen ihr eigenes
Volk zu verüben. Schon
die Vermutung als solche ist amoralisch und im Grunde nichts anderes
als ein
Element des Informationskrieges gegen Russland“, sagte
Wladimir Putin
Journalisten, die das Interview mit ihm in dem Buch Ot
pervogo lica (Dt. Aus
erster Hand) veröffentlichten.
Betrachten
wir diesen „Unsinn“ also noch einmal genauer und
bewerten wir dieses
erneute, bösartige „Element des
Informationskrieges gegen Russland.“
GRU =
Glavnoe razvedyvatel’noe upravlenie –
Militärischer Nachrichtendienst. Anm.
O.K.