Auszug:
"Das mutige Aufbegehren der
ukrainischen Bevölkerung gegen Willkürherrschaft und Korruption in
Person von Präsident Janukowytsch, diese großartige "Revolution der
Würde", die europäische Werte eindrucksvoller verkörpert als alles
Papier aus Brüssel, konnte von Russland nur deshalb zum angeblich
"faschistischen Putsch" verzerrt werden, weil es die Werkzeuge von
Propaganda und Desinformation seit dem Zweiten Tschetschenienkrieg
perfektioniert hat. Die Zuschauer in Russland und der Ostukraine
glauben wirklich, dass sie von Bandera-Leuten, Faschisten und einer
Junta in Kiew bedroht werden. Sie nehmen es dem Fernsehen ab, dass
ukrainische Truppen kleine Kinder kreuzigen.
Die
Hetze des TV-Moderators Dmitri Kisseljow - des einzigen
Journalisten, der von der EU unter Sanktion und Einreiseverbot gestellt
wurde - ist mindestens so verwerflich wie die physische Gewalt der von
ihm und anderen angestachelten Menschen im Osten der Ukraine. Arkadi
Babtschenko hat geschildert, wie unvorbereitet die Rekruten oft in die
Hölle von Grosny geschickt wurden. Auch Polina Scherebzowa zeigt in
anrührenden Szenen das Elend der meist ganz jungen russischen Soldaten,
etwa jener vier, die sich hinter Müllsäcken verstecken.
Verdammenswerter sind die Schreibtischtäter, die solche Konflikte von
ihrer Zentrale aus inszenieren und steuern. Wenn der seit 1999
erfolgreich für die Mediengleichschaltung tätige Minister und heutige
Generaldirektor der Gazprom-Media Holding Michail Lesin seine Familie
nach Los Angeles gebracht und dort für achtundzwanzig Millionen
US-Dollar Immobilien erworben hat, fragt man sich, im Namen welcher
"russischen Werte" er das vor seinen Landsleuten vertreten will, die er
selbst in ihrer Meinungsfreiheit geknebelt hat.
Solche Schizophrenie spiegelt die Fäulnis im Inneren Russlands, wo die
zunehmend totalitären Verhältnisse den Nährboden für die Aggression
nach außen bilden, ja diese sogar zur Erzeugung eines Gegendrucks
erfordern, ohne den das alles auseinanderfliegen würde. Dabei ist es
völlig belanglos, in welch nationalfaschistisch-dümmliches
Gedankengewölk à la Dugin und Prochanow die Aggression gegen
Nachbarländer sich hüllt oder was immer der Präsident von russischen
"genetischen Fonds" und "sakralen Orten" schwadronieren mag. Die
Tendenz der veröffentlichten Ideologie in letzter Zeit zeugt davon,
dass es sich bei dem Gerede von Faschisten in Kiew um eine klassische
Form der Projektion handelt. Tatsächlich ist Russland heute der Ort, wo
immer deutlicher eine Ideologie von Rasse, Genen und überlegener Kultur
ausgebrütet wird."
(aus: Olaf Kühl, Nachwort zu Polinas Tagebuch, S. 569 - 570).
Polina Scherebzowa. Polinas Tagebuch. Aus dem Russischen und mit einem Nachwort von Olaf Kühl.
Berlin: Rowohlt Berlin 2015. 573 Seiten.
ISBN 978 3 87134 799 3.